Saad Malik, MiGAZIN, Rassismus, Muslim, Islam
Saad Malik © privat, bearb. MiG

Artikel 1

Zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes: Augen zukneifen!

Zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes wünsche ich mir eine bundesdeutsche Referenzgeilheit auf Artikel 1. Denn wenn die Würde des Menschen unantastbar ist, dann muss jeder Mensch behandelt werden wie ein Mensch. Punkt.

Von Donnerstag, 23.05.2019, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 27.05.2019, 16:59 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Augen zukneifen. Dreimal aufsagen: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Augen auf. Siehe da… Ach nein, doch keine Überraschung. Sie ist wohl noch oder wieder verhandelbar. Den Kosmos mit Mantras anrufen und Sternschnuppen sehen, bringt anscheinend nichts. Mist! Was ist in Deutschland passiert?

Fangen wir bei der Erfolgsgeschichte an: Das Grundgesetz ist die unmittelbare, bundesdeutsche Lehre aus ihrer faschistischen Zeit. Als eine bewusste Reaktion steht Artikel 1 an erster Stelle; die Abänderung dieses Artikels selbst ist durch einen anderen Gesetzesteil verboten. Das ist schon mal beruhigend. Und erfreulich ist, dass das Grundgesetz als erfolgreiches Modell der Re-Demokratisierung eines faschistischen Staates gilt – Ergebnissicherung (wie es so schön im Projektmanagement heißt) und Referenz für die Zukunft also, falls hier oder anderswo wieder etwas gehörig schief läuft.

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Ein Gesetzeskörper allein hat natürlich nicht zur Demokratisierung geführt, denn er stand in Zusammenhang mit anderen erfolgsbringenden Faktoren. So ist beispielsweise die Erfolgsstory nur zu verstehen, wenn das deutsche Sozialstaatsgebot und der rasche wirtschaftliche Aufschwung und Wohlstand miterzählt wird. Letzteres hat die damalige Politik auch und zu erheblichem Maße durch die Arbeit von Gastarbeiter*innen geschafft. Die Erfolgsstory des post-faschistischen Deutschlands und damit auch des Grundgesetzes kann also nicht von migrantischer Arbeit getrennt werden. Würdigen wir das Grundgesetz und die deutsche Demokratie, so müssen wir den enormen Beitrag von Gastarbeiter*innen im gleichen Atemzug würdigen.

Zurück zum Artikel 1: Juristisch verhindert dieser Artikel die Legalisierung von Abbau oder gar  von Unwirksamkeit der Grund- bzw. Menschenrechte in Deutschland. Auch das sind direkte Lehren aus dem Dritten Reich, und eine (indirekte) Lehre u.a. aus der Kolonialzeit und der herabwürdigenden Behandlung von Sinti und Roma sowie slawischen Arbeitsmigrant*innen (schon) im Kaiserreich. Die erste Lehre ist gesichert, die zweite Lehre vielleicht eher mein Wunschdenken. Naja. Aber das Resultat ist doch super, oder? „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – daraus sollte sich für das postfaschistische Westdeutschland die neue, pluralistisch-demokratische Gesellschaft ableiten. Das Grundgesetz ist daher sowas wie ein Betriebssystem, nach dessen Algorithmus Staat(-skörper) und Gesellschaft funktionieren.

Ein konkretes Ergebnis dieser Kodierung war lange die Toleranzkultur Deutschlands. Bis in die frühen 2000er war die Duldung von Menschen und vermeintlicher Andersartigkeit überaus positiv konnotiert und sogar eine deutsche Tugend. Es wurde also toleriert, toleriert, toleriert – und sich selbst und der Welt gezeigt, wie weltoffen die Deutschen sind und wie wenig (also gar nicht) rassistisch und nationalsozialistisch. Die Entnazifizierung des Nachkriegsdeutschlands hat jedoch bekanntermaßen nicht die gesamte Gesellschaft erfasst, war nicht rigoros, nicht von gleicher Qualität in allen deutschen Regionen. Sie zielte auf die Pluralisierung und Demokratisierung des Landes hin, und dafür scheint die Toleranzkultur dann doch ein erste, sinnvolle Option gewesen zu sein. Worauf sie nicht direkt abzielte war jedoch der Kern des Problems: die Idee einer Weiß-(westlich-germanischen) Überlegenheit. Denn diese Idee gepaart mit Nationalismus brachte ein faschistisches, antidemokratisches System hervor. Nicht andersrum. Die nationalsozialistische Ideologie fiel schließlich nicht von einem Baum im Nirgendwo, sondern war die Fortführung, Weiterentwicklung und Zuspitzung bereits vorhandener, entmenschlichender Ideen und Praxen Westeuropas gen ihren restweltlichen Anderen.

Ich fasse zusammen: Die Entnazifizierung gekoppelt mit dem Grundgesetz sollte in der deutschen Gesellschaft der menschlichen Würde wieder ihren vollen und unteilbaren Wert wiedergeben, ohne eine tiefgreifenden psychosoziale und emotionale Hygiene einer ganzen Gesellschaft anzustreben, die diese jedoch bitter nötig hat(te). Es wurde also verhaltenstherapeutisch gearbeitet, und die Psychoanalyse wurde ausgelassen; aber gut, Schritt für Schritt. Kann ich ja verstehen. Nur… kam dieser Schritt?

