Minderjährige in Idomeni

Das späte und knappe Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs gegen Grichenland wegen Verletzung von Menschenrechten auf Idomeni ist wichtig, es kommt aber zu spät. Für die Betroffenen haben die späten Urteile des Gerichtshofs oft fatale Folgen – und sind nicht wiedergutzumachen. Von Prof. Dana Schmalz

Idomeni ist ein Ort und ein Name, der zum Symbol wurde. Im Frühjahr 2016 war das Flüchtlingslager von Idomeni für einige Wochen im Zentrum der europäischen Aufmerksamkeit. Nach den sukzessiven Grenzschließungen entlang der Balkanroute sammelten sich dort an der griechisch-nordmazedonischen Grenze Asylsuchende, die hofften, doch noch in andere europäische Länder zu gelangen. Zeitweise lebten 13.000 Menschen in dem Lager, ohne sanitäre Anlagen, ohne ausreichende Versorgung mit Nahrung, ohne angemessenen Schutz vor Witterung. Idomeni stellte eine humanitäre Notlage mitten in Europa dar und zwar eine, deren europäische Bedeutung niemand leugnen konnte.

Im Mai 2016 löste Griechenland das Lager auf und obwohl nur ein Bruchteil der Asylsuchenden in staatliche Unterkünfte kam, versiegte so allmählich die öffentliche Aufmerksamkeit für die Situation. Am vergangenen Donnerstag hat nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EMGR) Griechenland wegen einer Verletzung des Artikel 3 EMRK, dem Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, verurteilt, in Bezug auf fünf unbegleitete minderjährige Asylsuchende und unter anderem deren Aufenthalt in Idomeni. Das Urteil ist wichtig, weil es die Verantwortung von Staaten betont, Minderjährige aktiv zu schützen. Aber es kommt spät und vermeidet eine Auseinandersetzung mit weitreichenderen Fragen.

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Der Fall Sh.D. und andere

Antragsteller des Falls sind fünf junge Afghanen, geboren zwischen 1999 und 2001. Sie gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara und zur religiösen Minderheit der Ismaili, und flohen aus Afghanistan auf Grund von Bedrohung durch die Taliban, die ihren Angaben nach mehrere Familienmitglieder getötet hatten. Die Antragsteller kamen als unbegleitete Minderjährige nach Europa, zum Zeitpunkt der Vorfälle waren sie 14 bis 17 Jahre alt. In Griechenland wurden sie von der Polizei aufgegriffen, erhielten einen Ausweisungsbescheid und wurden aufgefordert, binnen eines Monats das Land zu verlassen. Alle fünf hatten Verwandte in Deutschland und versuchten, aus Griechenland weiter nach Norden zu reisen. Das gelang aber nicht, sie wurden verschiedentlich von der Polizei aufgegriffen und lebten in den darauffolgenden Monaten auf der Straße oder in verschiedenen Unterbringungszentren mit sehr schlechter Versorgung. Sie stellten Asylanträge, aber die Anhörung konnte mangels Übersetzer nicht stattfinden. Die Anwältin, welche sie nun auch im Verfahren vor dem EGMR vertritt, kümmerte sich wesentlich um die Lage der Minderjährigen. Wir erfahren durch diesen Fall von Schicksalen, die leider wohl zahlreiche unbegleitete minderjährige Asylsuchende in gewissem Ausmaß teilen, und wir erfahren davon dank des Engagements dieser Anwältin.

Die Beschwerde bezieht sich auf den Aufenthalt in Idomeni von vier der fünf Jugendlichen sowie gegen die Unterbringung in sogenanntem Schutzgewahrsam (προστατευτική φύλαξη) von drei der fünf. Bezüglich der Unterbringung in Schutzgewahrsam urteilte der EGMR, dass darin sowohl eine Verletzung des Artikel 3 als auch des Artikel 5 Abs. 1 EMRK, eine nicht gerechtfertigte Freiheitsentziehung, lag. Dieser Teil der Beschwerde richtete sich gegen direktes Handeln der griechischen Behörden. Bezüglich des Aufenthalts im Lager von Idomeni stellte der Gerichtshof eine Verletzung des Artikel 3 EMRK fest. Das scheint zunächst weniger klar, denn schließlich handelte es sich hier um ein nicht von staatlichen Stellen geschaffenes Lager, die Jugendlichen waren freiwillig dort und jederzeit frei zu gehen.

