Sabine Schiffer, Medien, Islam, Migranten, Muslime, Minderheiten
Prof. Dr. Sabine Schiffer © MiG

Mustafa Alptuğ Sözen

Der Held von der Frankfurter Ostendstraße

Mustafa Alptuğ Sözen hat eine Rettungsaktion an der S-Bahnhof Ostendstraße nicht überlebt. Sein tragischer Tod schlug hohe Wellen, aus mehreren Gründen. Prof. Dr. Sabine Schiffer fasst zusammen.

Von Montag, 26.11.2018, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 31.01.2022, 11:10 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Mustafa Alptuğ Sözen hätte im nächsten Jahr seinen 18. Geburtstag gefeiert. Der Schüler aus Hanau hatte Pläne für sein Leben, ein Chemiestudium gehörte dazu. Darum absolvierte er ein Praktikum, für das er mit der S-Bahn nach Frankfurt fuhr.

Am Nachmittag des 13. November 2018 kostete ihn auf dem Heimweg eine Verkettung ungünstiger Umstände das Leben. Er bewies Empathie und Mut – ihm und seiner Familie gilt mein Respekt und Mitgefühl und das vieler anderer, wie ich am Bahnhof Ostendstraße und in unserer Hochschule erfuhr.

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Am S-Bahnhof Ostendstraße treffen gegen 16 Uhr viele Bedürftige ein, die das nahe gelegene Obdachlosenzentrum besuchen. Ein Betrunkener stürzte an dem schick­salhaften Dienstag auf die Gleise. Die Wächterkabine auf dem extrem schmalen Bahnsteig ist schon lange nicht mehr besetzt, die Notrufsäule abmontiert. Die Situation ist ein beredtes Zeugnis von einer Gesellschaft im Optimierungswahn, die der ökonomischen Effizienzsteigerung den Vorrang gibt. Hier wäre eine Stelle für einen der Obdachlosen gewesen, an anderer Stelle viele mehr – es gibt einen Zusammenhang zwischen dem immer enger werdenden Segment derjenigen, die dazu gehören und derjenigen, die an den Rand gedrängt werden: Arbeitslose, Alte, Alleinerziehende; eigentlich funktioniert das System als Ganzes gesehen gar nicht.

Zeit für Fotos

Mustafa Alptuğ hätte dazu gehört. Er war beliebt, den Menschen zugewandt, engagiert und fleißig, wie die Berichte der Frankfurter Rundschau und die Aussagen seiner Tante und Onkel belegen. Ob er die Notrufsäule betätigt hätte oder nicht doch sofort zugegriffen hätte, um dem Gestürzten auf den Bahnsteig zurück zu helfen, werden wir nicht mehr erfahren. Er überließ den Mann nicht seinem Schicksal, aber er stieg auch nicht ins Gleis, wie erst vermutet wurde und die Berichterstattung bis heute Glauben macht.

Manche versuchten zu helfen, andere schrien ihn an, er sei zu nah am Gleis, zu leicht – genau dort, wo die S-Bahn mit hoher Geschwindigkeit einfährt. Sie riss den jungen Mann an sich und zwischen sich und den Bahnsteig. Er hat die Rettungsaktion für den anderen nicht überlebt, der schwer Verletzte und ein weiterer Obdachloser kamen ins Krankenhaus – auch zwei der Augenzeugen und der Zugführer, dem man durch ein Warnsignal den Schock hätte ersparen können, mussten notversorgt werden. Nein, es hätte nicht passieren müssen. Manche der vielen Menschen auf dem Bahnsteig haben noch versucht zu helfen, andere hatten Zeit für Fotos oder fürs Filmen, die dann auch pietätlos ins Internet gestellt wurden.

Ermittlungen wegen Internet-Video

Inzwischen wird wegen des im Internet veröffentlichen Videos ermittelt. Hätten der oder die Verantwortlichen für das Video damit die fehlende Dokumentation durch die fehlende Überwachungskamera auf dem Bahnsteig ergänzen wollen, dann hätten sie es der Polizei schicken können, die den Unfallhergang immer noch ermittelt und um Zeugenaussagen bittet (Tel. 069/130145-0). Aber das Video dokumentiert nicht den Ablauf, es zeigt schamlos den Verunglückten und verletzt seine letzte Privatsphäre. Es ist damit Ausdruck dieser Zeit, wo Häme vor Mitgefühl aufkommt – das genaue Gegenteil dessen, wie Alptuğ Sözen gehandelt hat.

