25 Jahre Solinger Anschlag

Mevlüde Genç mahnt zu Versöhnung

Mevlüde Genç ruft im Gespräch zu einem friedlichen Zusammenleben in Deutschland auf. Sie hatte bei dem fremdenfeindlich motivierten Anschlag vor 25 Jahren in Solingen fünf Angehörige verloren. Von Ingo Lehnick

Bei dem Brandanschlag am 29. Mai 1993 haben Sie zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verloren. Wie sehr schmerzt der Verlust heute noch?

Mevlüde Genç: Bis heute habe ich die Nacht des Anschlags vor Augen und höre die Schreie meiner Kinder, die in den Flammen verbrannten. Der Schmerz über ihren Verlust ist immer in meinem Herzen und wird bis zu meinem Lebensende nicht aufhören. Er hat dazu geführt, dass ich keine Lebensfreude mehr empfinden kann. Ich bin zwar auf der Erde, aber es fühlt sich nicht so an, als ob ich wirklich leben würde.

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Sie haben trotzdem schon kurz nach dem Anschlag zur Versöhnung aufgerufen und sich seither immer wieder für Verständigung eingesetzt. Was hat Ihnen die Kraft dafür gegeben?

Hintergrund: Bei dem Anschlag in Solingen fünf türkische Mädchen und Frauen im Alter von vier bis 27 Jahren ums Leben, acht Menschen wurden schwer verletzt. Es war der mörderischste fremdenfeindliche Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Tat rief weltweit Entsetzen hervor. Vier junge Männer im Alter von 16 bis 23 Jahren steckten damals das Haus der türkischen Großfamilie Genç in Brand. Der Anschlag folgte auf eine Reihe ausländerfeindlicher Übergriffe und Anschläge Anfang der 90er Jahre in Deutschland. Die Täter wurden 1995 zu Haftstrafen von zehn bis 15 Jahren verurteilt. Alle vier leben seit Jahren wieder in Freiheit.

Mevlüde Genç: Diese Kraft hat mir mein Schöpfer gegeben. Ich habe Gott angefleht, dass er mir Kraft und Geduld geben möge. Der Verlust der eigenen Kinder ist das Schlimmste, was einer Mutter passieren kann. Ich wollte nicht, dass auch andere Menschen dieses Leid erfahren müssen. Deswegen habe ich gesagt: Lasst uns alle zusammen für Versöhnung, Menschenfreundlichkeit und ein friedliches Miteinander eintreten, damit solche Taten nicht noch einmal verübt werden.

Was hat Sie bewogen, in Solingen zu bleiben?

Mevlüde Genç: Ich kam mit 27 Jahren aus der Türkei nach Solingen. Nach dem Anschlag wurde ich gefragt, ob ich lieber in einer anderen Stadt leben will. Das habe ich abgelehnt. Solingen ist zu meiner Heimat geworden und ich möchte hier bleiben, bis ich sterbe.

Sorgen Sie sich um die Zukunft Ihrer Kinder und Enkel oder sind Ihre Erwartungen eher von Zuversicht geprägt?

Mevlüde Genç: Ich habe keine großen Sorgen um die Zukunft meiner Kinder. Sie führen ein normales Leben, werden größer, gehen zur Schule und haben viele Freunde – Deutsche und Türken. Sie treffen sich, machen gemeinsam Hausaufgaben, unterhalten sich oder unternehmen etwas zusammen. Ich blicke mit Zuversicht auf die Zukunft meiner Kinder und Enkel. Und ich bin stolz auf sie.

Welche Botschaft sollte vom 25. Jahrestag des Brandanschlags ausgehen?

Mevlüde Genç: Ich möchte alle einladen, an diesem bitteren Tag mit mir zu sein und meinen Schmerz zu teilen. Wir sollten in diesem Land friedlich und liebevoll zusammenleben und keinen Unterschied machen zwischen den Nationalitäten. Wir sind doch alle Menschen und sollten uns auch wie Menschen verhalten und als Geschwister leben.

Sie leben schon viereinhalb Jahrzehnte in Deutschland. Wie wichtig sind Ihre türkischen Wurzeln für Ihr Leben?

Mevlüde Genç: Natürlich ist mein Herkunftsland wichtig für mich. Aber letztlich macht es keinen Unterschied, woher ich stamme.

Die Teilnahme des türkischen Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu an den Gedenkveranstaltungen zum Jahrestag des Brandanschlags sorgt hierzulande für viel Kritik. Befremdet Sie das oder haben Sie dafür Verständnis?

Mevlüde Genç: Es erfüllt mich mit tiefer Trauer, dass das Gedenken an den wichtigsten Tag meines Lebens von politischen Auseinandersetzungen überschattet wird. Der Entschluss, dass der Außenminister eine Rede halten soll, wurde bereits im Februar gefasst. Einen Zusammenhang mit den vorgezogenen Wahlen in der Türkei herzustellen, ist daher mindestens unschlüssig. Jedes Jahr nehmen sowohl türkische als auch deutsche Vertreter an der Gedenkveranstaltung teil; jedem Einzelnen bin ich zu großem Dank verpflichtet.

Sie setzen stets ein Zeichen gegen Hass und lassen unsere Familie während der Zeit unserer tiefen Trauer und des großen Schmerzes nicht alleine. Keiner der Repräsentanten des türkischen oder deutschen Staates hat auch nur ansatzweise daran gedacht, die Gedenkveranstaltung für die eigenen politischen Zwecke zu instrumentalisieren. Ich habe nicht die geringsten Zweifel daran, dass dies dieses Jahr genauso sein wird. (epd/mig)