Wie also kann der Aufenthalt in Idomeni eine Verantwortung Griechenlands auslösen? Der EGMR hatte vor wenigen Monaten einen ähnlich gelagerten Fall zu entscheiden bezüglich eines minderjährigen unbegleiteten Asylsuchenden im Lager von Calais in Frankreich – auch das nicht von staatlichen Stellen geschaffen. Im Urteil Khan vom 28. Februar hielt der Gerichtshof fest, dass sich im Fall von Minderjährigen aus dem Artikel 3 EMRK nicht nur negative, sondern auch positive (Schutz-)Pflichten ergeben. Wie auch der Artikel 20 der UN-Kinderrechtskonvention unterstreicht, muss ein Staat unbegleiteten Minderjährigen ein sicheres Umfeld bereitstellen. Dabei spielt die Staatsangehörigkeit der Minderjährigen ebenso wenig eine Rolle wie der Grund, aus dem sie ohne familiäre Begleitung sind. Auf das Urteil Khan bezog sich der EGMR hier (para. 55, 60) und betonte die besondere Schutzbedürftigkeit von Minderjährigen – ob begleitet oder unbegleitet. Da griechische Behörden die fünf Jugendlichen im vorliegenden Fall bereits registriert hatten, also von ihrer Anwesenheit wussten, oblag es ihnen auch, sicherzustellen, dass eine geeignete Unterbringung zur Verfügung stand. Dass sie dem nicht nachkamen, verletzt das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung.

Drei Jahre zu spät

So weit so klar, doch zufrieden kann man beim Lesen dieses Urteils kaum sein. Da ist zuerst einmal die Dauer des Verfahrens: Der Antrag wurde im März 2016 gestellt, mehr als drei Jahre vergingen also bis zu diesem, wohlgemerkt, Kammerurteil. In der Zwischenzeit hat einer der minderjährigen Antragsteller mehrfach versucht, sich umzubringen. Die ebenfalls im März 2016 gestellten Anträge auf einstweilige Verfügungen hatte das Gericht abgelehnt. Nun, im Juni 2019, stellt der EGMR eine Verletzung des Artikel 3 EMRK fest und zwar in Bezug auf Umstände, die auch nach März 2016 noch andauerten. Kein Wort dazu, dass die Ablehnung der Anträge auf einstweilige Verfügungen wohl ein Fehler war.

Das erinnert an eine Bemerkung, die Generalanwalt Paolo Mengozzi 2017 in seinem Schlussantrag zu X, X machte (para. 166): „Frappiert hat mich, als ich bei der Bearbeitung der vorliegenden Rechtssache die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte durchgegangen bin, Folgendes: Bei den Feststellungen dieses Gerichts zu den stets schrecklichen und dramatischen Situationen, in denen die Haftung eines Vertragsstaats der EMRK wegen Verstoßes gegen seine positiven Verpflichtungen aus Art. 3 der EMRK bejaht wurde, handelt es sich regelmäßig um Feststellungen, die im Nachhinein getroffen wurden, wobei die betreffenden Behandlungen für die Opfer oftmals fatal waren. Dies hängt wahrscheinlich, zumindest teilweise, mit der Art des Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und damit zusammen, dass vor seiner Anrufung die innerstaatlichen Rechtsschutzmöglichkeiten ausgeschöpft sein müssen. Jedenfalls wurden in diesen Rechtssachen niemals vorläufige Maßnahmen getroffen, und der verursachte Schaden war leider nicht mehr wiedergutzumachen.“

Nicht nur eine griechische Angelegenheit 

Und dann ist da die Lage in der EU. Idomeni war nicht einfach ein Flüchtlingslager in Griechenland, sondern eine Begleiterscheinung des seit Jahren so schlecht funktionierenden Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Es entstand an der Grenze nach Norden zunächst, weil die Weiterwanderung für viele Asylsuchende nicht nur eine bessere Chance auf Anerkennung und Schutz versprach, sondern oftmals die einzige Möglichkeit war, unsäglichen Lebensbedingungen zu entkommen. Erst war Idomeni also Station auf einer weithin akzeptierten Weiterreise nach Mitteleuropa, welche teilweise ausglich, was seit langem als Fehler im Dublin-System bekannt war: Dass eine Regel, wonach der Staat der ersten Einreise für Asylverfahren und -gewährung zuständig ist, die südlichen Staaten übermäßig belastete. Mit der – auch vom damaligen CSU-Chef Seehofer begrüßten – „Schließung“ der Balkanroute endete dieser informelle Mechanismus und Idomeni wurde stattdessen zum Konzentrationspunkt der Not. In Idomeni wurde sichtbar, dass das, was teilweise als Lösung gepriesen wurde, keine Lösung war.

