30 Jahre UN-Kinderrechtskonvention

Flüchtlingskinder: Verloren, Verraten, Vergessen!?

Auch 30 Jahre nach der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention besteht ein großer Handlungsbedarf für ihre umfassende Umsetzung in Deutschland. Solange bleiben „Menschenwürde“, „Freiheit“, „Demokratie“ und „Rechtsstaatlichkeit“ in Frage gestellt.

Von Mittwoch, 20.11.2019, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 04.01.2020, 0:23 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Die Verabschiedung der Kinderrechtskonvention am 20. November 1989 durch die Vereinten Nationen wurde von der Politik als „Meilenstein“ in der Entwicklung des Völkerrechts, ihre Ratifizierung durch den Deutschen Bundestag im April 1992 als „Sternstunde“ für die Menschenrechte gefeiert. Erstmal wurden Kindern und Jugendlichen grundlegende und umfassende Rechte auf Schutz, Grundversorgung sowie Mitbestimmung und Beteiligung garantiert. Zu den zentralen Bestimmungen der UN-Kinderrechtskonvention gehören das absolute Diskriminierungsverbot und der Vorrang des Kindeswohls.

Artikel 22 verpflichtet die Vertragsstaaten, Flüchtlingsschutz suchenden Kindern die Einreise und den Aufenthalt zu gestatten und sie in jugendhilferechtlicher Hinsicht wie einheimische (deutsche) Kinder zu behandeln. Die damalige Bundesregierung hatte jedoch – vor dem Hintergrund einer beispiellos aufgeheizten Asyldebatte 1991/92 im Vorfeld der Änderung des Artikels 16 GG – bei der Ratifizierung eine Vorbehaltsklausel hinterlegt, die das Asyl- und Ausländerrecht über die Konvention stellte. Fortan bestimmten über fast zwei Jahrzehnte – bis zur Rücknahme der Vorbehalte im Sommer 2010 – nicht das Kindeswohl und das Prinzip des Optimums an Förderung und Entfaltung den rechtlichen und behördlichen Umgang Deutschlands mit Flüchtlingskindern, sondern: eingeschränkte Rechte, reduzierte Leistungen, ein unsicherer Aufenthaltsstatus, mangelnde Förderung und verweigerte Bildungsmöglichkeiten.

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Kurze „Willkommenskultur“

In der kurzen Phase der „Willkommenskultur“ 2015 durchgeführte Änderungen des Aufenthalts – und Asylgesetzes zur Verfahrensfähigkeit (entgegen der bisherigen Vorschrift „erst“ mit Vollendung des 18. Lebensjahres) und umfangreiche Erweiterungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ließen kurzfristig auf eine grundlegende Verbesserung der Lage minderjähriger Geflüchteter hoffen.

Doch schon ab Herbst 2015 – vor dem Hintergrund flüchtlingsfeindlicher und rassistischer Vorfälle und eines gesellschaftlich atmosphärischen Rechtsrucks in Teilen der Bevölkerung – versäumte es die Bundesregierung, sich deutlich auf die Seite der Verfechter einer offenen und solidarischen Gesellschaft zu stellen, die – wie die Mitgliedsorganisationen der „National Coalition“, darunter PRO ASYL, terre des hommes und viele andere – sich seit vielen Jahren für die umfassende Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland einsetzen. Stattdessen hat die Große Koalition mit einem repressiven Rollback an Gesetzesverschärfungen (Asylpakete I und II, „Lex Ankerzentren“ u.a., bis hin zum „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“, besser: „Hau-ab-Gesetz“) „Ängste“ und Ressentiments sogenannter „besorgter Bürger“ bedient und Populisten und der organisierten Rechten damit noch Auftrieb gegeben.

Großer Handlungsbedarf

Insgesamt können einzelne Verbesserungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Rechte und Bedürfnisse dieser besonders schutzbedürftigen Gruppe von Kindern und Jugendlichen in Deutschland noch immer massiv vernachlässigt werden: Nach wie vor leben viele geflüchtete Kinder und Jugendliche in aufenthaltsrechtlich unsicherer Situation; beim Zugang zu Schutz und Hilfe und bei der Wahrnehmung ihrer Rechte nach der UN-Kinderrechtskonvention sind erhebliche rechtliche und tatsächliche Verschärfungen zu verzeichnen; noch immer gibt es gravierende Defizite bei behördlich angeordneten willkürlichen Altersfiktionen, auch die Anwendung medizinisch fragwürdiger und zweifelhafter Methoden ist nach wie vor nicht ausgeschlossen; geflüchtete Kinder können weiterhin in Abschiebungshaft kommen; Unterbringung und beschleunigte Verfahren in sog. Ankerzentren gefährden ihre ungehinderte Entwicklung und Integration; die  Ablehnungen von Familienzusammenführungen für Kinder und Jugendliche durch deutsche Behörden stellt eine schwerwiegende Verletzung der Artikel 3, 9 und 10 der UN-Kinderrechtskonvention dar; und nach wie vor werden unbegleitete Minderjährige an der Grenze abgewiesen oder zurückgeschoben.

Auch 30 Jahre nach der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention besteht ein großer Handlungsbedarf für ihre umfassende Umsetzung in Deutschland.

Eine noch größere Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Menschenrechte für Kinder nach der UN-Kinderrechtskonvention besteht in der oft tödlichen Abwehr und systematischen Ignoranz der EU-Regierungen gegenüber den Schicksalen Tausender Flüchtlingskinder am Rande und an den Außengrenzen Europas.

