Flucht mit Handicap

Helfer in Kenia sorgen sich um Flüchtlinge mit Behinderungen

Rukia hat Glück. Die siebenjährige Somalierin hat dank Physiotherapie laufen gelernt. Auch andere Behinderte im kenianischen Flüchtlingslager Kakuma erhalten Hilfe. Doch vermutlich werden Tausende versteckt.

Rukia Ahmed strahlt über das ganze Gesicht, als sie den großen blauen Plastikstift in die gelochte Platte ihres Steckspiels kriegt. Die Siebenjährige hat dafür lange und geduldig mit ihrer gelähmten linken Hand geübt. „Sie ist schon viel besser geworden“, sagt ihr Bruder Ali erkennbar stolz. Zwei Mal pro Woche begleitet der 18-jährige Somalier seine Schwester in ein Therapiezentrum im Flüchtlingslager Kakuma in Nordkenia. Dort leben rund 186.000 Menschen aus über 20 Ländern, die meisten sind aus dem benachbarten Südsudan geflohen.

Tausende von ihnen sind körperlich, geistig oder psychisch beeinträchtig und brauchen besondere Hilfe. Rukia Ahmed ist fast gehörlos, außerdem ist ihre linke Seite gelähmt. Noch vor drei Jahren konnte sie ohne Unterstützung nicht gehen. Inzwischen kann sie das, dank regelmäßiger Physiotherapie, wie ihr Therapeut Simon Njenga sagt. Er arbeitet für Handicap International und betreibt das Zentrum, in dem Rukia behandelt wird.

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Das Hilfswerk unterstützt in dem Camp rund 6.000 Flüchtlinge, darunter etwa 2.000 Kinder. Sie bekommen Physio- und Ergotherapie oder orthopädische Hilfsmittel, außerdem psychosoziale Unterstützung. Das Hilfswerk setzt sich auch für inklusiven Unterricht ein.

Gesundheitszentrum meist unerreichbar weit weg

Derzeit macht Handicap International eine Erhebung in den vier Lagern, die zum Camp gehören. Denn wahrscheinlich brauchen viel mehr Bewohner besondere Hilfe. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt den Anteil von Menschen mit Behinderung im allgemeinen Bevölkerungsdurchschnitt auf 15 Prozent. In Kakuma wären das 27.000 Flüchtlinge. „Aber vermutlich sind es viel mehr“, sagt Njenga. „Wer hier lebt, ist ja aus einem Kriegsgebiet geflohen. Viele sind in Minenfelder geraten, auf andere Weise verletzt worden oder haben Furchtbares erlebt.“ Und nicht nur der Krieg hat bei den Menschen Spuren hinterlassen, sondern auch Armut und fehlende medizinischer Versorgung haben das Ihre getan.

60 Prozent der Patienten von Handicap International in Kakuma haben laut Njenga eine Cerebralparese, also eine Störung im Bewegungsablauf, weil ihr Gehirn sehr früh geschädigt wurde. Viele Frauen hätten beispielsweise noch nie von Vorsorgeuntersuchungen gehört, bevor sie hierherkamen. „Im Südsudan gebären die Frauen bestenfalls mit Hilfe einer Hebamme, meist ist das nächste Gesundheitszentrum unerreichbar weit weg.“ Falls während der Geburt Schwierigkeiten auftreten, dann sei die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass das Gehirn des Kindes geschädigt werde.

Behinderungen noch immer Tabu

Auch im Flüchtlingslager sind die medizinischen Möglichkeiten nicht viel besser. „Das ist hier nicht wie in der Hauptstadt Nairobi, wo im Notfall in ein paar Minuten ein Krankenwagen da ist, und ein gutes Krankenhaus nicht weit“, sagt Njenga.

Rukia wurde in Kakuma geboren. Ihre Mutter war mit ihren bis dahin fünf Kindern vor dem Bürgerkrieg in Somalia über die Grenze nach Kenia geflohen, als sie mit Rukia schwanger war. Den Kontakt zum Vater hat die Familie in den Wirren des Krieges verloren. „Wir wissen noch nicht einmal, ob er noch lebt“, sagt Rukias Bruder Ali. Auch Rukias ältester Bruder ist gehörlos. Jetzt bringt er Rukia die Gebärdensprache bei.

Nicht in allen Familien ist der Umgang mit behinderten Mitgliedern so liebevoll wie zwischen Ali und Rukia. Viele verstecken ihre Angehörigen, denn in etlichen Kulturen gelten Behinderungen noch immer als Tabu, und vielen Christen als „Strafe Gottes“ für ein vermeintlich sündiges Verhalten. Andere wissen nicht, dass es Möglichkeiten der Unterstützung gibt und ziehen sich zurück, weil sie überfordert sind.

Psychische Behinderung kaum untersucht

„Das gilt vor allem für Angehörige von Menschen mit einer psychischen Behinderung“, sagt Nicolas Ngoge. Der unabhängige Berater versucht gerade im Auftrag von Handicap International herauszufinden, wie viele Menschen in Kakuma psychische Probleme haben. Nach allem, was sie vor und während ihrer Flucht durchgemacht haben, erwartet er einen hohen Prozentsatz.

Für Flüchtlinge, die in Afrika bleiben, wird das bisher selten untersucht. Etwas besser ist die Datenlage in Deutschland: Laut Bundesärztekammer ist aufgrund ihrer traumatisierenden Erfahrungen mindestens die Hälfte der Flüchtlinge in Deutschland psychisch krank. In Kakuma sind die Betroffenen nicht leicht zu finden. „Viele werden von ihren Angehörigen versteckt. Das geht so weit, dass Kinder nicht in die Schule dürfen, oder Kranke nicht in ein Gesundheitszentrum“, sagt Ngoge.

Ali findet einen solchen Gedanken völlig abwegig. „Ich liebe meine Schwester“, sagt der 18-Jährige. „Ich tue alles, um sie zu unterstützen.“ (epd/mig)