Alexander Somek, Rechtswissenschaft, Universität, Wien
Prof. Dr. Alexander Somek ist Professor für Rechtsphilosophie und Methodenlehre der Rechtswissenschaften an der Universität Wien.

Psychologie der Kopftuchdebatte

Albtraumwelt und Narrenfreiheit: Versuch über die Symbolpolitik

Die Debatte über ein Kopftuchverbot für muslimische Mädchen in Österreich ist längst auch auf Deutschland übergeschwappt. Was diese Debatte nährt und von welchen Vorstellungen sie getrieben wird, erklärt Rechtsphilosof Prof. Alexander Somek in einem Gastbeitrag.

Von Montag, 16.04.2018, 6:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 19.04.2018, 14:44 Uhr Lesedauer: 19 Minuten  |  

In der Kultur, in der ich aufwuchs, galt es als taktlos, die Bekleidung anderer Menschen öffentlich zu bekritteln. Wer sich über die Garderobe der anderen mokierte, gab sich als Snob oder Schmock zu erkennen.

Natürlich mokierten sich trotzdem alle permanent über alle anderen; aber sie taten es hinter vorgehaltener Hand; und dies selbst dann, wenn die Salzburger mit einer Lederhose in der Wiener Staatsoper aufkreuzten.

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„Wer sich über das Ich-Ideal der anderen lustig macht, kränkt diese schon dann, wenn er ihr Äußeres verunglimpft.“

Was sich Menschen vorstellen, wenn es um ihr äußeres Erscheinen geht, betrifft den innersten Distrikt ihrer Selbstliebe. Als was sie gelten wollen, mag ihnen selbst nicht ganz klar sein. Ich bürste jeden Tag vor dem Fortgehen meine Schuhe, denn ich will als ein Herr auftreten. Immerhin bin ich ein Professor. Diesen meinen Wunsch gebe ich ihnen, Leserinnen und Leser, nur deswegen bekannt, um in ihnen das unangenehme Gefühl entstehen zu lassen, das sich breit macht, wenn Menschen ihnen eröffnen, welche persona sie projizieren möchten (Was soll das überhaupt heißen, „Herr“?).

Über das Bekleiden muss grundsätzlich niemand Rechenschaft ablegen, weil niemand begründen muss, als wer oder was er oder sie gelten will. Wer sich über das Ich-Ideal der anderen lustig macht, kränkt diese schon dann, wenn er ihr Äußeres verunglimpft.

Wenn Politik nur Zeichen setzt

Wer aus dem fernen Land meiner kulturellen Erinnerung stammt, muss daher unweigerlich peinlich berührt sein, wenn er mitbekommt, wie heutzutage über das Kopftuch von Frauen gesprochen wird, vor allem durch Repräsentanten des Staates.

„Eine Politik, die kein reales Problem löst, sondern vielmehr nur ein Zeichen setzt, um sich von der Lebensweise einer Gruppe zu distanzieren, ist diskriminierend. Weil sie diskriminierend ist, verstößt sie gegen die Gleichheit.“

Die Pläne der österreichischen Bundesregierung, für Kindergärten und Volksschulen ein Kopftuchverbot vorzusehen, haben mich peinlich berührt. An ihnen zeigt sich, dass es der Liberalismus in Österreich noch immer nicht weiter gebracht hat als zur verächtlichen Haltung gegenüber den sozial Schwachen.

Es ist unklar, ob und, wenn ja, wie viele Mädchen im Kindergarten oder in der Volksschule ein Kopftuch tragen. Anstelle von Erhebungen gibt es nur Mutmaßungen. Man redet sich darauf aus, Volksschuldirektoren meinten, es handle sich um so und so viel Prozent. Was ist das für eine Beweisführung? Der FPÖ Vizebürgermeister von Wien, Johann Gudenus, meint, man müsse in Wien nur mit offenen Augen spazieren gehen, um zu sehen, dass es ein massives Problem gebe.

Die Politik lässt dem Vorurteil freien Lauf. Es wird zur Verifikationsmethode.

