Strafverfolgungsstatistik

Kriminalität ist tendenziell ein schichtspezifisches Problem

Ausländer und Kriminalität gehören zu den politischen Minenfeldern des gesellschaftlichen Diskurses. Dabei wird die Thematik von einem Vergleich von deutschen und nichtdeutschen Kriminellen begleitet. Zu Unrecht, schreibt Yasin Baş.

Von Donnerstag, 20.10.2011, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 01.12.2015, 9:24 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

„Das Themenfeld Einwanderung, Ausländer und Kriminalität gehört traditionell zu den politischen und ideologischen Minenfeldern des gesellschaftlichen Diskurses. Es polarisiert, kann leicht missbraucht werden und eignet sich wie kaum ein anderes zur politischen Verunsicherung der Bevölkerung“, sagt der Wissenschaftler Frank Gesemann in der wissenschaftlichen Publikation Berliner Forum Gewaltprävention und legt die Hand in eine offene Wunde.

NRW-Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) hat am Montag die Strafverfolgungsstatistik Nordrhein-Westfalen 2010 vorgelegt und dabei eine – im Vergleich – erfreuliche Botschaft verkündet: Im Jahr 2010 seien in NRW 174.656 Personen verurteilt worden, was der niedrigste Stand seit 2003 sei. Im Vergleich zu 2009 seien rund 4.300 Personen weniger verurteilt worden, was einem Rückgang von 2,4 % entspreche. Erfreulich ist ebenfalls, dass die Jugendkriminalität tendenziell rückläufig ist. „Gemäß der Polizeilichen Kriminalstatistik NRW wurden im Jahre 2010 insgesamt knapp 5 % tatverdächtige Jugendliche weniger registriert als 2009. Nach der vorliegenden Strafverfolgungsstatistik ist die Zahl der verurteilten Jugendlichen um 6,9 % gesunken“, gab Justizminister Kutschaty bekannt.

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Es geht um soziale Herkunft
Dagegen verwies Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor Kurzem in ihrer wöchentlichen Internet-Videobotschaft darauf, dass sie bei der Jugendkriminalität und Gewalt unter jungen Migranten ein weitaus größeres Problem sehe als unter deutschstämmigen Jugendlichen. Viel wichtiger war, dass Merkel in diesem Zusammenhang darauf hinwies, dass die jugendlichen Migranten nicht die gleichen Entwicklungschancen besäßen wie ihre deutschstämmigen Altersgenossen. Etwas Wesentliches ließ die Bundeskanzlerin aus den Augen: Es geht in der Diskussion nicht um ethnische Kategorien wie „Migrant“ (Türke, Araber, Russe etc.) und „Nicht-Migrant (Deutscher)“. Es geht vielmehr um die Kategorie der „sozialen Herkunft“, der Schicht- und Milieuzugehörigkeit sowie der Bildung und Ausbildung. Wenn es demnach ein Gewaltproblem unter Jugendlichen geben sollte, dann beträfe das in gleicher Weise auch deutsche Jugendliche aus einkommensschwachen Gruppen. Aus diesem Grunde verzichten die Autoren des NRW-Justizministeriums in ihrem Bericht „Hauptergebnisse der Strafverfolgungsstatistik NRW 2010“ folgerichtig darauf, die Ziffern zu Verurteilten Deutschen und Nichtdeutschen zu bewerten. Damit handeln sie vorbildlich und meiden es, „Äpfel mit Birnen zu vergleichen“.

Gegenüberzustellen wären höchstens die Zahlen der begangenen Gewalttaten von deutschstämmigen Jugendlichen aus sozial deklassierten Familien mit denen der Migranten aus demselben Milieu. Man wird verblüfft sein, wie sehr sich die Zahlen in „schichtspezifischen Delikten“ ähneln. Dr. Christian Walburg vom Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Münster, warnt eindringlich vor den oben genannten ethnischen Kategorisierungen und einer Ausblendung der Heterogenität/Sozialstruktur der Täter im Hinblick auf Kriminalität.

Gleiche Gruppen vergleichen
Auch der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration spricht in seinem Jahresgutachten 2010 zwar davon, dass Ausländer an Gewalttaten wie Mord und Totschlag, Raubdelikten oder gefährlichen und schweren Körperverletzungen überproportional häufig beteiligt seien und Gewaltdelikte überproportional häufig von Jugendlichen mit Migrationshintergrund verübt würden, relativiert diese Aussage aber durch folgende Passage: „Um die Kriminalitätswerte realistisch einschätzen zu können, müssten somit repräsentative Gruppen von Deutschen und Ausländern verglichen werden, die nach sozialen und demografischen Faktoren identisch sind.“ Das sei aber derzeit anhand der Datenlage – auch des Bundeskriminalamts (BKA) – gar nicht möglich.

