Eine tiefe Interessenkluft zwischen einheimischen Medien und Türken

Seit dem Urteil des EuGH vom 19.02.2009 berichten die Europaausgaben türkischer Tageszeitungen täglich über die Auswirkungen der Rechtsprechung. Kurz: Türkische Staatsangehörige dürfen wegen Stand-Still-Klausel im Assoziierungsabkommen EWG-Türkei ohne Visum nach Deutschland einreisen.

Seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 19.02.2009 („Soysal“ Rs. C-228/06) berichten die Europaausgaben türkischer Tageszeitungen täglich über die Auswirkungen der Rechtsprechung. Kurz: Türkische Staatsangehörige dürfen wegen Stand-Still-Klausel im Assoziierungsabkommen EWG-Türkei unter Berücksichtigung der Rechtslage am 1.1.1973 ohne Visum nach Deutschland einreisen.

Foto: flickr.com/photos/manimmac (ManImMac)

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Über diese für Türken äußerst wichtige Entscheidung des EuGH wurde mit allen Facetten berichtet. Experten, Betroffene wie offizielle Stellungnahmen aus Regierungskreisen wurden gehört und zitiert. Die gesamte deutsche Presselandschaft ließ die Entscheidung – trotz weitreichender Folgen – jedoch unbeachtet – von juristischen Fachzeitschriften mal abgesehen.

Knapp zweieinhalb Wochen nach der Verkündung scheint die Entscheidung doch noch populär zu werden, wenn auch aus einem ganz anderen Grund. Einer Meldung der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Rundschau zufolge hat die Bundespolizei die Internet-Seiten der bei den Beamten der Bundespolizei als „die Ausländergurus“ bekannten Volker Westphal und Edgar Stoppa gesperrt. Für aktuelle Fragen, etwa bei der Einreise an Flughäfen, habe das Intranet bisher direkten Zugang zur Homepage der beiden Lübecker Polizeirechtler geboten. Laut Frankfurter Rundschau erscheine dort nun der Hinweis: „Zugriff auf die genannte Webseite auf Anweisung BPOLP Ref 52 gesperrt“.

Hintergrund
Die Autoren der Seite, die Polizeihauptkommissare Volker Westphal und Edgar Stoppa, sind angesehene Experten, haben ein Standardwerk zum Ausländerrecht geschrieben und unterrichten sogar an der Bundespolizeiakademie in Lübeck.

Laut Süddeutsche und Frankfurter Rundschau seien die Experten nach dem eingangs erwähnten EuGH-Urteil allerdings zu dem Schluss gekommen, dass die meisten Türken demnach visumfrei nach Deutschland einreisen dürften. Ihre Interpretation sorge nun bis hinauf zum Bundesinnenministerium für Aufregung. Der EuGH habe lediglich über einen Einzelfall entschieden, soll ein Ministeriumssprecher gesagt haben. Das ändere nichts an der grundsätzlichen Visumpflicht für türkische Staatsangehörige.

Für Edgar Stoppa ist die Rechtslage laut Frankfurter Rundschau allerdings klar: „Laut dem Urteil darf die Masse der Türken visumfrei nach Deutschland kommen“. Das bedeute, dass türkische Touristen, Besuchsreisende, Sprachlernende und Personen, die sich medizinisch behandeln lassen wollen, bis zu drei Monate lang ohne Visum in Deutschland aufhalten dürften. Ebenso türkische Dienstleister wie Lkw-Fahrer oder Geschäftsleute. Das Urteil betreffe generell das Verhältnis von Dienstleistungsfreiheit und Visumpflicht und stelle klar, dass türkische Staatsangehörige ab sofort frei nach Deutschland einreisen könnten. Dies sähen auch andere Fachautoren so, habe Stoppa gesagt.

Laut Süddeutsche Zeitung hat Bundespolizei-Fahnder und IT-Spezialist der Kripogewerkschaft BdK so etwas in seiner ganzen Laufbahn noch nicht erlebt. Am Sonntag (08.03.2009) habe das Bundesinnenministerium die Sperrung bestätigt: „Der Zugriff von den Dienstrechnern auf diese Homepage ist geblockt.“ Es habe die Gefahr bestanden, „dass die 40 000 Mitarbeiter der Bundespolizei dadurch irregeleitet werden“. Die Behörde müsse „eine einheitliche Linie vertreten“.

