Buchtipp zum Wochenende

Moscheebau, Kopftuch, Kruzifix – Religionspolitik in Deutschland ist konzeptlos

Neuer Übersichtsband „Religionspolitik heute“ vereint religionspolitische Positionen aus Wissenschaft, Politik, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften – Beiträge zu religionspolitischen Grundsatzfragen, aktuellen Konflikten und Lösungsmöglichkeiten.

Wissenschaftler werfen der Politik in Deutschland „Konzeptlosigkeit“ im Umgang mit religionspolitischen Konflikten vor. „Ob Moscheebau, Kopftuch oder Kruzifix, kirchliches Arbeitsrecht, Schächten oder Beschneidung: Die Politik reagiert vielerorts konzeptlos, wenn es Streit um die Rechte, Symbole und Praktiken von Religionsgemeinschaften gibt.

Ohne erkennbare politische Ideen, wie sich religiöse Interessen konstruktiv aushandeln lassen“, kritisieren die Herausgeber des neuen Übersichtsbandes „Religionspolitik heute. Problemfelder und Perspektiven in Deutschland“, der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Ulrich Willems und die Publizistin Viola van Melis vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der WWU und der Historiker Dr. Daniel Gerster vom Centrum für Religion und Moderne. „Im Konfliktfall werden immer wieder Gerichte angerufen. Damit wurden zwar viele Einzelfälle entschieden, aber es wurden nicht dahinterliegende Grundkonflikte behandelt.“

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Das im Herder Verlag erschienene Buch vereint religionspolitische Positionen und Analysen aus Wissenschaft, Politik, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und bietet Überblickswissen zum vernachlässigten Politikfeld Religionspolitik. Die 32 Buchbeiträge beleuchten aktuelle religionspolitische Konflikte und Lösungsmöglichkeiten sowie Grundsatzfragen aus historischer, systematischer, normativer und internationaler Sicht. Es geht um Konfliktthemen wie Moscheebau, Burka, Blasphemie und Beschneidung ebenso wie um Religionsfreiheit, Körperschaftsstatus und Religionsfragen im Arbeits-, Sozial- und Medienrecht.

Die religionspolitischen Positionen der deutschen Parteien sind ebenso nachzulesen wie Positionen im Ausland. „Die Vorstellungen, wie Religionspolitik in Zukunft aussehen soll, liegen teils so weit auseinander, dass Deutschland ohne breite Diskussionen nicht auskommen wird“, so die Herausgeber. Das zeige im Buch die Bandbreite an Einschätzungen aus verschiedenen Fächern sowie an kontroversen Interessenbekundungen aus Parteien und Religionsgemeinschaften.

Schon jetzt werde der Ruf nach Reformen lauter: „Lobbyisten muslimischer Gruppen fordern erheblich selbstbewusster als vor wenigen Jahren Zugang zu denselben Ressourcen wie die christlichen Kirchen. Zugleich lehnt eine religionskritische Öffentlichkeit vernehmlich religiöse Praktiken wie das Kopftuchtragen oder die Beschneidung ab.“ Umfragen zeigten, dass sich die Bevölkerung bis heute nicht „an den Wandel von einer christlich homogenen zur religiös heterogenen Gesellschaft“ gewöhnt habe. Entscheidend seien entemotionalisierte Debatten. Als Vorbild nennen die Herausgeber Kanadas Provinz Québec, die mit den Philosophen Charles Taylor und Gérard Bouchard einen landesweiten Diskurs zur Religionspolitik in Gang setzte.

Benachteiligungen in der Religionspolitik

Das Spektrum an Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ist heute so breit wie nie zuvor in der deutschen Geschichte. Vor diesem Hintergrund wachsen seit Jahren religionspolitische Herausforderungen und Polarisierungen, wie die Herausgeber in den ersten beiden Buchbeiträgen skizzieren. Sie liefern Überblickswissen über Grundzüge und aktuelle Ausrichtungen der deutschen Religionspolitik sowie zur Entwicklung der religiösen Landschaft in den vergangenen Jahrzehnten.

In deutschen Metropolen seien vor allem durch Migration teils mehr als 200 Religionsgemeinschaften anzutreffen. „Eine weitgehend homogen christlich-kirchlich geprägte Religionslandschaft, wie sie die 1950er-Jahre prägte, ist längst passé.“ Die Herausgeber kritisieren eine Bevorzugung der christlichen Kirchen. Die rund vier Millionen in Deutschland lebenden Muslime und die wachsende Gruppe der Konfessionslosen würden angesichts einer „religiös-christlich-großkirchlichen Schlagseite“ benachteiligt, so Politikwissenschaftler Ulrich Willems.

„Eine Integration des Islams in die religionspolitische Ordnung der Bundesrepublik findet vor allem als Fundamentalismus-Prävention statt: beim islamischen Religionsunterricht und der islamischen Theologie an Universitäten.“ Während der Staat hier Kreativität zeige, fehle in anderen Fällen das Entgegenkommen, etwa bei der Verleihung des Körperschaftsstatus an islamische Gruppen.

