Historiker Rödder

Überheblichkeit hilft nicht gegen Populisten

Der Historiker Andreas Rödder erforscht seit vielen Jahren das Wertesystem der Deutschen. Seit 2005 ist er Professor für Neueste Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Im Gespräch fordert der 49-Jährige eine offenere Debattenkultur über den gesellschaftlichen Wandel und warnt davor, Populisten mit Selbstgefälligkeit entgegenzutreten.

Der europäische Einigungsprozess steckt offenkundig in einer schweren Krise. Warum hat die Idee Europa ihre frühere Strahlkraft verloren?

Rödder: Eine Idee wird immer dann schädlich, wenn sie sich von Realitäten löst. Genau das ist der Europäischen Union geschehen. Die Integration hat sich irgendwann zu einer Politik des „vorwärts immer, rückwärts nimmer“ verselbständigt. Die einzige Antwort der proeuropäischen Eliten auf jedes Problem lautete „mehr Europa“ – das heißt: die Dosis zu erhöhen, wenn die Medizin nicht anschlägt, ohne Rücksicht auf Nebenwirkungen. Durch die Stilisierung zu einer Werte- und Schicksalsgemeinschaft gefährdet die EU ihre Errungenschaften und sich selbst. Sie hat darüber ignoriert, dass es nach wie vor erhebliche politische und kulturelle Differenzen auf allen Ebenen gibt – und das schlägt nun in der Währungsunion und in der Flüchtlingspolitik durch.

___STEADY_PAYWALL___

Welche Folgen wird das Ihrer Ansicht nach haben?

Rödder: Ich bin kein Schwarzmaler. Aber tatsächlich ist nicht auszuschließen, dass der Brexit den vermeintlich in Stein gemeißelten Grundsatz umkehrt, dem zufolge Europa sich gerade durch seine Krisen stets weiterentwickelt. Wir erleben, wie sich die politische Diskussionslage momentan massiv verändert. Ich höre inzwischen bereits Stimmen, die die EU mit der späten Sowjetunion gleichsetzen. Die enormen Gewinne durch die europäische Integration rücken dabei so weit in den Hintergrund, dass wir vom einen ins andere Extrem zu verfallen drohen. Wir erleben eine Welle des Populismus in Europa. Und die demokratische Mitte wird darüber sprachlos.

Worin sehen Sie die Ursache für den wachsenden Zuspruch populistischer Kräfte in ganz Europa?

Rödder: Der hat verschiedene Ursachen, und wir sollten sehr vorsichtig gegenüber vorschnellen Erklärungen sein. Ich bin besonders skeptisch gegenüber denen, die mit den einfachen Erklärungen kommen, es handele sich um Globalisierungsverlierer und abgehängte Kleinbürger, denen gegenüber dann paternalistisches Mitleid geäußert wird. Diese selbstgewisse Überheblichkeit macht es sich zu leicht und hilft nicht weiter.

Muss man sich angesichts von Trump, Orbán und all den anderen Populisten denn keine Sorgen machen um das demokratische Modell, auf dem westeuropäische Gesellschaften lange Zeit aufbauten?

Rödder: Zumindest ist man zu selbstgewiss und geradezu ideologisch davon ausgegangen, das westliche Modell stelle das Ende der Geschichte dar. Das war die Erwartung von 1990. Und nun erfährt dieses Modell im 21. Jahrhundert einen Schlag nach dem anderen. Es begann mit dem 11. September 2001, einem terroristischen Angriff von außen. Dann kam der Schlag von 2008: Das Modell der entfesselten Marktwirtschaft, das Mantra seit 1990, erlitt mit der Weltfinanzkrise einen massiven Glaubwürdigkeitsverlust. Und in diesem Moment wurde die Bühne frei für eine andere Form von Leitkultur im Zeichen von Antidiskriminierung, Diversität, Gender Mainstreaming und Inklusion.

… eine Entwicklung, die Sie als „grüne Leitkultur“ bezeichnet haben …

Rödder: Ja, und sie hat große Freiheitsgewinne für Menschen gebracht, die in der vorherigen Ordnung benachteiligt waren: für Frauen, Homosexuelle bis hin zu Menschen, die sich dem klassischen zweigeschlechtlichen Schema nicht zuordnen können. Aber während ein Homosexueller heute in Deutschland viel freier lebt als vor 30 Jahren, muss sich eine Vollzeitmutter nun von der Bundesfamilienministerin anhören, ihr Familienentwurf sei problematisch. Was ich damit sagen will, ist, dass diese Leitkultur der Inklusion ebenfalls ausgrenzt. Wenn ein Ungar so unvorsichtig ist, an einer deutschen Talkshow über Flüchtlingspolitik teilzunehmen, lernt er das gesamte Hochamt deutscher moralischer Selbstgewissheit kennen. Dasselbe gilt für Vertreter der AfD, und zu einem großen Teil übrigens auch für Vertreter der CSU.

