"Sie sollen wissen, wer sie sind"

Ein Lehrer in Hessen erteilt jüdischen Religionsunterricht

Über die Einführung eines Islamunterrichts wird seit Jahren debattiert. Wenig Aufmerksamkeit findet der jüdische Religionsunterricht. Dabei stiftet er für jüdische Schüler Identität – und die wird im Schulalltag immer wieder herausgefordert.

Mark Krasnov (30) ist ein selten anzutreffender Pädagoge. Er ist einer von genau vier Lehrern mit zweitem Staatsexamen in Deutschland, die jüdischen Religionsunterricht erteilen. Zwei weitere unterrichteten ebenfalls an einer staatlichen Schule, in Karlsruhe und Hamburg, ein dritter an einer jüdischen Privatschule, berichtet er. Jüdische Kinder erhalten Religionsunterricht ansonsten in Kursen, die die jüdischen Gemeinden nachmittags in ihren Räumen oder an einer Schule organisieren.

„Der jüdische Religionsunterricht ist enorm wichtig“, sagt Krasnov. Viele Schüler brächten keine religiöse Erziehung von zu Hause mit. Ihre Eltern seien in der atheistischen Sowjetunion ohne Religion aufgewachsen und nach dem Fall der Mauer nach Deutschland gekommen. Über den Wissenserwerb hinaus sei der Religionsunterricht für die jüdischen Schüler identitätsstiftend. Denn sie setzten sich mit ihrer Herkunft auseinander. „Ich will den Schülern mit auf den Weg geben, wer sie sind“, sagt Krasnov. Dieses Bewusstsein brauchen sie auch im Schulalltag.

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„Wie war das in deiner Familie?“

Jüdische Schüler würden im Gegensatz zu anderen immer wieder auf ihre Identität angesprochen, erklärt Krasnov. Wenn in einer Schulstunde die Rede auf das Judentum komme, fragten Lehrer häufig den einzelnen jüdischen Schüler „als Experten“ aus. Beim Thema Holocaust werde auch schon mal gefragt: „Wie war das in deiner Familie?“. In der Regel gäben die Schüler dann Auskunft, aber sie fühlten sich nicht wohl dabei, sagt Krasnov. Auf dem Schulhof könne es auch konfrontativ zugehen.

Wenn sich der Nahost-Konflikt zuspitze, würden jüdische Schüler auch mal an den Pranger gestellt. Mit Worten wie: „Was macht ihr denn da schon wieder in Israel?“ würden Juden mit Israeli gleichgesetzt. Oder es kämen Vorwürfe wie: „Ihr habt Land besetzt, das euch nicht gehört!“ Von dem biblischen Land Israel, aus dem die Römer im ersten Jahrhundert die Juden vertrieben und es von Judäa in Palästina umbenannten, wollten die Gegner nichts wissen. „Die Auseinandersetzungen werden die jüdischen Schüler ihr Leben lang begleiten“, sagt Krasnov. „Sie sollen sich nicht verstecken, sondern mit ihrem Wissen geradestehen und sachlich zur Aufklärung beitragen.“

Kinder und Jugendliche aller Jahrgangsstufen

40 Schüler unterrichtet Mark Krasnov in jüdischer Religion. Die Kinder und Jugendlichen aller Jahrgangsstufen kommen aus verschiedenen Schulen Wiesbadens an der Diltheyschule zusammen. Krasnov unterrichtet die Schüler in drei Altersgruppen, auch eine evangelische Schülerin ist in diesem Schuljahr aus Interesse dabei. Konkret geht es um die Bibel und den Gottesdienst, das Lesen auf Hebräisch, die Feiertage, religiöse Tradition, Ethik und Verantwortung in der Gesellschaft. Zudem gibt der Lehrer einen Hebräischkurs, den nur nichtjüdische Schüler des Gymnasiums besuchen. Die andere Hälfte seiner Unterrichtsstunden erteilt Krasnov Spanisch.

Der Leiter der Diltheyschule, Jörg Schulze, lobt Krasnov: „Er steuert einen weiten Blick bei.“ Die Zusammenarbeit mit den christlichen Religionslehrern klappe hervorragend, bei einem Projekttag erkundeten die Schüler die Synagoge, und der jüdische Theologe beteilige sich am ökumenischen Adventsgottesdienst. Der Höhepunkt dieses Gottesdienstes sei für ihn die Lesung des biblischen Textes in der hebräischen Ursprache durch Krasnov gewesen, sagt Schulze: „Das war ergreifend.“

Zentralrat betont Bedeutung des Religionsunterrichts

Der Zentralrat der Juden in Deutschland betont, der jüdische Religionsunterricht habe eine sehr große Bedeutung für die jüdische Gemeinschaft. Das ordentliche Lehrfach stelle sicher, dass die Schüler eine Note erhielten und den Unterricht nicht als freiwillige zusätzliche Belastung wahrnähmen. Wo es keine staatlichen Lehrkräfte gebe, würden Lehrkräfte der jüdischen Gemeinden per Gestellungsvertrag an Schulen „ausgeliehen“. Der Unterricht vermittele über das Judentum Wissen, das Eltern und Großeltern, die aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert sind, aufgrund des dortigen Verbots der Religionsausübung nicht hätten.

Die Herkunft der meisten Mitglieder jüdischer Gemeinden aus der ehemaligen Sowjetunion richte aber auch Barrieren für den Religionsunterricht auf, berichtet der Direktor des Landesverbands der jüdischen Gemeinden in Hessen, Daniel Neumann. Zum einen müssten religionslose Eltern von dessen Bedeutung überzeugt werden. Zum anderen müsse Familien mit der früheren Erfahrung von Repression die Angst genommen werden, als Jude identifiziert zu werden. Insbesondere in kleinen Gemeinden hätten Einwanderer Angst, dies könne zu Diskriminierung führen. (epd/mig)