Obdachlosigkeit

Wenn zwei Fremde sich begegnen

Brauchen wir eine „zehntausend Fuß lange Decke“, damit Obdachlose den Winter überstehen, fragt sich Hakan. Der 32 Jährige Berliner trifft Angelo und will Airbnb-Wohnungen an Obdachlose vermieten. Eine Begegnung zwischen zwei Menschen kurz vor dem Berliner Winter.

„Was wir nicht für andere tun, ist es nicht wert, getan zu werden“, erklärte jüngst Matthieu Ricard in einem Interview in der Zeit. Ein wahres Bekenntnis eines französischen Buddhisten. Und doch leben wir nicht danach – zumindest viele von uns nicht. Als Mitglied der Generation Y will ich mehr Verantwortung übernehmen, strebe nach mehr Sinn im Leben. Dennoch verhält es sich so, dass ich jeden Tag fast teilnahmslos an Obdachlosen vorbeigehe, die um Essen oder Geld bitten. Warum ist das so?

Bestimmt bin ich schon über 400 Mal an ihm vorbeigegangen, immer bemüht zu grüßen, doch unsere Blicke berührten sich nie. Der Mann mit dem hageren Gesicht und weißen Haaren wohnt tagsüber hinter einem kleinen Spielplatz unweit von meiner Wohnung.

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Am Samstag sollte es anders kommen. Ich gebe mir einen Ruck. „Ich hole mir einen Kaffee. Willst Du auch einen?“ Er lächelt und bittet höflich nach einem Tee. Ich laufe zum nächsten Kiosk.

Nachts im Parkhaus

Wir unterhalten uns, so wie es eben zwei Menschen machen, die sich nicht kennen. Dabei duzen wir uns. Angelo war Automechaniker in Italien und kam vor vier Jahren nach Deutschland. Der 55 Jährige schläft nachts im Parkhaus und mittags geht er mit seinen sechs Plastik- und Papierbeuteln zu dem kleinen Platz. Wenn er redet, sagt er öfter „ecco“ und „certo“, sucht lange nach Worten, die er nur in seiner Muttersprache kennt.

Mir kommt etwas in den Sinn: Ein Teil des Geldes, das ich verdiene, das ich vielleicht für Dinkelnudeln oder eine Fjällräventasche ausgebe, könnte ich genauso diesem Mann geben und vielleicht sein Leben nicht ändern, aber doch vielleicht um 10 Prozent besser machen oder?

Warum nicht einladen?

Warum tue ich es also nicht und warum lade ich ihn nicht ein, in meine Einzimmerwohnung, in der die gemütlichste Ikea-Couch der Welt steht – mache ihm Nudeln und wir schauen Bundesliga und trinken gemeinsam ein Bier? Ich weiß es einfach nicht.

Wir sprechen über Globalisierung, Armut, Mietwohnungen (auf die er als EU-Bürger eh kein Anrecht hat), über Berliner Bezirksbürgermeister, die ihn am besten abschieben wollen, über 10 000 Obdachlose allein in Berlin, über das Leben, über den nahenden Winter. Januar und Februar seien ganz schlimm, erzählt er und als ob er die Kälte jetzt schon spüre, reibt er kurz seine Hände gegeneinander. Während unseres Gesprächs spielt ein junges Pärchen ganz unbekümmert Badminton. Bei jedem Treffer leuchtet der Ball rot auf. Vielleicht Armleuchter?

Man muss aufpassen

Dass das Magazin Forbes kürzlich herausgefunden hat, dass sich die weltweite Zahl der Dollarmilliardäre seit 2010 auf 2000 verdoppelt hat, weiß er nicht. Dass die Reichen in einem Land mehr Einfluss auf die Gesetzgebung haben, kann er sich dagegen denken. Was würde passieren, wenn jeder von uns einem Obdachlosen Obdach für nur einen einzigen Tag bieten würde? Das würde die Situation nicht nachhaltig verbessern, aber für einen Tag wäre der Glaube an die Menschheit restauriert – und das wäre es doch wert. Und was wäre, wenn wir wieder einen aktiven, statt einen aktivierenden Staat hätten?

Angelo beobachtet argwöhnisch jeden, der an uns vorbeigeht. „Man muss aufpassen, dass keiner meine Beutel klaut“, sagt er und sucht nach weiteren Pfandflaschen in den umliegenden Mülltonnen. Als er zurückkommt frage ich ihn: „Wie soll es weitergehen und wie willst Du mal leben?“ „Wollen?“, fragt er zurück. „Was meinst Du?“ Es stellt sich heraus, dass er das Wort „wollen“ nicht kennt. Wie auch? Wenn man verlernt hat, an die Menschen zu glauben, weil sie mehr Nackenschläge verpassen als Handschläge geben? Dann zückt er plötzlich aus einem seiner Beutel ein daumenlanges Langenscheidt-Wörterbuch: „volere“ steht endlich drin. Dennoch kommen wir heute nicht weiter.

Beim nächsten Mal

Ich lasse ihn allein. Heute schaffe ich es nicht, ihm einen Schlafplatz anzubieten. Aber ich bringe ihm noch alte Pfandflaschen, die ich wie den Turm von Pisa in meiner Küche aufgetürmt habe. Mein Gewissen ist rein. Doch mein Gewissen kann er nicht essen ebenso wenig mein Mitleid, aber den Erlös der Pfandflaschen gegen Nahrung eintauschen. Er lächelt.

Doch beim nächsten Mal will ich es besser machen. Vielleicht bekomme ich es hin, dass alle Berliner ihre Wohnungen nicht über Airbnb an Touristen vermieten, sondern kostenlos an Obdachlose? Oder brauchen wir im kommenden Winter eine „zehntausend Fuß lange Decke, welche die ganzen Vorstädte einfach zudeckt“, wie es einst Bertolt Brecht schrieb? Sicher ist: Ich gehe jetzt nicht mehr einfach an ihm vorbei, ohne zu grüßen, ohne zu fragen, wie es ihm geht. Immerhin ein kleiner Fortschritt. Ich habe auf Ricard gehört und etwas getan, was wert hat, weil ich einem Menschen ein Mensch war. Doch es genügt nicht. Es muss mehr passieren, egal ob wir es wollen oder nicht. Certo.