Bevor man Genaues weiß, gibt es Spekulationen, die das Ticken einer Gesellschaft verraten: Selbstmord wurde schnell ausgeschlossen, aber eine Mutprobe sollte es gewesen sein. Man musste lange und gezielt suchen, um Genaueres zu erfahren. Die FAZ berichtete spät und betonte – den Duktus des Polizeiberichts übernehmend –, dass die beiden Obdachlosen Ausländer gewesen seien. Der verunglückte Retter blieb ein 17-jähriger Jugendlicher, namenlos. Die Frankfurter Rundschau kontaktierte die Familie, die erst spät am Abend des Unglückstages offiziell informiert wurde und bereits unter Schmäh und Häme via Internet zu leiden hatte.

Verschwörungstheorien

Das überregionale Boulevardblatt „Bild“ bürgerte den Hanauer Schüler gar aus mit der Artikelüberschrift „Türkei trauert um Mustafa“. Nachdem, was bei der Verleihung des Negativpreises Goldene Kartoffel für unterirdische Berichterstattung an Chef­redakteur Julian Reichelt am 3. November in Berlin passiert war, frage ich mich nun, ob der Bild-Mitarbeiter aus Syrien, Mohamed Rabie, auch für diese Überschrift verantwortlich zeichnet. Gegenüber den Neuen Deutschen Medienmachern hatte er die kritisierten Bild-Titel als seine eigenen verteidigt. Die formulierte Auslagerung der Trauer für den jungen Helden aus Hanau in die Türkei ist ein Schlag ins Gesicht aller Trauernden, aber vor allem seiner Familie. Denn was hätte man mehr tun können, als die Tat des Jungen, um sich als Teil der menschlichen Gesellschaft zu zeigen?

Die „Bild“ hat Reichweite und verfehlte ihren spaltenden Effekt nicht. Schnell kursierten Verschwörungstheorien in der deutsch-türkischen Community: „Wenn ein Ver­brecher einen ausländisch klingenden Namen trägt, wird’s gleich berichtet – ein türkischstämmiger Held jedoch verschwiegen,“ so klang es sinngemäß. Da ist was dran. Aber die ausgemachte und auch selbstausgrenzende Trennung von den trauernden „Türken“ und den gleichgültigen „Deutschen“ stimmt dennoch nicht. Gerade die Lokalausgabe der „Bild“ hat ein paar Tage später unter der Überschrift „Hanau trauert um Alptug“ auf das ausliegende Kondolenzbuch im Hanauer Rathaus und die Anteilnahme des Oberbürgermeisters hingewiesen.

Am nächsten Tag wieder fortgeputzt

Außerdem versammelten sich am Unfallort immer wieder Menschen, wenn Kerzen und Blumen niedergelegt wurden. Allerdings stellt sich die berechtigte Frage, warum diese kleinen von Herzen kommenden Zeichen – wofür manche extra an den Bahnhof fuhren – lange nicht liegen bleiben durften, sondern am nächsten Tag gleich wieder fortgeputzt wurden. So (de)konstruiert man Gedenken.

Es war der Sportverein aus Hanau, der frühzeitig den Namen und ein Foto des jungen Mannes postete und zu einer ersten Welle des Mitgefühls in den sogenannten sozialen Netzwerken führte. Instrumentalisierungsversuche gab es dann von einigen Seiten und Instrumentalisierungen sind immer bitter, weil sie die Würde eines Menschen verletzen. Etwa muslimische Vertreter meinten, besonders auf die Religion des Helden aufmerksam machen zu müssen und forderten, dass sein Hintergrund genannt werden müsse – so wie, und das akzeptierten sie damit, es auch im Falle einer Untat gemacht worden wäre. Es ist zwar traurig und wahr, aber wird dem Opfer auch nicht gerecht. Wie verzweifelt muss man sein, wenn man in so einer tragischen Stunde eine solche Vereinnahmung vornimmt? Die vielen Reaktionen, die erneut einen Keil zwischen die Menschen treiben, wo es eigentlich überhaupt keine Trennlinien gibt, sind inzwischen schon vorhersehbar. Sie werden nie den Beteiligten gerecht und schon gar nicht dem selbstlosen Mustafa Alptuğ Sözen, der nichts Trennendes empfunden haben kann, um sich für die Hilfe zu entscheiden.

