Gegen das System

Streetworker kämpft in Tschechien für die Bildung von Roma-Kindern

In Tscheschien werden Roma-Kinder seit Generationen quasi automatisch in Sonderschulen geschickt. Streetworker Kumar Vishwanathan will diesem System ein Ende bereiten – und er hat Erfolg. Von Kilian Kirchgeßner

Das Büro von Kumar Vishwanathan ist leicht an den langen Warteschlangen zu erkennen. Gerade steckt er mitten in einer Beratung: Eine junge Frau aus der Roma-Minderheit will wissen, wie es mit ihrem Kind im schulpflichtigen Alter weitergeht. „Solche Fragen klären wir hier am laufenden Band“, sagt Vishwanathan später entschuldigend, die Schlange hat er jetzt abgearbeitet und atmet kurz durch. Seit er die Schulbildung für Roma-Kinder zu seine Lebensaufgabe gemacht hat, hat der Streetworker aus der Industriestadt Ostrava im Osten Tschechiens kaum noch ruhige Minuten.

Ursprünglich kam Vishwanathan der Liebe wegen aus Indien nach Tschechien, er ist eigentlich Mathematiklehrer. Bekannt wurde er vor zehn Jahren, als er eine Sammelklage initiierte: Ein gutes Dutzend junger Roma zog vor Gericht, weil sie als Sonderschüler eingestuft wurden. Sie boxten den Fall durch bis zum Europäischen Gerichtshof. Die Richter entschieden, dass der tschechische Umgang mit Schülern aus der Roma-Minderheit gegen die Menschenrechte verstoße.

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Roma-Kinder in Sonderschulen

Schon seit den Zeiten des Kommunismus wurden Roma-Kinder quasi automatisch von der ersten Klasse an in Sonderschulen geschickt. Diagnose: „mental retardiert“. Auf Sonderschulen in Ostrava, erinnert sich Vishwanathan, gingen über Jahre hinweg etwa 51 Prozent aller Roma-Kinder. „Das ist absurd, das ist doch evolutionär gar nicht möglich, dass mehr als die Hälfte einer Bevölkerungsgruppe geistig behindert ist“, empört sich der Streetworker.

Es war ein System, das über Jahrzehnte eingespielt war: Viele Eltern unterschrieben gleichmütig den Bescheid, dass ihre Kinder auf die Sonderschule gehen sollten – schließlich waren sie selbst auch schon dort und die Nachbarn schickten ihre Kinder auch dorthin. Dass so eine ganze Generation von Roma um ihre Chancen gebracht wurde, wollten viele nicht sehen.

Sonderschulen politisch gewollt

Als ein Nachbarsmädchen betroffen war, wurde Vishwanathan auf diese Praxis aufmerksam. Er startete einen Versuch: Jeden Tag bekam die kleine Svetlana Nachhilfeunterricht. Ein paar Monate später entschied die Psychologen-Kommission, die sie vorher zur Sonderschule geschickt hatte: alles in Ordnung.

Das Experiment bestärkte den Streetworker in seiner Überzeugung, dass das ganze System der Sonderschulen in Tschechien politisch gewollt sei. Während viele andere Kinder anfingen, Buchstaben zu malen und ihre Finger zu zählen, lernten Roma-Kinder im gleichen Alter Tanzen oder Singen.

Spendenfinanziert

Nach dem Erfolg in Straßburg hat Kumar Vishwanathan die Organisation „Vzajemne souziti“ (deutsch: Zusammenleben) gegründet, in deren Zentrale er heute sein Büro hat. Der Verein sendet Hilfskräfte an die Schulen in armen Stadtvierteln. Sie sollen den Eltern die Angst davor nehmen, begabte Kinder auf gute Schulen zu schicken, selbst wenn der Schulweg durch die halbe Stadt führt.

Zehn Helferinnen schickt der Verein an etliche Kindergärten und Grundschulen in der ganzen Stadt – „alles mit Spenden bezahlt, obwohl das doch eigentlich die Aufgabe des Staates wäre“, merkt Vishwanathan an. Sein Ziel: In drei Jahren will er 300 Kinder auf ihrem Weg an gute Schulen begleiten, heute sind es schon 100.

Die Generationen

Ein paar Türen von seinem Büro entfernt zeigt sich, wie gut das klappt: Ein paar Kinder sitzen hier am Schreibtisch. Der siebenjährige Stefan malt reihenweise Hunde, er fängt schon bald an einer klassischen Grundschule an. Neben ihm sitzt seine ältere Schwester, die emsig Buchstaben schreibt. Sie kommt nach den Sommerferien in die dritte Klasse. Stefan will Automechaniker werden, wenn er einmal groß ist. Der Traumberuf seiner Schwester ist Tierärztin – allein der Gedanke an solche Berufe wäre für ihre Eltern noch völlig illusorisch gewesen.

Für Kumar Vishwanathan ist die Sache klar: „Die erste Generation von Roma nach dem Zweiten Weltkrieg bestand aus Analphabeten. Die zweite Generation war auf Sonderschulen. Die dritte Generation steht noch mit einem Bein im alten System, aber die vierte Generation – die Kinder von heute -, die kann den Sprung an die klassischen Schulen schaffen.“ (epd/mig)