Flüchtlingskinder Europas

In der Hoffnung auf ein besseres und friedliches Leben machten sich seit Beginn dieses Jahrhunderts Hunderttausende von Flüchtlingskindern mit ihren Eltern, mit Verwandten oder allein auf sich gestellt auf den Weg nach Europa. Sie flohen vor Krieg, Gewalt, Terror und Armut. Tausende kamen bei dem Versuch, hier ein Leben in Sicherheit führen zu können, ums Leben.

Sie ertranken im Mittelmeer, verdursteten in der Wüste, erstickten in Lastwagen und Containern, erfroren beim Überqueren von Gebirgspässen oder eisigen Grenzflüssen im Winter; sie starben in den Triebwerken von Flugzeugen oder an den Strapazen der Flucht; sie starben in Gefangenschaft, in den grausamsten Lagern Libyens; sie wurden Opfer von Ausbeutung, Folter, Misshandlung und Krankheiten. Tausende Kinder leben am Rande Europas in überfüllten Flüchtlingslagern unter unmenschlichen Bedingungen, ohne Schutz und Perspektive.

Diese Kinder sind die Flüchtlingskinder Europas, für die europäische Staaten und Regierungen gemeinsam Verantwortung tragen: Sie sind die unschuldigsten Opfer unverantwortlicher „Deals“ mit nationalistischen Autokraten und der Zusammenarbeit europäischer Regierungen mit menschenrechtlich bedenklichen Staaten; sie sind die Opfer der Unterstützung von Warlords und kriminellen Milizen durch die EU; sie sind Opfer einer verfehlten deutschen und europäischen Flüchtlings- und Kinderschutzpolitik.

In Frage gestellt

Diese Politik straft den Anspruch der EU als einer „Wertegemeinschaft“ – Europa als “Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ – Lügen. Die europäische Kinderflüchtlingsschutz-Politik stellt sich heute als grenzenlos- brutales System der Be- und Verhinderung der Inanspruchnahme des Asylrechts und von Schutz und Hilfe dar. Im Umgang mit der schwächsten und schutzbedürftigsten Gruppe von Flüchtlingen, den Flüchtlingskindern, zeigen zivilisierte Staaten, wie zivilisiert sie wirklich sind.

Solange noch Kinder auf der Suche nach Schutz im Mittelmeer und auf dem Weg nach Europa sterben oder in überfüllten Lagern verelenden und dahin vegetieren, solange bleiben der Humanitätsanspruch Deutschlands und Europas und ihre vielbeschworenen Werte „Menschenwürde“, „Freiheit“, „Demokratie“ und „Rechtsstaatlichkeit“ gänzlich in Frage gestellt.

Kinder – und Menschenrechtsorganisationen, die demokratischen Zivilgesellschaften Deutschlands und Europas sind gefordert, damit die „Sternstunde“ der Kinderrechte nicht als „Sternschnuppe“ verglüht. Leitartikel Meinung

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  1. Peter Enders sagt:

    Dieser Text erinnert mich an folgendes. Ein Priester sieht einen anderen Priester beim Bibellesen rauchen. Er wundert sich und sagt, „mir hat der Bischof verboten, beim Bibellesen zu rauchen“. „Ja“, entgegnet der andere, „ich habe den Bischof gefragt, ob ich auch beim Rauchen die Bibel studieren kann. Der Bischof antwortete, man solle immer die Bibel studieren, mein Sohn.“
    Nehmen wir also an, es sei nicht erlaubt, bestimmte Tiere zusammen mit ihrem Futter einzuführen, weil das Futter nicht den einheimischen Normen entspricht. Es sei aber erlaubt, allein die Tiere einzuführen, ohne Futter, weil sie als unbedenklich gelten. Für die bereits eingeführten Tiere gibt es eine Ausnahmebestimmung für das Futter, damit sie nicht hungern.
    Wenn ich erführe, dass von meiner Familie nur die halbwüchsigen Kinder nicht abgewiesen würden und die anderen nachreisen dürften, würde ich jene vorausschicken. Die Gefahr, dass sie auf der Reise umkommen, ist leider in beiden Fällen sehr groß.

  2. Elfriede Reichert sagt:

    Oh Herr Enders,
    warum überrascht mich Ihr Kommentar nicht?
    Allein der Vergleich mit der Einfuhr von Tieren ist grenzwertig!
    Aber die Gegenfrage:
    Was wissen Sie über diese Jugendlichen? Wurden sie alle „vorausgeschickt“?
    Oder haben sie sich vielleicht allein auf den Weg gemacht aus Pflicht gegenüber den Familien? Oder wollten die Familien wenigstens ihre Kinder in Sicherheit wissen? Oder haben die Jugendlichen ihre Familienangehörigen auf dem Fluchtweg verloren? Oder oder ….
    Wie entsteht die Annahme oder fast Gewissheit, dass Eltern ihre minderjährigen Angehörigen vorausschicken? Die Institutionen, die in Deutschland die jetzt ca 40.000 betreuen, gehen nicht von dieser Annahme aus. (siehe https://www.diakonie.de/wissen-kompakt/unbegleitete-minderjaehrige-fluechtlinge/)

    Abgesehen davon geht dieser Artikel auch auf die Situation von Flüchtlingskinder am Rande von Europa ein. Auch diese Kinder und Jugendliche in den Lagern in Bosnien, in Griechenland, in der Türkei und in Libyen steht der Schutz durch die UN-Kinderrechtskonvention zu.