Heimat-Debatte

Wer ist „wir“ – und wer gehört auch dazu?

Wie entsteht ein Gefühl von Heimat? Und was genau ist damit gemeint? Ein Gastbeitrag von Petra Bendel und Hacı Halil Uslucan, den beiden Stellvertretenden Vorsitzenden des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR).

Überkommen oder nicht: Das Thema „Heimat“ trifft offenkundig einen Nerv. Kaum eine Partei in den letzten Wahlkämpfen, die den Begriff der „Heimat“ oder des „Zuhauses“ nicht im Slogan geführt hätte – wobei „Heimat“ mal die idyllische Landschaft, mal den Trachtenjanker ins Bild nahm. Kaum eine Lebensmittelwerbung, die nicht die regionale Heimat der Produkte bewirbt. Heimat, ob lokal, regional oder national verstanden, lässt sich wunderbar vermarkten.

Wie entsteht ein Gefühl von Heimat? Zwar ist jeder Mensch irgendwo geboren und aufgewachsen, hat sich in einer bestimmten Gemeinschaft entwickelt – aber dieser Ort und die Menschen, die die Entwicklung des Selbst prägen, können wechseln. In einer globalen Welt können dies auch viele verschiedene Orte, viele verschiedene Menschen sein. Heimat, wie nicht zuletzt die #MeTwo-Debatte deutlich an die Oberfläche gehoben hat, gibt es eben auch im Plural. Umgekehrt empfinden nicht alle Menschen den Ort, an dem sie geboren, oder das Land, in dem sie aufgewachsen sind, zwangsläufig als ihre Heimat. „Ubi bene, ibi patria“: „Wo es mir gut geht, da ist meine Heimat“, ist eine angesichts einer immer mobiler, aber auch immer fragiler werdenden Welt eine sinnvolle Überlebensstrategie.

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Prozess Beheimatung

Die individuelle Identitätsbildung ist – wie die kollektive – ein Prozess. In diesem Sinne ist auch „Beheimatung“ ein Prozess. Zu ihm gehört, dass das Individuum Werte und Ziele mit der Gesellschaft teilen kann. Die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus hat in ihrem Buch „Der territoriale Mensch“ (1972) herausgearbeitet, dass Heimat vieles zugleich sein kann: ein „Lebensraum, in dem die Bedürfnisse nach Identität (dem Sich-Erkennen, Gekannt- und Anerkanntwerden), nach materieller und emotionaler Sicherheit, nach Aktivität und Stimulation erfüllt werden, ein Territorium, das sich die Menschen aktiv aneignen und gestalten, das sie zur Heimat machen und in dem sie sich einrichten können.“ Heimat ist für Greverus also auch ein Handlungs- und sozialer Zusammenhang. Die Psychologin Beate Mitzscherlich hat hervorgehoben, dass Heimat der lebenslange Prozess des Sich-Verbindens mit Orten, Menschen, Gruppen, geistigen und kulturellen Bezugssystemen ist.

Was heißt das für die Ausgestaltung des Heimatbegriffes? Das heimatpolitische Konzept des Bundesministeriums betont: „Heimatpolitik ist als gemeinsame Gestaltungsaufgabe zu verstehen. Der tiefgreifende Wandel unserer Zeit bewegt viele Menschen in ihrem Lebensalltag […]. Heimat heißt auch Zukunft und Verständnis, gesellschaftliche Veränderungen anzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Denn Heimat war und ist immer auch ein Raum sozialer Beziehungen, Ausgleich und Einbindung – Integration. So verstanden ist Heimat Lebensmöglichkeit und nicht nur Herkunftsnachweis. Heimat ist nicht Kulisse, sondern Element aktiver Auseinandersetzung.“ Und weiter heißt es: „Die neue Heimatabteilung wird sich dem entsprechend […] mit der Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Identifikation mit unserem Land und der Integration beschäftigen. Sie geht auf das Bedürfnis nach Gemeinschaft, Sicherheit im Alltag, kultureller Identität, Stabilität und einem guten Miteinander ein.“ Dies ist umso wichtiger in einer Situation, in der viele Menschen ihre Heimat, ihr Zuhause – und, wie Hannah Arendt es formuliert hat, die Vertrautheit des Alltags und ihre Sprache verloren haben.