Welche Linie gemeint ist, dürfte jedem, der sich auch nur oberflächlich mit dem Zuwanderungsgesetz beschäftigt und die Gesetzgebung der letzten Jahre verfolgt hat, klar sein. Die geplante Visa-Warndatei und die Einführung der Spracherfordernisse bei Ehegattennachzug vor der Einreise drohen – aus Sicht der Bundesregierung – ins Leere zu laufen. Der politischen Linie der großen Koalition, die das Aufenthaltsgesetz immer mehr zu einem Fernhaltegesetz umformuliert, hat das EuGH-Urteil ein Strich durch die Rechnung gemacht. Regierungskreise sind daher bemüht, die EuGH Entscheidung möglichst kleinzureden.

Sie bedienen sich dabei einem Argument, dass dünner als ein Strohhalm sein dürfte: Das EuGH-Urteil – so Verlautbarungen aus Regierungskreisen – sei eine Einzelfallentscheidung und entfalte keine Allgemeinverbindlichkeit. Um die Stärke des Strohhalms zu veranschaulichen – an der sich die Bundesregierung nun klammert, dürfte Folgende vergleichbare Aussage ausreichen: Die Kopftuchentscheidung des Bundesverfassungsgerichts für Lehrerinnen ist eine Einzelfallentscheidung und entfaltet keine Allgemeingültigkeit.

Die tiefe Interessenkluft
Bemerkenswert an dieser Geschichte ist aber ein anderer Aspekt. Der Europäische Gerichtshof legt das Assoziierungsabkommen EWG-Türkei zu Gunsten von zweieinhalb Millionen in Deutschland lebenden türkischstämmigen Menschen aus und entscheidet so, dass Juristen daraus die Visumsfreiheit für Türken folgern. Ein Politikum. Eine bahnbrechende Entwicklung.

Der deutschen Medienlandschaft war aber die Sperrung dieser Informationen eher eine Meldung wert als das Urteil mit seinen weitreichenden Folgen für Millionen Türken. Zwangsläufig fallen da einem Vorwürfe ein, wonach Türken in Parallelwelten leben weil sie keine deutschen Zeitungen lesen und ständig türkisches Satellitenfernsehen schauen.

Schaut man sich aber das Desinteresse der deutschen Medienlandschaft an, ist man beinahe genötigt zu sagen, dass Türken zu Recht eher türkische Medien verfolgen als deutsche. Wenn keine einzige Tageszeitung, kein Fernseh- oder Radiosender eine für Türken höchst interessante und bedeutsame Meldung als Nachricht bringt, stellt sich die Frage nach der angeblichen Konsumierungspflicht der Türken von einheimischen Medien, um integriert zu sein.

Jeder türkischstämmige hat ein berechtigtes Interesse zu erfahren, ob er seine Verwandten, Freunde oder Geschäftspartner aus der Türkei künftig ohne Visum einladen darf oder er weiterhin ein äußerst mühseliges Antragsverfahren durchlaufen muss. Er möchte über die Folgen und Auswirkungen solcher Entscheidungen informiert werden, Expertenmeinungen dazu lesen oder in einer Talkshow ein Streitgespräch mit unterschiedlichen Standpunkten verfolgen. Ein Recht auf solche Informationen hat er insbesondere dann, wenn er dafür GEZahlt hat.

So lange einheimische Medien sich den Interessen türkischstämmiger Menschen derart verschließen und durch die Einstellung von Quotenjournalisten, die ab und an mal von der kleinen Veranstaltung um die Ecke berichten dürfen oder den Lesern mit Halbwahrheiten in Sachen Integration an die Pelle rücken – die mehr Schaden als Nutzen, darf man sich nicht wundern, wenn türkischstämmige weiterhin türkische Zeitungen aufschlagen und türkisches Satellitenfernsehen schauen.

Ein Blick in die Europaausgaben der türkischen Tageszeitungen sowie der deutschen Presse der letzten Wochen zeigt, wie tief die Interessenkluft zwischen den einheimischen und türkischen Medien ist und auch, in welche Richtung Kritik angebracht ist.

Übrigens: Webseite Westphal/Stoppa wieder erreichbar