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Schüler in der Mensa (Symbolfoto) © USDAgov @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

Warum nur Englisch?

Wir brauchen eine Reform im Sprachunterricht für Schulkinder

Wäre es nicht sinnvoller, in Grundschulen „Migrantensprachen“ wie Arabisch, Türkisch oder Kurdisch anzubieten statt Englisch? Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu über die Englischunterricht-Debatte an nordrhein-westfälischen Grundschulen.

Von Donnerstag, 14.03.2019, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 19.03.2019, 17:13 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

In Nordrhein-Westfalen läuft derzeit eine Debatte darüber, welche Fremdsprachen Kinder in der Grundschule lernen sollen. Der Vorsitzende des Landesintegrationsrats Tayfun Keltek hat vor Kurzem gefordert, mehr Türkisch, Polnisch und Russisch statt verpflichtendem Englischunterricht anzubieten. Das soll eine Wertschätzung für Migrantensprachen zeigen und wirft die berechtigte Frage auf, warum das Bildungsziel Mehrsprachigkeit in der Grundschule nur auf Englisch begrenzt ist. In den Englischunterricht wird die Erwartung gesetzt, zukünftige mehrsprachige Weltbürger zu erziehen. Die vermittelten Sprachkenntnisse sollen als Grundlage für die weiterführende Schule dienen.

Die großen Migrantensprachen Türkisch, Polnisch, Russisch – aber auch Kurdisch oder Arabisch – vom Nachmittagsangebot der Schulen in den Regelunterricht zu holen, entspricht ihrem Stellenwert in der Lebenswelt der Kinder. Englisch hat für die meisten Kinder in der Grundschule zunächst einmal wenig mit ihrem unmittelbaren Lebensalltag zu tun. Dafür spielen Migrantensprachen oft eine viel wichtigere Rolle, nicht nur für Kinder mit Migrationshintergrund. In der Schule finden sie aber meistens nur in der Nische statt.

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Meine eigenen Kinder haben aus der Grundschule wenig aus dem Englischunterricht mitgenommen. Englisch als Kommunikationsmittel haben sie überhaupt erst in der Sekundarstufe lernen können. Die Tatsache, dass sie bereits eine andere Sprache neben Deutsch beherrschten, wurde zu keinem Zeitpunkt anerkannt oder gar berücksichtigt. Für mehrsprachige Kinder hätte die Einbindung ihrer Familiensprachen auf vielen Ebenen eine positive Wirkung: Sie erfahren dadurch Anerkennung und Wertschätzung für ihre bereits mitgebrachten sprachlichen Kompetenzen. Sie können an sprachlichem Vorwissen anknüpfen und sich in ihren Familiensprachen weiterentwickeln.

In westdeutschen Großstädten ist auch für Mitschüler ohne Migrationshintergrund der Umgang mit Türkisch, Russisch, Arabisch und so weiter alltägliche Realität. Sie wachsen ganz selbstverständlich mit den unterschiedlichen Sprachen ihrer Spiel- und Klassenkameraden auf. Fragen sie einmal in einer Grundschulklasse nach. Die Kinder werden ihnen stolz die vielen Sprachen nennen, aus denen sie Wörter und Sätze aufschnappen.

Auch für neuzugewanderte Schüler wäre es eine große Unterstützung, in der Grundschule ihre Familiensprache auf hohem Niveau weiterführen zu können und dafür Anerkennung zu erfahren. Ein solcher Unterricht fördert ein selbstverständliches, mehrsprachiges soziales Miteinander. Er vermittelt sprachliche Kompetenzen, die beim Lernen weiterer Sprachen äußert hilfreich sein können.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Englischsprachigen Unterricht in der Grundschule halte ich nicht grundsätzlich für falsch. Aber die allgemein damit verbundenen Ziele sind das Sprachbewusstsein zu stärken, interkulturelles Lernen zu fördern sowie die Fähigkeit, Sprachvergleiche vorzunehmen. All das kann man auch mit Unterricht in Migrantensprachen erreichen.

Kinder sind sehr wohl dazu in der Lage, mit mehreren Sprachen gleichzeitig umzugehen. Sie können neue Sprachen lernen und gleichzeitig in der Familie oder der Umgebung erlernte Sprachenkenntnisse vertiefen. Dafür gibt es eindeutige Belege in der Spracherwerbsförderung. Um dies zu fördern muss die Mehrsprachigkeit der Kinder in den Unterricht integriert werden und es braucht ein sprachsensibler Unterricht in allen Fächern, der das Sprachenlernen mit dem Fachunterricht verbindet. Es ist Zeit, den Sprachunterricht in der Migrationsgesellschaft Deutschland grundsätzlich auf Mehrsprachigkeit auszurichten. Wir müssen Umdenken lernen.

Die Forderung Türkisch, Russisch oder Polnisch verpflichtend für alle zu machen, geht allerdings an der gesellschaftlichen Realität vorbei. Sie wird als Provokation wahrgenommen. Daran zeigt sich das sehr unterschiedliche Prestige oder sagen wir ‚Image‘ dieser Sprachen gegenüber Englisch. Eltern haben Sorge, dass die Zukunftschancen ihrer Kinder durch die Verpflichtung, diese Sprachen zu lernen, negativ beeinflusst werden könnten.