Auch das Maß der Integration spielt eine wichtige Rolle. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) schreibt in ihrem Forschungsbericht 107: „Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt“, dass türkische, arabische und nordafrikanisch-arabische Migrantengruppen durchschnittlich schlechter integriert und gebildet seien. Und da der Stand der Integration und Bildung mit dem Gewaltverhalten in Beziehung stehe, ergeben sich für diese Gruppen erhöhte Gewaltraten. Daher kommen die Autoren der Studie zu folgendem Schluss: Eine bessere Integration und Bildung senkt die Gewaltbereitschaft. Der Faktor „Bildung“ verdient daher eine genauere Betrachtung. So kommt das KFN zu dem Ergebnis, dass die Jugendkriminalität in Deutschland in den letzten zehn Jahren, insbesondere bei Migranten gesunken sei. „Die Kriminalitätsprävention läuft erfolgreich“, sagt Forschungsleiter Christian Pfeiffer. „Es gibt keinen Anlass, die Gewaltbereitschaft der Migranten als zentrales Problem zu benennen.“ Mit besseren Bildungschancen gehe die Kriminalität von alleine zurück. Pfeiffer betont in diesem Zusammenhang: „Nur ein kleiner Prozentsatz der Migranten ist gewalttätig.“ Der Forschungsleiter gibt Beispiele für die Stadt Hannover: Hier sei es gelungen, die Mehrfachtäter unter jungen Türken innerhalb von acht Jahren von 15 auf sieben Prozent zu verringern. Dazu hätten zahlreiche Projekte wie beispielsweise kostenlose Nachhilfe oder Mentoring-Projekte beigetragen, wo sich freiwillige Mentoren bereiterklärten, sich um eine hilfssuchende Person (Mentee) zu kümmern. Durch den Erfahrungsaustausch und den Wissenstransfer mit dem Mentor entwickelt sich zwischen beiden eine vertraute Partnerschaft. Dies stärkt das Selbstbewusstsein des Schützlings und fördert zugleich seine Eingliederung in die Gesellschaft. Das KFN empfiehlt in ihrem Forschungsbericht 109: „Kinder und Jugendliche in Deutschland: Gewalterfahrungen, Integration, Medienkonsum“ desweiteren die Teilnahme an Gewaltpräventionsmaßnahmen, Kompetenz- und Konfliktlösetrainings sowie Projekte, die Gespräche als Arbeitsmethode gebrauchen.

Download: Hauptergebnisse der Strafverfolgungsstatistik Nordrhein-Westfalen für das Jahr 2010 finden Sie unter www.justiz.nrw.de

Prof. Dr. Horst Entorf und Philip Sieger weisen in ihrer Studie für die Bertelsmann Stiftung: „Unzureichende Bildung: Folgekosten durch Kriminalität“ darauf hin, dass die beste Prävention gegenüber kriminellem Verhalten die Erhöhung der Bildungschancen der Jugendlichen sei.

Der Haken
Die Kriminalitätsstatistiken haben aber per se einen „Haken“. Die Aussagekraft der polizeilichen Kriminalstatistik wird vom KFN relativiert. Christian Pfeiffer schreibt: „Die Anzeigebereitschaft der jugendlichen Opfer von Gewalttaten hängt erheblich von der ethnischen Zugehörigkeit der Täter ab.“ Junge Migranten hätten als Täter ein weit höheres Risiko, sich mit ihren Taten vor Gericht verantworten zu müssen als junge Deutsche. „Sie sind dadurch in allen Bereichen und Statistiken der Strafverfolgung deutlich überrepräsentiert.“ Daher könnte man sagen, je unbekannter sich Opfer und Täter z.B. in Sprache oder Herkunft sind, desto größer ist die Tatkraft, dies anzuzeigen.

Zur Verzerrung der Kriminalstatistik führt auch die Tatsache, dass Menschen auf der Durchreise, Touristen, Illegale, Besatzungssoldaten/ausländische Angehörige der Streitkräfte usw. als ausländische Straftäter in der Statistik erwähnt werden. Außerdem können bestimmte Delikte, wie Verstöße gegen Aufenthaltsbestimmungen, Asylverfahren oder Visafälschungen nur von Ausländern begangen werden („ausländerspezifische Straftaten“). Deutsche Staatsbürger können gar nicht gegen Aufenthaltsregelungen, Asyl- und Ausländerrecht verstoßen, weil sie Deutsche sind. Diese verschiedenen Faktoren sollten bei Diskussionen um Kriminalität bei Migranten nicht außer Acht gelassen werden. Denn das Thema lässt sich zu leicht von rechtsradikalen Gruppierungen und anderen „law-and-order-Populisten“ missbrauchen. Dem kann man entgegenwirken, indem man wie das NRW-Justizministerium vorsorglich darauf hinweist, dass die Staatsbürgerschaft sich als solche nicht als Kriminalitätsfaktor eigne. „Relevanter wäre ein Vergleich des sozialen Status“, so das Ministerium. Aktuell Meinung

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