Was ist das Problem, wenn Thesen wie die von AfD oder CSU im öffentlichen Meinungsstreit Kontroversen hervorrufen?

Rödder: Dass Positionen Widerspruch erzeugen, ist gar kein Problem, im Gegenteil. Widerspruch gehört zur politischen Debatte. Problematisch ist, dass wir eine bleierne Konsenskultur ausgeprägt haben, die dem Gemeinwesen überhaupt nicht guttut. Das Problem ist nicht Auseinandersetzung, sondern Ausgrenzung. Der Unterschied zwischen beidem liegt in den hochgezogenen Augenbrauen, im Tonfall, in dem über bestimmte Positionen geredet wird.

Und woran machen Sie fest, dass nicht nur politische Positionen, sondern auch Lebensentwürfe ausgegrenzt werden? Auch an den Augenbrauen?

Rödder: Nehmen wir die Auseinandersetzung um das Betreuungsgeld. Man kann gegen das Betreuungsgeld gute ordnungspolitische Gründe geltend machen, weil es eine eigenartige Idee ist, eine Leistung daran zu knüpfen, dass man auf eine andere Leistung verzichtet. Aber das war nicht Thema der Debatte. Die Debatte hatte vielmehr einen kulturkämpferischen Charakter gegen die traditionelle Form der Familie und Vollzeitmütter. Hier hat sich gezeigt, wie Emanzipation sich in neue Ausgrenzung verwandelt.

In kirchlichen Kreisen hört man immer wieder, die Grundsätze der AfD seien mit dem christlichen Weltbild nicht vereinbar. Kann man das so sagen?

Rödder: Eine tatsächliche Trennlinie, sowohl aus christlicher, als auch aus demokratischer Perspektive verläuft an der Grenze hin zum Völkischen, wenn Menschen anderer Hautfarbe oder anderer ethnischer Zugehörigkeit in ihrer Würde abgewertet werden. Das ist etwas, was wir im 21. Jahrhundert nicht mehr diskutieren müssen, und hier, am Artikel 1 des Grundgesetzes, endet auch verfassungsrechtlich die Meinungsfreiheit. Aber das heißt doch nicht, dass ich nicht kritisch gegenüber der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung sein kann, ohne völkisch oder rassistisch zu sein. Es gibt in der AfD noch immer liberal-konservative Positionen, wie sie vor zehn Jahren in der CDU vertreten wurden und wie sie noch heute viele in der CDU für richtig halten, ohne dass das verfassungsfeindlich wäre. Dann gibt es sehr traditionalistische Elemente, die sich vorher politisch nicht offen artikuliert haben. Und es gibt offen völkisch-fremdenfeindliche Elemente. Ich finde, die Grenze der Respektabilität verläuft nicht an der Grenze zur AfD, sondern mitten durch die AfD.

AfD-Vertreter sagen ganz offen, dass die Nöte der Menschen anderswo in der Welt Deutschland zunächst einmal nichts angehen. Lässt sich so eine Position mit christlichen Werten in Übereinstimmung bringen?

Rödder: Entweder Zäune hoch und Grenzen dicht oder Willkommenskultur für alle, die kommen wollen – das können doch keine ernsthaften politischen Alternativen sein. Gleichgültige Abwendung vom Rest der Welt ist tatsächlich keine christliche Position. Umgekehrt können sich selbst die Vertreter der Willkommenskultur nicht tatsächlich vorstellen, dass sich mehrere Hundert Millionen Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten nach Europa aufmachen. Dass Katrin Göring-Eckardt im vergangenen Jahr von „Menschengeschenken“ sprach, ist ihr inzwischen wahrscheinlich selbst peinlich. Ich finde, dass an der Politik der Regierung im Jahr 2016 viel Richtiges war, jedenfalls gab es in dieser Situation kein klares Falsch und Richtig. Aber die Kommunikation über die Flüchtlingspolitik, vor allem Frau Merkels Überhöhung zum „moralischen Imperativ“, waren hoch problematisch.

Wie erklärten Sie sich denn eine Politik, die einerseits an der Willkommenskultur festhält, sich aber andererseits zumindest klammheimlich über die abgeschotteten Grenzen der Balkan-Staaten freut, dann ein fragwürdiges Abkommen mit der Türkei abschließt – ohne in all dem einen Widerspruch zu sehen?

Rödder: Genau das halte ich für verheerend, weil es die Glaubwürdigkeit von Politik gefährdet. Verantwortungsvolle Politik muss gerade in einer Situation, in der es kein einfaches Falsch oder Richtig gibt, nach vernünftigen Lösungen suchen. Dann muss sie diese Lösungsvorschläge glaubhaft begründen und auch leidenschaftlich dafür eintreten, statt abrupt wechselnde Alternativlosigkeiten zu exekutieren. Das ist die einzige Möglichkeit, wie demokratische Politik der populistischen Herausforderung glaubwürdig begegnen kann. (epd/mig)