Nach dem Anschlag in Berlin

Keine einseitigen Vereinfachungen zulassen

Als am Montagabend ein Lastwagen in den Charlottenburger Weihnachtsmarkt fuhr und dabei zwölf Menschen tötete und Dutzende verletzte, saß ich auf der Verleihung des Integrationspreises der Bundesregierung im Bundeskanzleramt. Es war eine friedliche Veranstaltung – während nur wenig Kilometer weiter viele Menschen durch einen Gewaltakt starben …

Meine Freunde Abdul Abbasi und Allaa Faham wurden neben einigen anderen Personen von der Integrationsbeauftragten für ihr Engagement in Sachen „Integration“ ausgezeichnet. Ich finde Veranstaltungen wie diese ambivalent. Sie schenken Menschen Aufmerksamkeit und Anerkennung, die ihnen und ihren Projekten gebührt. Sie vermitteln aber auch ein ganz bestimmtes Verständnis von „guter Integration“ – u.a. mit der Folge, dass Geflüchtete und Migrant_innen, die sich nicht in diesem Sinne verhalten, sanktioniert und für ihre „Integrationsmisserfolge“ selbst verantwortlich gemacht werden. Mit dem Finger wird dabei auf die ausgezeichneten „gut Integrierten“ gezeigt, die es ja schließlich auch aus eigener Kraft geschafft hätten. Aspekte struktureller Benachteiligung sowie von Diskriminierung und Rassismus, die dazu führen, dass letztlich nicht „Jede_r seines eigenen Glückes Schmied“ sein kann, rücken einmal mehr in den Hintergrund …

Ich saß an dem Abend direkt hinter Angela Merkel. Die Preisträger_innen wurden vorgestellt, ein junger Gospelchor sang, während Merkel immer wieder auf ihr Handy blickte. Ich fragte mich, wie beschäftigt sie sein muss, dass sie selbst in den wenigen Minuten ihrer Anwesenheit ihr Handy nicht einmal zur Seite legen kann … später verstand ich, warum …

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Bundeskanzlerin Angela Merkel während der Verleihung des Integrationspreises der Bundesregierung im Bundeskanzleramt © Ellen Kollender

Als ich das Kanzleramt verließ, bekam ich einen Briefbeschwerer mit einer Bundesadlergravur in 3D geschenkt – „Made in Germany“ stand drauf – ein Label, mit dem sich bald auch eine Seehoferische Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik schmücken kann? Bitte nicht!!! Ich stieg ins Taxi und wurde begrüßt mit: „Das war bestimmt ein Flüchtling. War ja klar, dass das passiert. Hätte man die mal nicht alle einfach so reingelassen, wa?“… Im selben Moment bekam ich eine Nachricht von meinem Freund S.. S. war vor zwei Jahren aus Afghanistan über den Landweg nach Deutschland geflüchtet. Während seiner Flucht wurde er von der ungarischen Polizei so schwer misshandelt, dass selbst nach drei Operationen sein Gehörsinn auf einem Ohr nicht wiederkam. S. schrieb: „Ich hoffe nur, dass es kein Flüchtling war. Ich habe Angst, was dann passiert“…

Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse in diesen Tagen ist schwer zu ertragen. Im eigenen Alltagssumpf zu stecken, zuzusehen wie sich überall neue Tragödien ereignen, Rechtspopulismus, Neo-Faschismus und Neoliberalismus aufstreben, während die grausamen Taten Einzelner als Legitimation für diese Verhältnisse herhalten sollen, welche wiederum Anlass für andere sind, um menschenverachtende Taten auszuüben, während sich die Täter_innen wiederum in den Effekten ihrer Taten bestärkt sehen (wie der Destabilisierung gesellschaftlicher Zusammenhalte durch rechtspopulistische Debatten) – wie lässt sich aus diesem Teufelskreis aussteigen und etwas Neues beginnen?

Im Rückblick auf die Preisverleihung und die Preisträger_innen, die eine Stunde zuvor noch so leidenschaftlich, überzeugt und ohne großes Inszenierungsgehabe ganz selbstverständlich von ihrer Arbeit im Migrationszentrum, im inklusiven Fußballverein oder in der Flüchtlingsunterkunft erzählten, dachte ich: Wahnsinnig vieles läuft auch irgendwie gut. Hilft ja auch nichts. Außer Weitermachen. Und dabei das und die Gute(n) zu bündeln. Hannah Arendt hat in ähnlichem Zusammenhang einmal geschrieben: „Was den Menschen zu einem politischen Wesen macht, ist seine Fähigkeit zu handeln; sie befähigt ihn, sich mit seinesgleichen zusammenzutun, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen, sich Ziele zu setzen und Unternehmungen zuzuwenden, die ihm nie in den Sinn hätten kommen können, wäre ihm nicht diese Gabe zuteilgeworden: etwas Neues zu beginnen.“

Sich weiter im Kleinen und Großen solidarisieren. Gemeinsam Gegendiskurse aufbauen. Dabei demokratische, anti-rassistische, anti-faschistische und neoliberalismus-kritische Positionen stärken. Im Gespräch und in der Aushandlung bleiben. Uns durch den Austausch weiterbilden. Uns gegenseitig in der Sache und im Handeln kritisch reflektieren. Mutig sein. Bereit sein, Privilegien sowie Macht abzugeben und zu teilen. Geduld haben. Keine einseitigen Vereinfachungen der Komplexität der Geschehnisse zulassen – auch wenn der Wunsch nach einfachen Erklärungen groß ist. Und so durch viele kleine Schritte und Taten etwas Neues beginnen. Das ist zumindest eine Perspektive, die mir in diesen Tagen ein wenig Hoffnung macht …