Zeichen setzen

Regionalhistorische Zusammenhänge der NSU-Morde

Wie und von wem wurden die NSU-Mordopfer ausgewählt? Nach welchen Kriterien sind die Täter vorgegangen? Zufall? Überlegungen einer Regionalhistorikerin zur Auswahl des Anschlagsortes des NSU in der Hamburger Schützenstraße.

Mit dem Urteil ‚lebenslänglich‘ gegen Beate Zschäpe ist er am 11. Juli 2018 beendet worden, der Prozess gegen den NSU. Wohlleben und Eminger sind inzwischen schon wieder auf freiem Fuß und werden von ihrer Szene gefeiert. Derweil fragen sich immer noch viele, vor allem die Angehörigen, warum vor 17 Jahren, am 27.06.2001, Süleyman Taşköprü vom NSU in seinem Lebensmittelladen in der Schützenstraße 39 ermordet wurde.

Wie und von wem wurde er als Mordopfer ausgewählt? Wie und warum wurde ausgerechnet die Schützenstraße ausgewählt, warum Altona? Der Lebensmittelladen war so abgelegen, dass es kaum möglich gewesen sein dürfte, dass die drei ihren Mordanschlag ohne Helfer vor Ort haben durchführen können. Nach welchen Kriterien sind sie vorgegangen? Zufall? Wünsche von Freunden aus den jeweiligen Regionen? Allein mit der Tatwaffe, der Ceska, setzten sie bewusst Zeichen. Ihre Markenzeichen. Taten sie das auch hinsichtlich der Orts- und Zeitauswahl?

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Es ist angebracht, auch regionalhistorische Zusammenhänge in Betracht zu ziehen. Bereits 2016 hat ein Beitrag auf nsu-watch.info darauf hingewiesen, dass es Korrelationen zwischen einigen Anschlagsorten und nationalsozialistischer Erinnerungskultur geben könnte. Das ist nicht zuletzt von einem Mitarbeiter des Verfassungsschutzes erheblich in Zweifel gezogen worden. Eindeutige Beweise, Zeugenaussagen etwa oder Hinweise aus Ermittlungsakten, gibt es nicht. Ist es vorstellbar, dass sich Neonazis derart mit längst vergangenen historischen Ereignissen auskennen, dass sie danach ihr Handeln ausrichten? Könnten solche Zusammenhänge mehr sein als bloße Spekulation?

Spielten historische Aspekte eine Rolle?

Als Böhnhard, Mundlos und Zschäpe mordeten, waren sie Mitte zwanzig. Sie hatten eine Affinität für moderne Technologien. Von Beate Zschäpe ist bekannt, dass sie gerne im Internet surfte, spielerlisch nach Begriffen suchte und auch mit der Popkultur spielerlisch umging. Wurden in der Gruppe, zusammen mit Freunden, ein Weltbild konstruiert, aus Zeichen, aus Assoziationen bestehend, die das Vorhaben der Anschläge in einen großen weltpolitischen Zusammenhang brachten?

Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Netzwerk des NSU auch in Hamburg Unterstützer hatte, die es mit Informationen versorgte, die für die Ausübung des Mordes notwendig waren, und ihnen bei der Entscheidung, wer nun in welcher Stadt ermordet werden soll, tatkräftig zur Seite standen. Hier ein Hinweis, dort ein Puzzlestückchen, Ausdruck ihres Weltbildes, lachend, feixend mögen sie am Rechner und vor Büchern aus der Szene gesessen haben, vielleicht auch mit alten Männern, alten Frauen gesprochen, mit denen sie das Weltbild teilten, Tradition gesucht, Heimat. Dabei können auch in Hamburg historische Aspekte eine Rolle gespielt haben. Zahlreiche von Neonazis betriebene Websites versorgten und versorgen die Szene-Mitglieder mit ideologischem und somit auch historischem Background.

Veranstaltungen an historischen Orten

Die Schützenstraße liegt nicht nur im Bezirk der Bahrenfelder Kaserne, von der aus sich das Freikorps der Freiwilligen Wachabteilung Bahrenfeld an der Verfolgung von Sozialdemokraten und Kommunisten in der Weimarer Zeit in Altona beteiligte, sie könnte auch im Zusammenhang stehen zum ‚Altonaer Blutsonntag.‘

Bei regionalhistorischer Recherchen fällt auf, dass Neonazis als ein Kriterium für ihre Aktivitäten historische Ereignisse in Betracht ziehen. Das  gilt nicht nur für den NSU, wie zwei Beispiele aus Nazi-Aktivitäten im weiteren Umkreis der Schützenstraße zeigen sollen:

1978 organisierte Karl Heinz Hoffmann mit seiner Wehrsportgruppe ein Neo-Nazi-Treffen in der Gaststätte Lindenhof in der Luruper Hauptstraße, jene Gaststätte, die schon vor 1945 Treffpunkt von Nationalsozialisten war. Gegen das Nazitreffen gingen Hunderte Demonstranten auf die Straße, sie alle wollten die Zusammenkunft mit Straßenblockaden verhindern. Dank eines Polizeieinsatzes konnte das Nazitreffen dennoch stattfinden.

