Der blinde Fleck

Auch nach 100 Jahren koloniales Unrecht kaum aufgearbeitet

Vor 100 Jahren endete die deutsche Kolonialherrschaft. Als aufgearbeitet gilt diese dunkle Epoche nicht. Das Umdenken kommt nur langsam voran. Von Christine Xuân Müller

Afrika, China, Pazifik: An vielen Orten der Erde hatte das Deutsche Kaiserreich seine Kolonien. Erst mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und der endgültigen Kapitulation der Truppen unter Paul von Lettow-Vorbeck in Deutsch-Ostafrika am 25. November 1918 ging die deutsche Kolonialherrschaft faktisch zu Ende. Doch auch ein Jahrhundert später gilt diese Epoche der deutschen Geschichte noch nicht als aufgearbeitet.

„Es ist überraschend, wie wenig Emotionen und wie wenig Diskussionen um historische Gerechtigkeit sich über Jahrzehnte hinweg hier in Deutschland mit dem Thema des deutschen Kolonialismus verbanden“, betonte etwa der Direktor des Deutschen Historischen Museums, Raphael Gross, bei einem Symposium zu kolonialer Raubkunst im Juni. Für die deutsche Erinnerungskultur habe das Thema bis vor wenigen Jahren praktisch keine Rolle gespielt.

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Tatsächlich sei etwa die Frage, wo es deutsche Kolonien weltweit gab, kein Pflichtthema im Schulunterricht, monieren Forscher. Einen zentralen Gedenkort für die Opfer deutscher Kolonialverbrechen – etwa des Völkermordes an Herero und Nama im heutigen Namibia – gibt es bislang ebenfalls nicht. Und Fragen um Restitutionen und Entschädigungen für koloniales Unrecht sind weiter ungeklärt.

Propaganda bis heute wirksam

Erst in jüngster Zeit gerät das Thema in die Diskussion: Museen debattieren über den Umgang mit menschlichen Überresten und Kulturgütern aus der Kolonialzeit. Es gab erste Rückgaben von menschlichen Gebeinen, etwa Ende August an Namibia. Die Bundesregierung verankerte Anfang 2018 erstmals die Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus im Koalitionsvertrag und benannte sie damit explizit als politisches Ziel.

Lange habe hartnäckig die Meinung vorgeherrscht, dass Deutschland im Vergleich zu Frankreich oder England nur eine „harmlose Kolonialmacht“ gewesen sei, erläutert die Berliner Kolonialismushistorikerin Manuela Bauche. Auch dass die deutsche Kolonialmacht „zivilisatorische Leistungen gebracht habe, ist eine Geschichte, die sich extrem gut gehalten hat“, sagt sie. „Diese Propaganda ist bis heute wirksam geblieben.“ Dringend nötig sei darum die klare Positionierung, „dass Kolonialismus kein Abenteuersystem oder das naive Erkunden von fremden Welten, sondern ein Unrechtssystem war, das grundlegend auf Gewalt basierte und Menschen entrechtete.“

„Ein fast blinder Fleck“

Die Diskussion um das Berliner Humboldt Forum hat die Kolonialismusdebatte zuletzt befeuert. Das neue Großmuseum soll Ende 2019 in Berlin öffnen und will unter anderem wertvolle Kulturobjekte aus verschiedenen Erdteilen präsentieren. Nach ihrer Haltung befragt, versicherte die Bundeskulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) mehrfach, wie wichtig ihr die Erforschung der Herkunft von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten sei. Und sie räumte ein, dass die Kolonialzeit viel zu lange „ein fast blinder Fleck“ in der deutschen Erinnerungskultur gewesen sei.

Dass die Kolonialismusdebatte in Deutschland – nach jahrzehntelangem Schweigen – in Gang kam, ist nach Ansicht des Berliner Historikers Christian Kopp vor allem auf zivilgesellschaftliches Engagement zurückzuführen. Erste zögerliche Versuche habe es von Vertretern der schwarzen Community bereits Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre gegeben. Die Nachfahren der Kolonialisierten seien heute besser ausgebildet und erhöben lauter ihre Stimme, sagte Kopp, der Mitinitiator des Vereins „Postkolonial“ ist. „Wir leben in einer immer offensichtlicher werdenden Migrationsgesellschaft.“ Das schlage sich auch im gesellschaftlichen Diskurs nieder.

Straßen nach Kolonialisten benannt

In Städten wie Leipzig, Hamburg, Frankfurt oder Augsburg hätten jüngere Leute sich in den vergangenen Jahren verstärkt mit der Frage beschäftigt, wie ihre Heimatstadt in die koloniale Geschichte verstrickt ist. Dazu gebe es auch alternative Stadtführungen.

Lokale Aktivisten machten auch darauf aufmerksam, dass noch etliche Straßen nach umstrittenen Kolonialisten benannt sind. So kämpfte etwa das Bündnis „Decolonize Berlin“ jahrelang in der Bundeshauptstadt für eine Änderung der Namen von Straßen, die nach Adolf Lüderitz, Gustav Nachtigal und Carl Peters benannt wurden. Die drei gelten als Vertreter und Wegbereiter des deutschen Kolonialismus. Anlässlich des Endes der deutschen Kolonialzeit vor 100 Jahren wollen sich Engagierte Mitte November in Berlin treffen und ihre Arbeit weiter professionalisieren.

Bisher kein Gedenkort

Gefordert wird auch die Errichtung eines Gedenkorts für die Opfer der deutschen Kolonialzeit. Vertreter vom „Verein Postkolonial“ oder der Initiative „Völkermord verjährt nicht!“ wünschen sich ein zentrales Mahnmal in Berlin – sehr sichtbar, ganz in der Nähe des Bundestages und nahe dem Holocaust-Denkmal in der Wilhelmstraße 92. Hier fand ab 15. November 1884 die sogenannte Kongo-Konferenz auf Einladung des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck statt, bei der die Aufteilung Afrikas in Kolonien beschlossen wurde.

Doch Pläne für die Errichtung eines solchen Gedenkorts hat die Bundesregierung nicht. Mitte Oktober erklärte sie auf Anfrage der Bundestagsfraktion der Grünen, dass eine solche Initiative vom Bundestag ausgehen sollte. (epd/mig)