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Francesca Polistina © privat, bearb. MiG

Das Gästezimmer

Legenden auf hoher See

Der Fall vom Seenot-Geisterschiff „Charlottea“ in Italien zeigt, wie Fake News in die Welt gesetzt werden und wie sie sich verbreiten. Zum Glück konnte „Charlottea“ schnell entlarvt werden, doch die meisten Fake News prägen das Weltbild vieler Menschen.

Von Mittwoch, 28.08.2019, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 29.08.2019, 16:25 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

31. Juli 2019, im Mittelmeerraum ist gerade Hochsommer. Das Schiff Alan Kurdi der deutschen Nichtregierungsorganisation (NGO) Sea-Eye wartet nach einer Rettungsaktion in libyscher SAR-Zone, als plötzlich ein zweites Schiff gesichtet wird, gleich daneben. Schon wieder ein Migrantenboot, doch wer ist es diesmal? Unter welcher Flagge fährt es?

Die Antwort der italienischen Rechten kommt blitzschnell und genauso schnell verbreitet sich in den sozialen Medien: Das Schiff heißt Charlottea, fährt unter deutscher Flagge wie die Alan Kurdi und hat das Identifikationssystem abgeschaltet, um die eigene Position zu verschleiern. Unfassbar!

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Ein bisschen Verwirrung herrscht schon: Erst mal ist von einem Segelboot die Rede, dann von einem ehemaligen deutschen Militärschiff. Trotzdem sind für Rechtsextremisten und Migrationsfeinde alle Zeichen da, um vom Anschlag auf Italien zu sprechen, ja sogar vom Versuch vonseiten Deutschlands, das Land zu destabilisieren – ein in letzter Zeit sehr beliebtes Motiv. Es ist ein Komplott, das kann man laut sagen. Innenminister Matteo Salvini erwähnt explizit das Schiff nicht, schreibt aber auf Twitter, dass fünf NGO-Boote bereit sind, Italien anzufahren (in Wirklichkeit sind zwei Schiffe im Einsatz).

Das Debunking dauert nicht lange, und trotzdem ist für das hektische Twitter jede Minute eine zu viel. Der italienische Radiojournalist Sergio Scandura setzt sich in Verbindung mit der Sea-Eye. Die NGO informiert, dass es kein anderes Schiff in der unmittelbaren Nähe gibt. Und auch, dass die Rettungsboote der Alan Kurdi „Charlotti“ heißen – womöglich haben die Rechten ein Schlauchboot der Alan Kurdi mit einem weiteren Schiff, der sogenannten Charlottea, verwechselt. Es gibt also kein zweites deutsches Schiff, das sich auf dem Weg nach Italien befindet, es existiert keine Charlottea. Das Einzige, was es gibt, ist den Versuch, zu desinformieren und zu hetzen. Diesmal sogar in einer ziemlich ungeschickten Weise.

Charlottea, der vom italienischen Migrationsforscher Matteo Villa rekonstruiert wurde, ist kein Einzelfall. Unpräzise, irreführende bis hin zu frei erfundenen Geschichten zum Thema Migration werden täglich ins Netz geworfen, und dort bleiben sie auch, egal ob sie richtiggestellt werden oder nicht. Es genügen wenige Stunden, manchmal sogar wenige Minuten, und man weiß schon gar nicht mehr, wo und wann alles angefangen hat – man sieht nur, wie dubiose Gerüchte weiterkursieren. Legenden wie das Weihnachtsgeld für Flüchtlinge oder die vom Staat an Flüchtlinge geschenkten Smartphones gehören zu dieser Reihe. Trotz zahlreicher Dementis sterben Lügen zuletzt, insbesondere wenn es um Ausländer geht.

Die italienische Journalistin Annalisa Camilli hat beobachtet, wie das Verbreitungsschema von Fake News häufig demselben Weg folgt: Falsche Informationen werden von Accounts verbreitet, die sich als normale Bürger präsentieren. Solche Accounts stehen aber in Verbindung mit internationalen Accounts, die täglich zum gleichen Thema mehrere Posts veröffentlichen. Diese Posts werden dann von automatischen Bots retweetet, bis sie endlich wirkliche Accounts erreichen. Sollten sie dann von Influencern oder Politikern weiter gepostet werden, ist der Sprung in die anderen sozialen Netzwerke und klassischen Medien gelungen.

Laut einer Analyse der Stiftung „Neue Verantwortung“ zur Fake News im Bundestagswahlkampf 2017 bewegten sich die untersuchten falschen Informationen vor allem im Themenfeld „Flüchtlinge und Kriminalität“. Sogar acht von zehn Fake News, so die Autoren der Studien, konnten dem Thema „Flüchtlinge“ zugeordnet werden. Doch Fake News sind nur ein Teil des Problems. Nicht nur völlig erfundene Informationen, sondern auch verdrehte Zahlen, irreführende Bilder und schließlich eine Sprache, die ständig von Not und Krise spricht, vermittelt eine außer Kontrolle geratenen Situation, die schnelle Maßnahmen erfordert. Fakes werden nur selten unter die Lupe genommen, am Ende prägen sie das Weltbild vieler Menschen.

Der Fall vom Geisterschiff Charlottea ist nur ein Beispiel, nicht das erste und auch nicht das letzte. Es zeigt, wie einfach es mittlerweile geworden ist, jede Diskussion zum Thema Migration mittels sozialen Netzwerken zu vergiften. Der Fall Charlottea ist aber auch die Spitze eines riesigen Eisbergs. Diese Spitze konnte in diesem Fall schnell enttarnt werden, weil sie besonders offenkundig war. Was ist aber mit dem Berg unter der Wasseroberfläche? Aktuell Meinung

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  1. Peter Enders sagt:

    Ich sehe das genauso wie Francesca Politina, dass hier mit dem Saebel auf denjenigen Teppich eingehauen wird, unter den die etablierten Parteien so Vieles kehren – Spiegel u. a. benutzen Degen oder gar nur Florett.
    Das alles ist wenig erfreulich und verdient angeprangert zu werden. Es gehoert dann allerdings dazu, dass diese Vorgehensweise zumindest teilweise eine Reaktion auf die systematischen Falsch-Nachrichten durch Verschweigen ist: Welche Kosten entstehen durch die Migrationspolitik? Welche Massnahmen wurden dadurch abgeblasen? Welchen Einfluss hat sie auf die Situation in den Schulen, auf Sprache und Kultur?