Im Januar 2008 fand auch im Vereinshaus der Kleingartenkolonie am Winsberg im Nordwesten Hamburgs ein Nazitreffen statt. Auch diese Ortswahl bietet möglicherweise eine historische Perspektive: In den Winsbergen führte die Gestapo mehrere Exekutionen durch, so erschossen Angehörige der Waffen SS im August 1943 etwa 174 osteuropäische Zwangsarbeiter. An den Erschießungen mitgewirkt hatten Gestapo-Beamtewie Alfred Nörenberg und Ernst Bassowske, die nach 1945 für ihre Beteiligung an den Menschenrechtsverletzungen nicht belangt wurden und unbehelligt im Nordwesten Hamburgs wohnten. Für sie mag die Wahl dieses Ortes für ein Neonazikonzert mehr als ein Zeichen gewesen sein. Die Schützenstraße war übrigens nur 2,5 km von diesem Lokal entfernt.

Spielerischer Umgang mit Nazi-Devotionalien

Sicher ließen sich noch viele solcher Beispiele finden. Von Neonazis betriebene Webportale zeigen Detailwissen über die Geschichte der NS Täter, die als Helden der Bewegung dargestellt und verehrt werden. Zschäpe, Mundlos und Böhnhard, die sich als Speerspitze des nationalsozialistischen Widerstandes begriffen, wird es ein Anliegen gewesen sein, diese Helden zu feiern. Das drückt sich in „kreativen“ Erzeugnissen aus, die der NSU hinterlassen hat, darunter das Bekennervideo und das Spiel Progromli.

Auf dem Spielbrett geht’s los mit einem Hakenkreuz als Startfeld, ein Wehrmachtssoldat mit SS Runen und dem Emblem der Neonaziflagge zeigen neben Symbolen für Konzentrationslagern worum es ging: Juden in die Vernichtungslager zu deportieren. Spielerisch. Reichsmark als Spielgeld. Ein Besuch beim Führer als Belohnung.

An seinem Geburtstag, dem 1. August 2017, konnte sich der Mitangeklagte André Eminger während des NSU Prozesses zusammen mit seinen „rechten Gesinnungsgenossen“ auf der Zuschauertribüne über die Details dieses antisemitischen Spiels köstlich amüsieren. Ebenso viel Spaß dürfte den Neonazis die Erstellung des Bekennervideos gemacht haben. Paulchen Panther lacht sich schlapp über die Morde an neun Migranten und einer Polizistin! Die hatten schon einen ‚spielerischen‘ Umgang mit Nazi-Devotionalien. Sind sie auf ähnlich ‚kreativen‘ Wegen auch zur Auswahl ihrer Anschlagsopfer gekommen?

Historische Bezüge von NSU-Attentaten

Die 2016 veröffentlichte Recherche über die Nähe zwischen Gedenkorten sogenannter Blutopfer und einigen Anschlagsorten des NSU lassen dies plausibel erscheinen: “Das Lebensmittelgeschäft in der Kölner Probsteigasse, in dem 2001 eine Sprengfalle explodierte, und der Kiosk an der Dortmunder Mallinckrodtstraße, in dem 2006 der Dortmunder Mehmet Kubaşık ermordet wurde, liegen in räumlicher Nähe zu Orten, an denen in den 1930er Jahren zwei SA-Männer von politischen Gegnern erschossen wurden. Von den Neonazis werden diese SA-Männer noch immer als so genannte ‚Blutzeugen der Bewegung‘ verehrt. Die Tatortwahl könnte also in Zusammenhang mit diesen ‚Märtyrern‘ der NSDAP stehen.“

Das Lebensmittelgeschäft in der Probsteigasse in Köln lag in der Nähe eines Parks, den die Nationalsozialisten nach dem von Kommunisten 1933 erschossenen SA Mann Walter Spangenberg benannt hatten. Ähnliches in Dortmund. 500 m vom Kiosk Mehmet Kubaşık entfernt befand sich der Ort, an dem der SA Mann Höh 1930 erschossen wurde. „Neonazis aus Köln und Dortmund hielten mehrfach so genannte Heldengedenken zu Ehren Spangenbergs und Höhs ab.“ Auch der Mord an Halit Yozgat in Kassel geschah in der Nähe des Wohn- und Sterbeortes des Kasseler Blutzeugen Heinrich Messerschmidt. Die Tatorte in Nürnberg liegen in der Nähe des Reichsparteitagsgeländes.