Parteien und Polarisierungen

Politikwissenschaftler Ulrich Willems kritisiert in seinem Beitrag auch religionspolitische Versäumnisse der Parteien: „Schaut man in aktuelle Wahl- und Parteiprogramme, dann findet sich bei der SPD ein freundliches Desinteresse an religionspolitischen Veränderungen und bei der Union ein beherztes Weiter so.“ Eine solche zögerliche Religionspolitik habe bei gleichzeitiger Privilegierung des Christentums zur verschärften Unterscheidung zwischen einem „christlichen Europa“ und Muslimen geführt. „Islamskepsis und die Anti-Islam-Politik der AfD sind auch die Geister dieser vernachlässigten Religionspolitik.“

Die Politik müsse handeln, bevor das religionspolitische Klima durch jüngste Verschärfungen nicht zu vergiftet für nachhaltige Debatten sei. – Der evangelische Theologe und Sozialethiker Arnulf von Scheliha analysiert die aktuellen religionspolitischen Positionierungen der Parteien, etwa im Bundestagswahlkampf 2017. Er findet darin viel „ideenpolitisch motivierte Geschichtsdeutung“, einhellige Bekenntnisse zur Religionsfreiheit sowie sehr unterschiedliche Auffassungen zum Islam. Er resümiert, dass „in der Religionspolitik durchaus eine gewisse Bewegung herrscht, aber immense Beschleunigungen nicht zu erwarten sind“.

Internationaler Vergleich

Der Philosoph Hermann Lübbe vergleicht in seinem Beitrag die deutsche mit der Religionspolitik in den USA, die Religion im Unterschied zu Deutschland schon lange als wichtigen Faktor in der Innen- und Außenpolitik wahrnehme. Auch herrsche in den USA viel mehr Offenheit gegenüber neuen Glaubensrichtungen. Lübbe warnt im deutschen Fall davor, Zuwanderungsreligionen wie den Islam zu verpflichten, sich analog zum Staatskirchenrecht zu organisieren. Er rät davon ab, eine religionskulturelle Integration erlangen zu wollen, indem „Besonderheitsprofile“ religiöser Traditionen aufgegeben werden müssen. Wenn etwa auf ein Verbot des Kopftuchtragens auch das Verbot des Ordensschleiers folge, sei diese Verpflichtung zum Verzicht auf öffentliche Bekundung von Besonderheit „schadensträchtig“ – sowohl für die alten wie für die zugewanderten (Religions-)Kulturen.

Körperschaftsstatus

Die Verleihung des Körperschaftsstatus an Religionsgemeinschaften ist für Staatsrechtswissenschaftler Hinnerk Wißmann eine von mehreren Möglichkeiten, Religion zu organisieren. Ihre Zukunftsfestigkeit müsse sich angesichts zunehmender religiöser Pluralität aber erst beweisen. Der Automatismus von Sonderregelungen für Religionsgemeinschaften mit Körperschaftsstatus, die viel diskutierten „Privilegienbündel“, sollten auf ihren funktionalen Grund hin überprüft werden. So könnten künftig bestimmte Rechte herausgelöst und auf Antrag auch Religionsgemeinschaften ohne Körperschaftsstatus gewährt werden. Wißmann betont, „der Anspruch auf Gleichbehandlung aller Religionen ist nicht durch Gleichförmigkeit einzulösen.“

Religionswissenschaftlerin Astrid Reuter schließt sich aus religionswissenschaftlicher Perspektive dem Urteil von Wißmann grundsätzlich an, indem sie die Debatte um den Körperschaftsstatus als einen „Scheinriesen“ bezeichnet. Der Körperschaftsstatus stehe in der Debatte symbolisch für das, was am herkömmlichen staatskirchenrechtlichen System als dringend reformbedürftig, wenn nicht abschaffungswürdig gelte.

Moscheebau, Burka, Blasphemie, Beschneidung

Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie zeichnet die politischen und sozialen Konflikte der vergangenen Jahrzehnte nach, die mit dem vermehrten Bau von Moscheen in westlichen Ländern aufflammten. Um künftig Eskalationen zu vermeiden, gelte es, den Streitfällen eine neue institutionelle und kommunikative „Form zu geben“.

Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Spohn beleuchtet die emotional diskutierten gesetzlichen Burka-Verbote in europäischen Demokratien und fragt, warum Burka-Verbotsinitiativen trotz umfassender Kritik aus der Wissenschaft immer wieder politische Erfolge erzielen. Sie sieht dies in einem grundsätzlichen „Unbehagen europäischer Gesellschaften an der Verschleierung des Gesichts“ begründet und stellt fest, dass die Verbote dennoch nicht zur Befriedung der Konflikte beitrügen.

Mit der Blasphemie nimmt sich der Politikwissenschaftler Klaus von Beyme eines Themas an, das die meisten europäischen Gesellschaften nach seiner Einschätzung überwunden geglaubt hatten. Seine gesellschaftliche Sprengkraft habe sich in den vergangenen Jahren erneut erwiesen, etwa im Streit um die ‚Mohammed-Karikaturen‘ oder um Kritik an Überzeugungen evangelikaler Christen.

Çefli Ademi skizziert aus Sicht der islamischen Rechtswissenschaft die Debatte über die religiöse Jungen-Beschneidung, die das Urteil des Kölner Landgerichts 2012 auslöste. Der Beitrag kann als Plädoyer gegen eine als allgemeine Religionskritik verkleidete Islamophobie verstanden werden. (mig/pm)