Idomeni war eine europäische Angelegenheit. Insofern ist interessant, dass die Beschwerde im Fall Sh.D. und andere sich nicht nur gegen Griechenland richtete, sondern auch gegen sechs weitere Staaten: Gegen Kroatien, Nordmazedonien, Österreich, Serbien, Slovenien und Ungarn. Das sind die Staaten auf der sogenannten Balkanroute, welche im Winter 2015 und Frühjahr 2016 die Grenzen für Asylsuchende schlossen oder die Einreise streng begrenzten. In Bezug auf diese wies die Kammer die Beschwerde als offensichtlich unbegründet ab. Das ist noch schlüssig für Kroatien, Österreich, Serbien, Slovenien und Ungarn – die dortigen Grenzschließungen mögen alle zur humanitären Notlage in Idomeni beigetragen haben, eine Verantwortlichkeit unter der EMRK ergibt sich daraus nicht unmittelbar. Anders sieht es jedoch mit Nordmazedonien aus und hier hätte man sich zumindest eine Diskussion im Urteil gewünscht. Den genauen Inhalt der Beschwerde erfährt man nicht, aber die Antragsteller haben jedenfalls versucht, über die Grenze zu gelangen und wurden daran von nordmazedonischen Beamten gehindert, weil sie Afghanen waren (para. 7). Über den teilweise sehr gewaltsamen Umgang nordmazedonischer Grenzbeamten mit Flüchtlingen wurde damals weithin berichtet. Doch unabhängig von der Form der Zurückweisung: Wenn in den Umständen, denen die Jugendlichen in Griechenland ausgesetzt waren, eine Verletzung des Artikel 3 EMRK liegt, dann hat diese Zurückweisung durch Nordmazedonien zumindest eine nähere Betrachtung verdient.

Asylum if you can

Eine Befassung mit Zurückweisungen an der Grenze kann auch ein Ansatzpunkt sein, um die gegenwärtige Lage des „asylum if you can“ in der EU aufzulösen. Dass in Griechenland die Lebensbedingungen von Asylsuchenden regelmäßig unzureichend sind, ist spätestens seit dem Urteil M.S.S. anerkannt, und Rücküberstellungen nach Griechenland wurden weitgehend ausgesetzt. Wer es also entgegen den dysfunktionalen Regeln und trotz aller Widrigkeiten in einen anderen EU-Staat schafft, erhält dort eine Unterbringung, ein Asylverfahren und allenfalls eine Aufnahme wie vom Unionsrecht vorgesehen. Wer es nicht schafft, bleibt den anerkannt unzureichenden Umständen ausgeliefert. Die Aussetzungen der Rücküberstellungen sind richtig, in der Summe ist aber ein intransparentes, ungerechtes System entstanden, das gerade besonders Schutzbedürftige wie unbegleitete Minderjährige, alte Menschen und Familien benachteiligt.

Um dieser Schieflage beizukommen, ist der EGMR nicht der primäre Akteur. Dennoch: Die Zurückweisungen an der Grenze sind ein Ansatzpunkt, um Widersprüche des gegenwärtigen Systems aufzudecken und anzugehen. Wenn auf Grundlage der EMRK in bestimmten Fällen Überstellungen nach Griechenland unzulässig sind, dann ist auch eine Zurückweisung an der Grenze unzulässig. Dass Nordmazedonien kein Mitgliedstaat der EU ist, spielt dafür keine Rolle, denn es ist Vertragsstaat der EMRK. Wohlgemerkt betraf der Fall 2011, ebenso wie viele weitere Fälle, in denen Rücküberstellungen untersagt wurden, Erwachsene. Dass bei begleiteten und unbegleiteten Minderjährigen besonders strenge Maßstäbe anzulegen sind, steht außer Zweifel. Die Schutzpflicht aus Artikel 3 EMRK beginnt unter anderem dort, wo effektive Kontrolle über die Personen besteht. Das ist bei Zurückweisungen an der Grenze regelmäßig der Fall (lesenswert dazu auch das Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque im Fall M.A. und andere gg. Litauen).

Dominosteine

Die hier entscheidende Kammer des EGMR hat ein richtiges und wichtiges Urteil gefällt, welches gemeinsam mit dem Urteil Khan Maßstäbe für den Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden setzt. Bezüglich der größeren Frage europäischer Verantwortungsteilung, für welche auch das Lager von Idomeni stand, hat die Kammer vermieden, sich zu äußern. Es ist nicht Aufgabe des Gerichtshofs, die Politik aus ihrer Starre zu locken. Aber zumindest die Verantwortung Nordmazedoniens hätte das Gericht näher prüfen sollen. Als entlang der Balkanroute ohne Rücksicht auf Asylanträge Schutzsuchende abgewiesen wurden, da fiel die Achtung des europäischen Rechts wie eine Reihe von Dominosteinen. Zurückweisungen ohne Ansehung des Einzelfalls sind für EU-Staaten europarechtswidrig (wie ausführlich auch in Bezug auf Deutschland diskutiert – vgl. hier und hier) und sie stellen für Vertragsstaaten der EMRK potentielle Verletzungen von Artikel 3 und von Artikel 4 des 4. Zusatzprotokolls der EMRK (Verbot der Kollektivausweisung) dar. Die sorgfältige Prüfung von Verstößen kann ein langsames, mühsames und lohnenswertes Wiederaufstellen dieser Steine sein. Ein weiterer Fall ist anhängig vor dem EGMR, der Push-backs an der griechisch-mazedonischen Grenze betrifft.