Auch In Hamburg-Ottensen versuchten Neonazis ihren ‚Blutzeugen‘ zu gedenken. Im Juli 2000, also noch vor dem Mord des NSU an Suleiman Taşköprü, führte die NPD einen Marsch durch Ottensen durch, der wohl nicht zufällig zu großen Teilen der Route eines Aufmarsches der SA von 1932 entsprach, der unter dem Namen ‚Altonaer Blutsonntag‘ damals deutschlandweit in die Schlagzeilen geraten war. Der am 17. Juli 1932 von mindestens 7.000 SS und SA Männern durch das überwiegend arbeiterbewegte und damit mehrheitliche linke Ottensen zur Abschreckung und für Wahlkampfzwecke durchgeführte Marsch endete in einem Desaster, 16 Menschen kamen durch Schussverletzungen ums Leben, vor allem Zivilisten, darunter Kommunisten, Sozialdemokraten, Parteilose, auch drei Mitglieder der NSDAP.

Obwohl die meisten von ihnen durch Polizeikugeln ums Leben gebracht worden waren, verurteilte die Nazi-Justiz nach 1933 die Kommunisten Bruno Tesch, Walter Möller, Karl Wolff und August Lütgens, die nachweislich an dem Geschehen unbeteiligt gewesen waren, in einem Sondergericht zum Tode. Vor allem die ums Leben gekommenen männlichen NSDAP Mitglieder Heinrich Koch und Peter Büddig wurden als Märtyrer gefeiert, die NSDAP ehrte sie und den am 17.03.1933 nahe der Paul-Roosen-Straße erschossenen SA-Mann Emil Trommer mit einer Gedenktafel auf dem Bornkampfriedhof nahe dem Ausgang zur Ruhrstraße, die nach 1945 demontiert wurde. Aber auch die Nationalsozialistin Helene Winkler wurde als ‚Heldin der Bewegung‘ verehrt.

Im Juli 2000 verhinderten Tausende Gegendemonstranten, dass die NPD an diese Tradition in aller Öffentlichkeit anknüpfen konnte. Die Bedeutung dieser Nazi-Ahnen für Neonazis ist aber nach wie vor ungebrochen. Galt das auch für den NSU? Lässt sich der Anschlagsort in Hamburg in der Schützenstraße in eine Verbindung zu den `Blutopfern` bringen? Der Bornkampfriedhof liegt nur wenige Straßen von der Schützenstraße entfernt, somit befand sich ein ehemalige Gedenkort an ‚Blutzeugen‘ auch hier in der Nähe des Anschlagortes des NSU. Es können aber auch andere Aspekte eine Rolle gespielt haben.

Es besteht zwar keine direkte räumliche Nähe zu den Wohn- oder Sterbeorten Helene Winkler, Heinrich Koch und Peter Büddig, die in dem Gebiet um die Billroth- und Schomburgerstraße von Kugeln tödlich getroffen worden waren, weit weg von der Schützenstraße, ebenso wenig wie zu dem nach 1933 erschossenen Emil Trümmer. Aber es wohnte laut Altonaer Adressbuch von 1932 ein P. Winkler, Maler, in der Schützenstraße 45, also nur wenige Häuser von dem Ladengeschäft Tasköprüs entfernt. Belege dafür, dass der mit Helene Winkler verwandt gewesen ist, sind mir bislang nicht bekannt. Auf Naziseiten heißt es, sie sei Mitglied der NS Fauenschaft Hoheluft gewesen, von Beruf Hausfrau, 44 Jahre alt. Wenn eine Verwandtschaft zwischen dem P. Winkler und Helene Winkler bestand, gibt es eine unmittelbare Nähe zum Anschlagsort des NSU in der Schützenstraße 39. Aber auch wenn sich das nicht wissenschaftlich belegen lässt – wer sagt denn, dass wissenschaftliche Belege dem NSU wichtig waren? Kann es nicht dennoch sein, dass solche Zusammenhänge ausschlaggebend für die Wahl dieses Anschlagortes gewesen sind?