Ermöglichungsstrategie

Das Gegenteil einer solchen „Ermöglichungsstrategie“ (Klaus Bade) wäre Ausgrenzung, etwa durch den Versuch, kollektiv und verbindlich zu definieren, wer „zu uns“ gehören kann. Dies wäre eine Gegenüberstellung von „wir“ und „die“, ein in der soziologischen Forschung als „othering“ bezeichnetes Ausgrenzen, das genau die Integration erschwert, die zugleich eingefordert wird. Will die Politik Zugehörigkeit ermöglichen, sollte sie das Risiko vermeiden, über die Bindung an Recht und Gesetz hinaus starre kulturelle Regeln für eine Gemeinschaft festzulegen, welche diejenigen ausgrenzen, die nicht passgenau sind. „Wenn Gemeinschaften vielfältiger werden, sind die Fragen der Identität und der Identifikation mit unserem Land umso wichtiger“, konstatiert berechtigt das Ministerium. Dann wird es allerdings etwas problematisch: „Die Antworten darauf müssen im Kernbereich des Zusammenlebens normativ verbindlich sein. Zu den unverrückbaren Werten zählen nicht nur die Grundrechte als Basis unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, sondern auch die Achtung und Wertschätzung der hier tradierten Lebensweise.“

Denn was genau ist damit gemeint? Dass, wer hier lebt, die Grundrechte respektieren und sich an die freiheitlich-demokratische Grundordnung halten muss, ist so richtig wie vielfach wiederholt und auch kaum bestritten. Unscharf bleibt aber, was unter der „hier tradierten Lebensweise“ zu verstehen ist, auf welche in Deutschland oder Europa tradierte Lebensweisen auf welchen Ebenen, in welchen Regionen und auf welche Zeitpunkte sich diese Traditionen beziehen. Mithin: welche Traditionen denn zu unverrückbaren Werten und normativer Verbindlichkeit in Stein gemeißelt werden sollen.

Irrtum Homogenität

Hier gilt es drei Punkte zu bedenken: Erstens ist nicht alles, das lange üblich ist, auch per se erhaltenswert: Wir haben in jeder Gesellschaft eine Vielzahl von Traditionen, Überlieferungen, von denen wir wünschten, dass es sie nicht gäbe – beispielsweise Gewalt gegen Frauen und Kinder, die zwar andauert, aber inzwischen sozial geächtet ist.

Zweitens sind moderne Gesellschaften wie die bundesdeutsche per definitionem gekennzeichnet durch eine Vielfalt der Lebensgeschichten und der -stile einerseits, einen Wandel von Lebensweisen innerhalb der Generationen andererseits. Das Konzept der tradierten Lebensweise legt dagegen nahe, dass der Zusammenhalt unserer Gesellschaft auf einer irgendwie gearteten Homogenität basiert – eine Interpretation, die im Gegensatz zu jüngeren sozialwissenschaftlichen Beschreibungen gesellschaftlichen Zusammenlebens steht. Diesen gemein ist, dass sie in den Regeln des Rechts und den Verfahren der Demokratie die Grundlage des sozialen Zusammenhalts sehen.

Nullsummenspiel

Dieses Konzept von Heimat unterstellt drittens, dass Loyalitäten und Identifikationen ein Nullsummenspiel seien: dass ein Mehr an Bezügen zur Herkunft ein Weniger an Bezügen zur neuen Gesellschaft mit sich bringe und umgekehrt. In der Integrationsforschung hat sich jedoch längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft nicht mit einer geringeren Verbundenheit mit der Herkunftskultur einhergehen muss, und umgekehrt die Identifikation mit der Herkunftskultur nicht zwingend die Ablehnung der Aufnahmegesellschaft markiert. So können etwa Zuwanderer und Zuwanderinnen in ihrem sozialen Alltag je nach Lebenssituation zwischen den verschiedenen kulturellen Bezugs- und Orientierungssystemen wechseln und damit Mehrfachintegrationen und Mischidentitäten aufweisen, ohne dass dies als ein Zeichen von Pathologie oder sozialer Exklusion bzw. Selbstexklusion zu werten ist. Wer sich überhaupt nicht mit der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung identifizieren kann, müsste zumindest skizzieren, wie eine von ihm/ihr avisierte Gesellschaft aussähe und welche leitenden Orientierungen es dort geben sollte; käme also um die Frage nicht umhin, die Vision eines sozialen Zusammenlebens mit entsprechenden Regeln zu benennen.

Politik kann bessere oder schlechtere Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass jede und jeder in einer so gearteten pluralen Gesellschaft den Begriff der Heimat für sich füllen kann. Diese Rahmenbedingungen – das Bildungssystem, der Arbeitsmarkt, die Familienpolitik oder die Stadtentwicklung – müssen so ausgestaltet werden, dass sie – unabhängig von Alter, Geschlecht, Behinderung, Migrationshintergrund oder anderen individuellen Merkmalen – allen offenstehen, dass alle sich diesen Orten emotional verbunden fühlen können, weil sie diese mitgestaltet haben, und dass alle dazulernen können, wenn neue Erkenntnisse oder Herausforderungen es erforderlich machen. Politik kann Signale setzen, Leistungen honorieren und wertschätzen. Politik kann Ausgrenzung vorbeugen und auf sie reagieren. Ein inklusiver Heimatbegriff kann hierzu einen Beitrag leisten.