Rationalisierung eines Unbehagens

Ohne Mimik keine Lehre? Vom Schleierverbot an Universitäten

Die Uni Kiel hat ein Schleier-Verbot erlassen. Begründung: Zur Kommunikation in Forschung und Lehre gehörten auch Mimik und Gestik. Ist das wirklich so? Oder geht es hier doch nur um reine Rationalisierung eines Unbehagens über die ungewohnte Verschleierung?

Gesichtsschleier dürfen in Lehrveranstaltungen nicht getragen werden – genauer gesagt in „Lehrveranstaltungen, Prüfungen und Gesprächen, die sich auf Studium, Lehre und Beratung im weitesten Sinne beziehen“. So das Präsidium der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) in einer Richtlinie vom 29. Januar 2019. Dass Gesichtsschleier verboten werden (sollen), ist kein Einzelfall – ein grundsätzliches Verbot der Gesichtsverhüllung existiert beispielsweise für Beamtenschaft und Militär sowie im Straßenverkehr, und soll auch für Gerichtsverhandlungen beschlossen werden. In Schleswig-Holstein hat Bildungsministerin Karin Prien (CDU) das Verbot der CAU als Anlass genommen, ein Verbot von Gesichtsschleiern in Schulen anzukündigen.

Wieso gerade ein Verbot von Gesichtsschleiern? In Zeiten religiöser Intoleranz ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass die Kleidung (einer Minderheit) von muslimischen Frauen starker Regulierung unterworfen wird. Andererseits muss sich derartige Regulierung in Deutschland an der Religionsfreiheit (Art. 4 I, II GG) messen lassen. Und das Bundesverfassungsgericht hat zumindest für Kopftücher klargestellt, dass für ein Verbot relativ strenge Anforderungen gelten. So differenzieren dann auch einige politische Stellungnahmen zum Verbot von Gesichtsschleiern an der CAU, etwa Serpil Midyatli (SPD): „Kopftuch ja, Vollverschleierung nein“.

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Vieldeutiger Feminismus

Ein stets wiederkehrendes Argument in Diskussionen um Kopftuch und Gesichtsschleier ist die Symbolkraft dieser Kleidungsstücke nicht (nur) als Ausdruck des religiösen Glaubens, sondern als „Zeichen der Unterdrückung von Frauen“, wie es Christopher Vogt (FDP) ausdrückt: „Wir wollen bei der Gleichberechtigung der Geschlechter Fort- und keine Rückschritte“.

Doch von postkolonial geprägten Feminist*innen lernen wir, dass Fortschrittsnarrative, auch feministische Fortschrittsnarrative, oft eine Schattenseite haben: Ihre vermeintliche Linearität verleitet dazu, komplexe gesellschaftliche (und zwischengesellschaftliche) Strukturen zu vereinfachen und dadurch bestimmte Formen der Unterdrückung auszublenden. So mutet es im Falle religiöser Kleidung zumindest recht seltsam an, wenn die angebliche Förderung von Frauen ihren Ausdruck in einem Verbot findet, das ihnen den Zugang zur Universität versperrt, sofern sie ihre Kleidung nicht den Normen der Mehrheit innerhalb Deutschlands anpassen. Ist die daraus resultierende zwingende Wahl zwischen Bildung und Religion wirklich fortschrittlich?

Die deutsche Verfassungsjudikatur sieht religiöse Bekleidung differenzierter. Zwar lässt sich die Gleichberechtigung von Frauen im Lichte von Art. 3 II 2 GG verfassungsrechtlich fassen, doch hat das Bundesverfassungsgericht schon in seiner ersten Kopftuchentscheidung festgestellt, dass „die Deutung des Kopftuchs nicht auf ein Zeichen gesellschaftlicher Unterdrückung der Frau verkürzt werden darf“ (Rz. 52). In der folgenden Kopftuchentscheidung hat das Gericht weiter ausgeführt, dass ein Kopftuchverbot gar eine indirekte Diskriminierung von Frauen darstellen kann.

Das Bundesverfassungsgericht stellt also stärker auf die Autonomie muslimischer Frauen ab, die gerade in der Kleidungswahl ihren Ausdruck finden kann. Diese Argumentation lässt sich meiner Ansicht nach von Kopftüchern auf Gesichtsschleier übertragen. Auch dafür gibt es im Übrigen einen Präzedenzfall. In der sonst höchst zweifelhaften Entscheidung S.A.S. v. France, die ein Verbot von Gesichtsschleiern im öffentlichen Raum betraf, stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (in impliziter Abweichung von seiner früheren Rechtsprechung zum Kopftuch) fest: „a State Party cannot invoke gender equality in order to ban a practice that is defended by women“ (Rz. 119).