Mit dem Fehlen von Beweisen konfrontiert, wechseln die Politiker von ÖVP und FPÖ rasch die Rechtfertigungsstrategie. Selbst wenn das Kopftuch kein aktuelles Problem sei, handle es sich bei dem geplanten Verbot immerhin um eine „symbolische“ Maßnahme.

Das Verbot soll nicht greifen, sondern bloß etwas symbolisieren. Aber was symbolisiert es und für wen?  Es soll wohl zu erkennen geben, dass der Islam nicht zur österreichischen Kultur gehöre und der Staat Anstrengungen unternehme, Mädchen vor der Annahme eines moslemisch geprägten weiblichen Rollenbildes zu bewahren („Dienen, Dienen“). Dieses Signal will die Wählerinnen und Wähler der christlich-sozialen Heimatpartei erreichen (so müsste die Koalition bezeichnet werden, wenn sie als eine Partei aufträte).

„Und sie sehen nicht, woran sie das Kopftuch assimilieren, wenn sie meinen, es gehöre weg, um größeres Unheil zu verhüten.“

Indem mir solcherart das politische Projekt begegnet, eine Gruppe symbolisch zurückzuweisen, bin ich als Ex-Expat ans amerikanische Verfassungsrecht erinnert. Dort darf das Recht nicht dazu herangezogen werden, eine Gruppe von Personen bloß herabzusetzen oder zu kränken. Der US Supreme Court hat am Beispiel von Hippies und Homosexuellen – in US Department of Agriculture v. Moreno (413 US 528 [1973]) und in Romer v. Evans (517 US 620 [1996]) – dazu ausgeführt: „[…] [I]f the constitutional conception of ‚equal protection of the laws’ means anything, it must mean that a bare congressional desire to harm a politically unpopular group cannot constitute a legitimate governmental interest“. Das ist ein bedenkenswerter Gedanke. Eine Politik, die kein reales Problem löst, sondern vielmehr nur ein Zeichen setzt, um sich von der Lebensweise einer Gruppe zu distanzieren, ist diskriminierend. Weil sie diskriminierend ist, verstößt sie gegen die Gleichheit.

Parade von Vorurteilen

„An diesem Punkt entdeckt man, dass die Kopftuchdebatte sich mit den Fakten schwer tut. Sie ist eine Parade von stolz vorgezeigten Vorurteilen. Sie dienen dazu, die Identität ihrer Träger zu markieren.“

Meine bürgerlichen Freundinnen und Freunde, die sich für aufgeklärt und also für frei von Vorurteilen halten, erliegen ebenfalls ihren Vorurteilen. Sie ignorieren das Problem der Symbolpolitik, weil auch sie vor ihrem geistigen Auge Scharen von kleinen Mädchen mit Kopftuch in Kindergarten und Volksschule marschieren sehen, womöglich noch an der Hand ihrer bärtigen salafistischen Väter. Auf den Hinweis, dass das nicht die Realität sei, reagieren sie – die Aufgeklärten – genauso indigniert wie jene anderen, denen sie eine mittelalterliche Geisteshaltung attestieren. Und sie sehen nicht, woran sie das Kopftuch assimilieren, wenn sie meinen, es gehöre weg, um größeres Unheil zu verhüten. Es wird zur zivilisierten Vorstufe der Genitalverstümmelung hochgespielt. Das Kopftuch füge jungen Mädchen irreparablen Schaden zu. Meine bürgerlichen Freundinnen und Freunde erinnern an Entscheidungen, die der EGMR in etwas anders gelagerten Fällen für die Türkei und Frankreich gefällt hat, und bringen Verständnis dafür auf, wenn Vater Staat (in Deutschland: Mutti) die „armen Mäderln“ vor ihren fanatisierten leiblichen Vätern schützt.

An diesem Punkt entdeckt man, dass die Kopftuchdebatte sich mit den Fakten schwer tut. Sie ist eine Parade von stolz vorgezeigten Vorurteilen. Sie dienen dazu, die Identität ihrer Träger zu markieren. Leitartikel Meinung Politik

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  1. -Ute Plass sagt:

    „Die Aufklärung gibt es nur mit den Betroffenen, nicht gegen sie.“
    Eine Erkenntnis, die weit über die Kopftuchdebatte hinaus weist.
    Stichwort: Demokratie herbeibomben!