Die Welle der Empörung bei dieser Debatte macht sichtbar, dass eben nicht wertfrei mit Sprachen umgegangen wird. Von Parallelgesellschaften ist gar die Rede, wenn Kinder neben Deutsch ihre weitere Familiensprache fachlich angemessen und regulär im Stundenplan verankert unterrichtet bekommen. Als hätte irgend jemand deswegen Deutsch als Bildungsziel infrage gestellt. Natürlich nicht.

Es ist ein Armutszeugnis für unser Bildungsverständnis, dass wir bei der Vermittlung von Sprachen bereits in der Grundschule Argumente der wirtschaftlichen Verwertbarkeit in den Mittelpunkt stellen. Englisch wird bevorzugt, weil es international nützlich ist. Auch Lehrkräfte raten dazu, übrigens auch vor dem Hintergrund, dass ihnen selbst Englisch näher ist als die Migrantensprachen und sie sich damit sicherer fühlen. Dies alles schürt die Bedenken gegenüber Migrantensprachen, wenn es um die schulische und arbeitsmarktbezogene Zukunft der Kinder geht. Selbst wenn der Sprachunterricht frei gewählt werden kann, werden sich daher auch Eltern mit Migrationshintergrund mehrheitlich für Englisch entscheiden. Abgesehen davon haben wir es über Jahrzehnte versäumt, die dafür notwendigen Lehrkräfte auszubilden. Lehrkräfte, die eben nicht nur am Nachmittag in AGs Herkunftssprachenunterricht anbieten, sondern grundlegender Bestandteil des Kollegiums sind und neben Türkisch dann auch Sachkunde oder Musik für alle unterrichten.

In der Sprachenpolitik der EU ist die Rede davon, dass jeder EU-Bürger mindestens dreisprachig sein soll. Kinder aus Familien mit Migrationserfahrung sind, wenn sie in die Schule kommen, häufig bereits mindestens zweisprachig. Sie werden aber lediglich daran gemessen, wie gut sie in Deutsch sind und inwiefern sie sich erfolgreich eine prestigereiche und wirtschaftlich international verwertbare Sprache wie Englisch aneignen. Das ist nicht rational und auch nicht gerecht. (epd/mig) Leitartikel Meinung

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  1. Inge Bartke-Anders sagt:

    Im Bereich der freien Schulen gibt es bereits gute Erfahrungen mit Unterricht in Muttersprachen der Schüler , sog. „Sprachbad“ z.B. in der Mannheimer Waldorfschule ( Lit : „Schule ist bunt“ lesenswert ! ), damit erreicht eine Schule auch direkt die neuen Eltern. Und unter Geflüchteten gibt es LehrerIInnen , „man“ muss sie nur wertschätzen und zulassen.
    Im Zeichen der „Globalisierung“ kann es nur von Nutzen sein, sich – auch vorausblickend für das Kind – andere Sprachen anzueignen ( evtl. wird ja bald Chinesisch empfohlen…).

  2. Ute Plass sagt:

    Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu stößt hier eine wichtig Debatte an.
    Sie bedauert zu recht, dass es ein Armutszeugnis für unser Bildungsverständnis ist, wenn bei der Vermittlung von Sprachen bereits in der Grundschule Argumente der wirtschaftlichen Verwertbarkeit in den Mittelpunkt gestellt werden.

  3. A.F:B. sagt:

    Warum lernen die Kinder bereits in der Grundstufe eine Fremdsprache? Das gab es zu der Zeit, als ich die Grundschule besuchte, noch nicht. Den Unterricht in Migrantensprachen sollte man dann lieber als muttersprachlichen Unterricht ansehen.
    Wenn Arabischunterricht angeboten werden soll, stellt sich die Frage: welches Arabisch? Ist es Hocharabisch, dann ist es nicht die Sprache, die in den Migrantenfamilien gesprochen wird, denn dort wird syrischer, irakischer oder maghribinischer Dialekt gesprochen und nicht Hocharabisch. Kinder, die maghribinischen Dialekt lernen, können damit in den östlichen arabischen Ländern und in der Kommunikation mit Migranten aus diesen Ländern nichts anfangen. Das ist so, als lernte ein Ausländer Schwitzerdüütsch und ginge dann nach Hamburg oder Berlin, um sich damit zu verständigen. Und lernen sie Hocharabisch, dann lernen sie damit keine Migrantensprache im Sinne einer im unmittelbaren Lebensalltag gebrauchten Sprache. Aber vielleicht würde das ihre Eltern dazu motivieren, sich wieder mit ihrer Hochsprache zu beschäftigen, die sie vor ihrer Auswanderung früher einmal in der Schule gelernt haben, im täglichen Leben jedoch kaum gebrauchen. Soweit ich beobachten konnte, sprechen die türkischen Kinder untereinander Türkisch, die arabischen jedoch Deutsch, was mit den unterschiedlichen arabischen Dialekten zu tun haben mag, die in ihren Elternhäusern gesprochen werden, so daß Deutsch für sie die gemeinsame Sprache ist.
    Allerdings hat das Hocharabische auch für nichtarabische Muslime einen hohen Stellenwert, da es die Sprache ihrer Religion ist, in der sie ihre Gebete sprechen, in der die Literatur verfaßt ist und die in Nachrichtensendungen und Zeitungen gebraucht wird.