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Francesca Polistina © privat, bearb. MiG

Das Gästezimmer

Es kommt ein Schiff, vielleicht

„Wenn der Weise zum Mond zeigt, schaut der Dummkopf auf den Finger“. Dieses altes chinesisches Sprichwort fällt mir ein, wenn ich die Debatte über Seenotrettung verfolge. Alles dreht sich um die Pull-Faktoren, auf die Push-Faktoren guckt niemand.

Von Freitag, 18.10.2019, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 22.10.2019, 15:59 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Es gibt ein altes chinesisches Sprichwort, das lautet: „Wenn der Weise zum Mond zeigt, schaut der Dummkopf auf den Finger“. Dieses Sprichwort scheint auch heute passend zu sein: von Zahlen und Fakten wird weggeschaut, der Zeigerfinger – insbesondere von den Provokateuren – ist meistens aufregender. So ist es zum Beispiel in der Migrationsdebatte, besonders in Sachen Seenotrettung. Studien belegen, dass Rettungsschiffe die Anzahl an Migranten, die sich auf dem Weg übers Meer machen, nicht erhöhen. Trotzdem ist der Mythos der sogenannten Pull-Faktoren immer da. Und die wahren Ursachen für die Migration, die sogenannte Push-Faktoren, rutschen in den Hintergrund.

Neulich ist das Thema Pull-Faktor wieder in den Fokus geraten. Der Grund dafür ist ein gemeinsames Papier, auf das sich die Innenminister von Deutschland, Frankreich, Italien und Malta im September verständigt haben. Im Papier, das einen vorübergehenden Verteilmechanismus für aus Seenot gerettete Flüchtlinge einführt, steht im Punkt 6:

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Reconfirm that this temporary mechanism should not open new irregular pathways to European shores and shall avoid the creation of new pull-factors.

Es ist nicht klar, was mit „new pull-factors“ genau gemeint ist. Sind diese neuen Faktoren die Rettungsschiffe oder der neue Verteilmechanismus? So oder so suggeriert der Satz, dass Maßnahmen für aus Seenot gerettete Menschen einen „Anziehungseffekt“ hätten – ganz nach dem Motto: desto mehr Rettungsdienste zur Verfügung, desto mehr Geflüchtete auf dem Weg. Doch Studien belegen das Gegenteil.

Der italienische Migrationsforscher Matteo Villa hat die Daten aus den letzten Jahren analysiert und gezeigt, dass Rettungsschiffe keinen Einfluss auf die Zahl der Flüchtlinge haben. „Obwohl diese Idee völlig logisch erscheint, sprechen auch in diesem Fall die Daten für sich: Der Pull-Faktor der NGOs existiert nicht“, schreibt er auf Twitter. Zu dem gleichen Ergebnis kommt eine Studie der Goldsmiths University of London: „Bemühungen von NGOs zur Rettung von Migranten, die das Mittelmeer überqueren, machen die Überfahrten nicht häufiger oder gefährlicher“, heiß es. Vielmehr, so die Forscher, ignoriere das Argument gegen NGOs „die wirtschaftliche und politische Krise in mehreren Regionen Afrikas, die die Zahl der Grenzübertritte im Jahr 2016 erhöht hat. Die Gewalt gegen Migranten in Libyen ist so extrem, dass sie versuchen, das Meer zu überqueren, mit oder ohne vorhandene Rettungsdienste“.

Das macht durchaus Sinn: man verlässt die Heimat nicht, weil man gerettet wird, sondern, weil man von zahlreichen Push-Faktoren wie Krieg, Hunger, Armut, Gewalt und Verfolgung vertrieben wird. Natürlich gibt es auch Pull-Faktoren, die einen irgendwohin ziehen, doch diese haben mehr mit der Hoffnung eines besseren und sicheren Lebens zu tun als mit der Perspektive, an Bord eines NGO-Schiffes steigen zu dürfen.

Trotzdem bleibt die Legende der NGOs als Pull-Faktoren bestehen. Woran liegt das? Sicherlich auch daran, dass die Debatte über die Rettungsschiffe medial überrepräsentiert ist. Wenn man die Zeitung liest, gewinnt man den Eindruck, dass alle Migranten, die an den Küsten Italiens landen, an Bord eines NGO-Schiffes ankommen. Doch die Zahlen zeigen ein anderes Bild. „92% der in diesem Jahr in Italien gelandeten Menschen haben mit den NGOs nichts zu tun“, so Matteo Villa. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Rettungsschiffe im Mittelmeer keine wichtige Rolle bei der Seenotrettung spielen, ein entscheidender Pull-Faktor zur Meeresüberquerung sind sie aber nicht. Anders formuliert: die Reise nach Europa dauert häufig mehrere Jahre, währenddessen viele Migranten gefoltert und vergewaltigt werden – ob sich bei der Überfahrt ein NGO-Boot in der Nähe befindet, bleibt an dieser Stelle zweitrangig.

Als die NGO-Rettungsschiffe noch kein großes Thema waren, hat man sich mit ähnlicher Vehemenz gegen die Schleuser gestellt. Zu den Hauptzielen der EU-Mission Sophia gehörte nicht zufällig die Bekämpfung der Schleuserkriminalität, insbesondere durch die Zerstörung von Booten. Auch damals konnte man den Eindruck bekommen, dass man die Wurzel aller Probleme identifiziert hatte: wenn die Schleuser nicht handeln können, ist das Sterben im Mittelmeer erstmal gelöst, endlich! So war es natürlich nicht. Denn eines hatte man vergessen: die Gründe zur Migration sind stärker als jedes Rettungsschiff, stärker sogar als jedes zerstörte Schleusernetz. Aktuell Meinung

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  1. Gerrit sagt:

    Der sogenannte „Pull-Faktor“ ist ein ganz dämliches Argument von Politikern*Innen, die die Realität nicht sehen wollen. Sie „schnitzen sich die Welt“ wie sie sie haben wollen. Und das ist falsch!
    Ähnlich war es mit der „Schleuser/Schlepper-Bekämpfung“. Die kann man nur bekämpfen, wenn man im Ursprungsland der Schlepper irgendeine staatliche Macht ausüben kann – können wir das z.B. in Libyen. Eher nein!
    Die arbeiten größtenteils auf „Vorkasse“. Es ist ihnen letztlich egal, wieviele Menschen retour gebracht werden. Im Zweifelsfall kassieren sie ein 2tes Mal.

    Natürlich muss man diesen Leuten das Handwerk legen, aber nicht indem man mit hohem finanziellen Aufwand wohlmöglich Schlepper auch noch zur „Küstenwache befördert“. Siehe u.a..

    http://www.migazin.de/2017/12/12/scharfe-kritik-amnesty-eu-stopp/

    Die sogenanntenm „Push-Faktoren“ müssen bekämpft werden. Nir dann ändert sich etwas an den Flüchtlingszahlen.

    Das „beste“ aktuelle Beispiel ist die derzeitige Aktion der Türkei in Syrien. Die Welt schaut zu, die EU schaut zu und außer irgendwelchen Floskeln in den Nachrichtenportalen passiert nicht viel. Die EU ist, was solche Situationen betrifft, ein zahnloser Tiger. Wären wir die so oft beschworene Einheit, könnten wir ganz anders agieren.