Wir sind mit einem großen Sprung im Hier und Jetzt: Im Jahr 2018 sahen wir im öffentlich-rechtlichen Bildungsfernsehen Sendungen, die muslimisch markierte Menschen teils polemisch und meinungsschürend problematisiert haben. Wir erlebten Versammlungen und Ausschreitungen in Ost-Deutschland, die muslimisch markierte Menschen im Visier hatten. In diesem Zusammenhang lasen und hörten wir Erklärungen von Staatsbediensteten, die mehr Sorge um das Image eines postfaschistischen Deutschlands auf der Weltbühne hatten, als tatsächliche Sorge um die Betroffenen selbst. Wir sahen, wie hochgelobte „Vorzeige-Migranten“ ihr gesellschaftlicher Status  der Integrierten entzogen werden kann, sobald sie nicht mehr dem hiesigen Integrationsnarrativ entsprechen. Fast so wie ein Werbegesicht, das von einer Firma auf einmal fallen gelassen wird, weil sonst Image und Umsatz auf dem Spiel stehen könnten. Wir lasen (fassungslos) von einer polizeilichen Verwechslung und Inhaftierung eines muslimisch markierten Mannes, die kombiniert mit dem bewussten Ignorieren von polizeilichen Prüfungsabläufen letztlich seinen Leichnam hervorbrachten.

Das alles ist nur ein Ausschnitt, der für mich relevant  ist – als muslimisch markierter Mann, und in meiner antirassistischen Bildungsarbeit. Die 2018er Alltagsgeschichten zu Rassismus in Deutschland würden einen ganzen Ozean füllen. Zynisch also, wenn das Heimatministerium uns eröffnet, (bestimmte) Migration sei das zentrale Problem Deutschlands und der in Parteiform organisierte Rechtspopulismus werde durch eine stringente geführte (rechts-)konservative Migrationspolitik sich einfach erledigen. Schwierig finde ich auch, dass fast schon inflationäre Heranziehen von Artikel 3 Absatz 2 zur Gleichberechtigung von Mann* und Frau* sobald es irgendwie um Muslime, Migranten, Araber geht – ist ja eh alles dasselbe, nicht. Denn die (vermeintlich) muslimischen Männer in der Schule, in der Asylunterkunft, hier und da….sollen mit Artikel 3 Absatz 2 ermahnt und domestiziert werden, weil sie ja nicht viel von Gleichberechtigung verstünden. Michael, Paul und Christian stehend stolz und lächelnd daneben. Das zumindest gleichzeitige Heranziehen von Artikel 3 Absatz 3 (Diskriminierungsverbot) und erst recht Artikel 1 würde davon zeugen, dass die Grundgesetz-Rezitierenden wirklich fest im Wissen, Glauben und Handeln gemäß der Verfassung sind. Doch ich höre da kaum laute Stimmen in der Öffentlichkeit (geschweige denn in der Bildungsarbeit), die die Würde des Menschen als erste Referenz heranziehen. Zuletzt erinnerte und ermahnte uns lediglich die bayrische Fußball-Sphäre in absurder Manier, dass ja zunächst einmal im zwischenmenschlichen Umgang miteinander Artikel 1 gelte.

Zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes lasse ich also meine Augen auf, und wünsche mir eine bundesdeutsche Referenzgeilheit auf Artikel 1. Denn wenn die Würde des Menschen unantastbar ist, dann leite ich daraus ab, dass ich jeden Menschen als das wahrnehmen und behandeln muss, was dieser ist: ein Mensch. Ich akzeptiere Dich also als Mensch. Punkt. Und was danach kommt – Dein Glaube, Deine Begehren, Deine Aussagen oder Dein Lieblingseisgeschmack – das kann ich alles tolerieren lernen. Was ich aber nicht kann, ist, Dein Menschsein lediglich zu dulden. Innerlich muss ich Deine mir ebenbürtige Menschlichkeit ohne Wenn und Aber akzeptieren – damit in meinem Denken, Fühlen und Handeln Deine Menschenwürde nicht relativierbar ist.

In diesem Sinne: Lasst uns Artikel 1 auf Behördenwände sprühen, auf der Straße als Schutzschild tragen, in Liebestränken gekocht auf Volksfesten verteilen, mit (stumpfen) Pfeilen in die öffentlich-rechtlichen Anstalten schießen, auf unseren Zungen tätowieren um unsere Umwelt zu beschallen. Wenn das alles nicht funktioniert, probiere ich es 2020 mit einer Voodoo-Sitzung. Aktuell Meinung

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  1. Ute Plass sagt:

    Lieber Saad Malik,
    befürchte, dass Sie 2020 um die Voodoo-Sitzung nicht herum kommen dürften. ;-)
    „Die Kabarettistin Idil Baydar findet die deutsche Verfassung großartig. Noch schöner wäre es für Baydar allerdings, wenn die Verfassungsrechte auch durchgesetzt würden.“
    https://www.deutschlandfunkkultur.de/idil-baydar-ueber-das-grundgesetz-wir-scheitern-im-moment.1008.de.html?dram:article_id=449445