Sinn und Unsinn gesichtsbezogener Kommunikation

Im Fall S.A.S. v. France sah der Gerichtshof dennoch keine Verletzung der Religionsfreiheit, da das Verbot der Gesichtsverschleierung gerechtfertigt sei, um ein gesellschaftliches Miteinander („living together“) auf der Basis zwischenmenschlicher Interaktion zu ermöglichen (Rz. 153; anders inzwischen der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen). Eine ähnliche Argumentation, zugeschnitten auf den konkreten Kontext universitärer Lehre, findet sich nun auch im Fall des Verbots an der CAU. So geht es der Richtlinie des Präsidiums zufolge darum, die „Mindestvoraussetzungen für die zur Erfüllung universitärer Aufgaben erforderliche Kommunikation in Forschung, Lehre und Verwaltung“ sicherzustellen. Dazu gehöre „die offene Kommunikation, welche nicht nur auf dem gesprochenen Wort, sondern auch auf Mimik und Gestik beruht“.

Dies ist also das Argument, an dem alles hängt – dass Gesichtsschleier die Mimik verdecken, differenziert sie vom Kopftuch und soll im Namen der Kommunikation ein Verbot rechtfertigen können. Betrachten wir es zunächst verfassungsrechtlich, denn die Zulässigkeit eines Verbots auf Ebene der Europäischen Menschenrechtskonvention schließt einen weiterreichenden Schutz der Religionsfreiheit durch die Verfassung nicht aus. Im Falle eines allgemeinen Verbots von Gesichtsschleiern in öffentlichen Räumen ist schon unklar, welches Rechtsgut von Verfassungsrang zur Rechtfertigung angeführt werden könnte. Im universitären Kontext lässt sich zumindest vordergründig die Freiheit von Forschung und Lehre (Art. 5 III GG) nennen, für die diskutierte Reform des Schulgesetzes der Schutz des Schulwesens (Art. 7 I GG).

Doch selbst wenn sich derartige Zwecke für die Rechtfertigung eines Eingriffs in die Religionsfreiheit finden lassen, müssen Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit eines Verbots dargelegt werden – und dabei drängt sich sofort die Frage auf, wieso gerade dem Gesicht eine so zentrale Rolle in der Lehre zukommen soll. Sicher, Mimik kann einen bedeutenden Teil der Kommunikation ausmachen. Sie als „Mindestvoraussetzung“ für die Kommunikation im Rahmen der Lehre zu verstehen, impliziert indes ein extrem verengtes Kommunikationsverständnis. Die Muslima, deren Gesichtsschleier als Anlass für das Verbot an der CAU genommen wurde, weist auf die wenig sichtbare Mimik von Student*innen in der letzten Reihe einer Vorlesung hin, sowie darauf, dass zu Student*innen an Fernuniversitäten kaum direkter Kontakt besteht. Man könnte außerdem an die (auch an der CAU) zunehmend beliebten Massive Open Online Courses denken: Ist das mangels gesichtsbezogener Kommunikation keine „echte“ Lehre? Was ist überhaupt mit geschriebenen Formen der Kommunikation wie Lehrbüchern? Wäre dieser Blogbeitrag zur Lehre ungeeignet, wenn ich kein Foto für die Veröffentlichung bereitgestellt hätte?

Bemerkenswert finde ich auch die Beschränkung menschlicher Kommunikation auf ein Verständnis, das bestimmte körperliche und geistige Eigenschaften als Standard normiert. Blinde Professor*innen oder Lehrer*innen scheinen für das Präsidium der CAU schlicht nicht denkbar zu sein, da ihnen die „Mindestvoraussetzung“ für gesichtsbezogene Kommunikation als Teil der Lehre abzusprechen wäre. Dass Mimik und Gestik für manche autistischen Menschen eine andere Bedeutung hat als für neurotypische Menschen scheint ebenfalls keinerlei Beachtung zu finden.

Unbehagen ist keine Rechtfertigung

Eine Sprecherin des Bildungsministeriums Schleswig-Holstein brachte die zugrunde liegende Denkweise bei der Rechtfertigung des möglichen Verbots von Gesichtsschleiern in Schulen auf den Punkt: „Lehrkräfte und Lernende sollen bei schulischen Veranstaltungen ihrer Gesprächspartnerin und ihrem Gesprächspartner ins Gesicht schauen können“. Der Blick ins Gesicht als Zweck an sich, ohne weitere Begründung. Mir scheint die übersteigerte Bedeutung, die dem Gesicht als Teil von Kommunikation und Lehre zugeschrieben wird, reine Rationalisierung eines Unbehagens über die ungewohnte Verschleierung zu sein. Doch ein solches Unbehagen kann kein Verbot rechtfertigen – vielmehr sollte es Anlass dazu bieten, die rassistischen und sexistischen Strukturen zu hinterfragen, die dieses Gefühl hervorrufen.