Nicht die gebührende Aufmerksamkeit

Mit einer Online-Petition wird inzwischen dem Wunsch Nachdruck verliehen, der Haltestelle Ostendstraße den Namen Alptug-Sözen-Station zu geben – ein Anliegen, das auch der Frankfurter Oberbürgermeister Feldmann unterstützt.

Da nur wenige überregionale Medien eine kurze dpa-Meldung übernahmen und insgesamt dem traurigen Fall nicht die gebührende Aufmerksamkeit zollen, kursiert immer noch die Unfallversion von zwei bis drei Personen im Gleis. Dies verhindert nicht nur Trauer und Anteilnahme, sondern auch, dass über die unsägliche Situation an dem besonders engen S-Bahnhof Ostendstraße nachgedacht wird. Zwei runde Röhren bohren sich dort unterirdisch durch die Stadt, direkt vor der EZB. Diese sind in der Mitte durch große Säulen in der entsprechend gegenläufigen Form getrennt. Kommt man die Treppe herunter, muss man also nach außen an den Säulen vorbei nah am Gleis entlang gehen. Neben der Enge verführt auch die Rundung dazu, nicht nah an der Wand, sondern mit der Tendenz zum Gleis hin zu gehen. Schon drei Personen kommen kaum aneinander vorbei, ohne dass die äußere gefährdet ist. Hier steigen viele leichtgewichtige Schulkinder aus und ein. Gefährlich ist vor allem, wenn sie jeweils rechts um die erste Säule gehen und genau die S-Bahn neben ihnen herein rast. Das ist der Sog, der Mustafa Alptuğ das Leben kostete – so berichtet es ein älterer Mann mit Stock, der selbst seine Tochter verloren hat und der noch irgendwie ärgerlich schien über den jungen Retter, weil dieser über die weiße Linie zu nah ans Gleis getreten sei. Ich bin sicher, in vielen Jahren wird man sich fragen, wie es solche Bahnsteigsituationen überhaupt geben konnte – so wie man früher nicht glauben konnte, dass es Usus würde sich im Auto anzuschnallen.

Das bringt Mustafa Alptuğ nicht zu uns zurück, und es dürfte seine Familie und Freunde auch wenig trösten, wenn sein Schicksal eine Debatte über unnötige Gefahrenstellen auslösen würde. Es könnte allenfalls ein Quäntchen der Sinnlosigkeit nehmen, die der tragische Verlust dieses jungen Menschenlebens hat.

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  1. karakal sagt:

    Als ich in Singapur zum ersten Mal eine U-Bahnstation betrat und an den Bahnsteig kam, sunderte ich mich darüber, daß dort weder Bahnsteigkante noch Gleise zu sehen waren. Stattdessen war dort eine mit Werbung und anderem bedeckte große undurchsichtige Glaswand. Der Zug hielt so, daß die Türen der Waggons genau hinter den sich automatisch öffnenden Türen in der Wand zu stehen kamen. Auf dem Boden vor den Türen zeigten grüne und rote Markierungen an, daß die Aussteigenden Vorrang hatten und die Einsteigenden warten sollten, bis erstere alle ausgestiegen waren.
    So kann niemand der Bahnsteigkante zu nahe kommen, selbst auf die Schienen fallen oder jemand anderen auf sie stoßen. Auf dem Boden der ganzen Station weisen mit den Füßen ertastbare Markierungen Blinden den Weg. Dazu sind die Fahrkosten in dem nicht billigen Singapur im Verhältnis zur BRD niedrig.
    Warum läßt sich so etwas nicht auch in Deutschland machen?

    Weiterhin stellt sich die Frage nach dem Problem des Auftretens von Betrunkenen in der Öffentlichkeit, warum der Verkauf der gefährlichen Droge Alkohol nicht wenigstens eingeschränkt und erschwert wird. Auch hier scheint Gewinnmaximierung Vorrang zu haben. Es wirkt auf mich abstoßend, wenn auf den Bahnhöfen von U- und S-Bahnen und in den Waggons während der Fahrt Jugendliche ungeniert Alkohol konsumieren. In Singapur ist in öffentlichen Verkehrsmitteln das Mitführen jeglicher offenen Getränke und Speisen verboten.