Noch weitere Zusammenhänge zum Altonaer Blutsonntag mögen Hinweise geben. Die SS und SA Männer hatten sich am 17. Juli 1932, dem Tag des Altonaer Blutsonntags, am Diebsteich zu einer Abschlusskundgebung zusammengefunden, mussten, wenn sie auf dem Rückweg wieder zum Altonaer Bahnhof wollten, durch die Schützenstraße oder eine ihrer Nebenstraßen wie die Kohlentwiete ziehen. Wollten die NSU Mörder ihrem Weg folgen?

Aber auch Assoziationen ganz anderer Ausrichtung lassen sich anführen, auch das Datum des Mordes kann ein Hinweis, ein Zeichen sein: Juni 1933 verhaftete die SA in Berlin Hunderte von Kommunisten, während dieser ‚Köpenicker Blutwoche‘ kam es zu mindestens 24 Todesfällen. Drei Mitglieder der NSDAP, darunter Wilhelm Klein, waren darunter. Er soll am 27. Juni 1933 in Berlin ums Leben gebracht worden sein, von den Nationalsozialisten als ‚Blutopfer‘ gefeiert, vielleicht auch vom NSU: Suleiman Taşköprü ist am 27. Juni 2001 ermordet worden. Ähnliche Bezüge zwischen Anschlagsdatum und Todestag eines Blutopfers können auch für die Morde an Enver Şimşek (Anschlagsdatum vom 9.9.entsprach dem Todestag des ‚Blutzeugen‘ Hermann Thielsch aus Berlin) und Mehmet Kubasik (Anschlagsdatum vom 4.4. entsprach dem Todestag vom ‚Blutzeugen‘ Max Beulich aus Mittweida) vermutet werden.

Googeln wir spielerisch die Suchbegriffe ‚Schützenstraße‘ ‚Denkmal‘ ‚Türken‘ bekommen wir zumindest 2018 ein weiteres interessantes Suchergebnis. Gleich das dritte Suchergebnis bezieht sich nicht mehr auf die Hamburger Schützenstraße. Da gibt es eine Schützenstraße in Österreich, in der sich ein Denkmal befindet für einen Soldaten der Türkenkriege auf dem Kufstein. Die Website Gefallenendenkmäler, die mit einem Vers des „Dichters und Lützower Jägers“ Theodor Kerner wirbt „Vergiss, mein Volk, die teuren Toten nicht“, zitiert die Inschrift des 1904 errichteten Denkmals:

„Dem Helden von Kalafat – die treue Heimat am 26. Juni 1790 entschied Freiherr Joh. Jos. Spindler von Innberg durch Erstürmung der Schanzen von Kalafat den Sieg der kaiserlichen Waffen über die Türken.“ Ein Denkmal, das heutige Türkenhasser wahrlich inspirieren kann, wie die Identitäre Bewegung Österreichs, die sich in eine Traditionslinie zu den ‚Verteidigern Wiens,‘ den Kämpfern gegen die Türken des 18. Jahrhunderts, verortet. Und der 26. Juni kann auch hier auf das Anschlagsdatum vom 27. Juni hindeuten.

Aber sind solche Rechercheergebnisse nicht bloßer Zufall? Gab es diese Website schon im Jahr 2000? Nein, vermutlich nicht. Damals war das Internet noch weitaus überschaubarer. Der oben zitierte Eintrag ist 2007 erstellt worden. Gab es eine Vorgängerversion schon im Jahr 2000? Möglich. Was es auf jeden Fall schon gab waren umfangreiche Abhandlungen und Literatur aus den 1930er Jahren, Schriftgut aus der Neonazi-Szene und kenntnisreiche Indoktrinationen durch Altnazis. Die ja, wie oben angeführt, in der weiteren Umgebung der Schützenstraße zur Genüge unbehelligt von Strafverfolgern ihr Leben genießen konnten.

Ob all diese historischen Bezüge mehr als Zufall sind und die Wahl des Anschlagsortes erklären können, bleibt offen. Andere Kriterien haben sicher ebenso entscheidend dazu beigetragen, vor allem Tipps aus der Neonaziszene der Umgebung, vielleicht sogar damaliger Nachbarn Süleyman Tasköprüs aus der Schützenstraße. Aber ganz von der Hand zu weisen sind diese Zusammenhänge auch nicht. Gut vorstellbar, dass die NSU-Mörder und ihre Freunde bei der Auswahl ihrer Anschlagsorte gewitzelt und gealbert haben, Assoziationen geknüpft haben zu Fixpunkten ihres Geschichts- und Weltbildes, ein menschenverachtendes Spiel, mit dem sie Zeichen setzen wollten, die in der Naziszene bis heute verstanden werden.