Brief an die Öffentlichkeit

NSU-Opferanwälte werfen Generalbundesanwalt Irreführung vor

In einem Brief an die Öffentlichkeit melden sich die Anwälte der NSU-Opfer zu Wort. Darin kritisieren sie das Plädoyer der Bundesanwaltschaft scharf. Sie werfen ihm Irreführung durch verzweifeltes Festhalten an der „Drei“-Täter-These vor. MiGAZIN veröffentlicht den Brief im Wortlaut:

Die Bundesanwaltschaft hat mit ihrem Plädoyer versucht, die Deutungshoheit über den NSU-Komplex zurückzuerlangen. Sie hat sich aber nicht darauf beschränkt, ihre lange überholte „Trio“-These auszubuchstabieren, sondern gleichzeitig all diejenigen diffamiert, die ihre Sichtweise nicht teilen, wie unter anderem Obleute der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, Journalisten und Nebenklägervertreter. Wer wie diese meint, dass der NSU mehr war als ein abgeschottetes „Trio“ wurde von Dr. Diemer als „Irrlicht“ bezeichnet und entsprechende Äußerungen als „Fliegengesumme“.

Oberstaatsanwältin Greger ging so weit zu behaupten, einige Nebenkläger hätten ihren Mandanten „versprochen“, es hätte an den Tatorten „rechte Hintermänner“ gegeben. Dafür hätten angeblich weder die Ermittlungen des BKA, noch die Untersuchungsausschüsse, noch das Gerichtsverfahren in seinen 374 Hauptverhandlungstagen Anhaltspunkte erbracht.

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Diese haltlose Behauptung unterstellt einigen Anwälten standeswidriges Verhalten, spricht den Mandanten ihr eigenes Urteilsvermögen ab und führt die Öffentlichkeit in die Irre. Zugleich sind diese Angriffe Ausdruck der Schwäche der Argumentation der Bundesanwaltschaft, es bleibt ihr nicht mehr als die bloße Behauptung:

Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt haben hat nicht ermittelt

Die Bundesanwaltschaft und das Bundeskriminalamt haben nicht nur aus Sicht der Nebenklage nicht alles getan, um weitere Unterstützer insbesondere an den Tatorten zu ermitteln. Auch der zweite Untersuchungsausschuss des Bundestages hat dies mit deutlichen Worten einstimmig festgestellt. Die Aufarbeitung des NSU-Komplexes auf Grundlage dieser mangelhaften Ermittlungen hat daher keineswegs ergeben, dass örtliche Unterstützer des NSU nicht existierten. Vielmehr ist gesichert, dass die Bundesanwaltschaft nach solchen Verdächtigen nicht mit der notwendigen Intensität gesucht hat.

Die Bundesanwaltschaft hat daher ihre Position – die Ermittlungen hätten gezeigt, es gäbe keine Unterstützer an den Tatorten – bislang auch nicht belegt. Vielmehr hat sie alles getan, dass diese Ermittlungsinhalte – soweit es überhaupt Ermittlungen in diese Richtung gab – nicht bekannt werden. Anträge von Nebenklagevertretern auf Einsicht in Akten zu diesen Ermittlungen wurden immer wieder abgelehnt.

Keine Beweiserhebung zu möglichen Unterstützern

In keinem Fall wurde in der Hauptverhandlung vor dem OLG München zu möglichen Unterstützern an Tatorten oder weiteren unbekannten Unterstützern Beweis erhoben. Die Bundesanwaltschaft ist vielmehr Anträgen und Fragen aus der Nebenklage zur Aufklärung von konkreten Hinweisen zu Unterstützern an den Tatorten stets mit der Begründung entgegengetreten, dass diese nicht verfahrensrelevant wären.

Die Untersuchungsausschüsse hatten keine eigene Ermittlungskompetenz und keine effektiven Möglichkeiten, um selbst weitere Unterstützer oder Mitglieder des NSU zu ermitteln.

Nicht belegte Behauptung der Bundesanwaltschaft

Auch die Bundesanwaltschaft sieht offensichtlich Lücken in den eigenen Ermittlungen. So hat Oberstaatsanwältin Greger in ihrem Plädoyer beispielsweise eingeräumt, dass die Herkunft von allein drei der 20 beim NSU gefundenen Schusswaffen ermittelt wurde.

Damit stellt es eine schlicht nicht belegte Behauptung der Bundesanwaltschaft dar, dass der NSU keine örtliche Hilfe beim Ausspähen der z.T. versteckten Tatorte hatte. Mindestens weitere 17 Schusswaffen, der Sprengstoff und die Munition müssten nach dieser Logik allein von Unwissenden gekommen sein. Das Lied „Döner-Killer“ wäre ohne Kenntnis vom NSU entstanden und der an rechte Szenemagazine versandte so genannte NSU-Brief wäre von keinem der Adressaten verstanden worden, usw.

Verzweifeltes Festhalten an der „Trio“-These

Das verzweifelte Festhalten der Bundesanwaltschaft an der These vom isolierten „Trio“ trotz einer Vielzahl entgegenstehender Hinweise und offener Fragen lässt sich im Wesentlichen durch zwei zentrale Motive erklären:

Je größer das wissende Netzwerk von Unterstützern war, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Behörden über ihre zahlreichen V-Leute um den NSU herum Kenntnis von dessen Existenz und Taten hatten. Zugleich verschleiert die These vom abgeschotteten Trio das Ausmaß militanter Nazistrukturen in Deutschland. Damit wiederholen die Sicherheitsbehörden ihr Verhaltensmuster, das erst die dreizehnjährige Existenz des NSU mit ermöglichte.

Bundesanwalt verunsichert Familien der Mordopfer

Eine Verkehrung der Umstände stellt die Behauptung von Bundesanwalt Dr. Diemer dar, die Verletzten und Hinterbliebenen des NSU-Terrors und die Öffentlichkeit würden verunsichert, wenn man die These des abgeschotteten Trios in Frage stellen würde. Tatsächlich ist die Verunsicherung bei den Familien der Mordopfer und der Bombenanschläge groß, weil weiterhin Unklarheit über das Ausmaß neonazistischer Strukturen, staatliches Wissen und damit auch die eigene weitere Gefährdung besteht. Gerade das liegt in der Mitverantwortung der Bundesanwaltschaft.

Die unterzeichnenden Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte: Seda Başay-Yıldız, Antonia von der Behrens, Dr. Mehmet Daimagüler, Dr. Björn Elberling, Berthold Fresenius, Alexander Hoffmann, Carsten Ilius, Stephan Kuhn, Sebastian Scharmer, Dr. Peer Stolle

Wir rufen die Öffentlichkeit dazu auf, die Plädoyers der Nebenklage zahlreich zu besuchen und sich ein eigenes Bild zu machen. Dort werden im Gegensatz zur Bundesanwaltschaft die ideologische und strukturelle Einbettung des NSU in eine organisierte rechte Szene, das staatliche Mitverschulden, die Auswirkungen der Taten auf die Betroffenen und die über Jahre hinweg betriebenen strukturell rassistischen Ermittlungen eine Rolle spielen. In den Plädoyers der Nebenklage werden auch erstmals sechs Familien von durch den NSU Ermordeten, von denen im Prozess niemand als Zeuge gehört wurde, die Möglichkeit haben, selbst oder über ihr Anwälte, ihre Sichtweise darzulegen.