Kollektive Erinnerung

Russen? Deutsche? Russlanddeutsche.

Russlanddeutsche wählen zumeist konservativ und sind traditionell der CDU nahe, werden aber zunehmend enttäuscht. Die SPD hat diese Gruppe ohnehin verschlafen. Setzt sich die historische Diskriminierung fort? Von Michael Groys

Was haben Helene Fischer, Sergej Motz, Robert Stieglitz und Katharina die Große gemeinsam? Die Sängerin, der gefallene Bundeswehrsoldat, der erfolgreiche Boxer und eine Zarin verbindet der schwammige Begriff: Russlanddeutsche. Sind diese Menschen eigentlich russifizierte Deutsche, deutsche Russen oder eben eine Mischung aus beiden? Ich werde über die Identität, das Leben und Denken der sogenannten Spätaussiedler in Deutschland schreiben. Als jüdischer Immigrant bin ich zwar nicht ein Teil der Community, fühle mich ihnen aber sehr verbunden.

Nach Definition sind Aussiedler beziehungsweise Spätaussiedler Zuwanderer mit deutschen Wurzeln aus den Staaten des ehemaligen Ostblocks. Dabei entscheiden im wesentlichen drei Kategorien über die Angehörigkeit zur Gruppe der Spätaussiedler: Abstammung der deutschen Volkszugehörigkeit, Bekenntnis zum Volkstum und Sprachkenntnisse. Des Weiteren ist es ausschlaggebend, vor dem Jahr 1993 geboren zu sein, um als sogenannter Spätaussiedler bezeichnet zu werden. Was wissen wir eigentlich noch über rund vier Millionen Menschen? Welche politischen Ideen und Interessenvertretungen haben sie? Was sind eigentlich die Probleme dieser Menschen?

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Russlanddeutsche wählen zumeist konservativ und sind traditionell der CDU nahe. Der Grund dafür ist der starke Einsatz des Bundeskanzlers Kohls für deren Migration nach Deutschland. Bei Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion sind eindrucksvolle Narrative von großer Bedeutung für viele Generationen voraus. Gemacht hat die CDU seitdem aber wenig, was die Herausforderungen der Integration dieser Menschen betrifft. Die SPD hat diese enorme Gruppe einfach verschlafen beziehungsweise als Vertriebene abgestempelt, mit denen sich eher die Konservativen beschäftigen sollten. Das war ein fataler Fehler auch anderer linker Parteien, da die Spätaussiedler trotz gesetzlicher Gleichstellungen mit den Bio-Deutschen doch durchaus vergleichbare Probleme mit anderen migrantischen Communitys hatten, wie z.B. der jüdischen Flüchtlingskontingente.

Auf dem Papier als Deutsche, haben die Russlanddeutschen in diesem Land sehr stark mit dem Stempel „Russen“ zu kämpfen. Das Gleiche ist ihnen in der ehemaligen Sowjetunion widerfahren. Dort waren sie „Deutsche“, was gerade nach dem 2. Weltkrieg und darüber hinaus ihnen das Leben im sowjetischen Vielvölkerstaat das Leben erschwert hatte.

Diese historische Diskriminierung und auch Verfolgung durch Stalin hat bis heute seine Auswirkungen. Diese kollektive Erinnerung ist nach wie vor präsent und erzeugt ein durchaus widersprüchliches Bild vom heutigen Russland. Die Feierlichkeiten zum 9. Mai werden von Aussiedlern tendenziell eher gemieden. Vor allem bei vielen aus der jüngeren Generation der Spätaussiedler führt dies zu einer Identitätskrise.

Diese nichterzählte Geschichte wird vermehrt künstlerisch aufgegriffen, wie der im Jahr 2012 erschienene Film „Nemez“ des russlanddeutschen Regisseurs Stanislav Günther, der eben diese Identitätsproblematik aufgreift. Dennoch ist im Namen der Landsmannschaften, der politischen Hauptvertretung der Russlanddeutschen klar, wie sie sich sehen wollen als Deutsche aus Russland.

Dementsprechend kriegen die Russlanddeutschen Renten nach dem Fremdrentengesetz. Ihre Arbeitszeit in Russland oder anderen ehemaligen Sowjetrepubliken wird aus den deutschen Rentenkassen bezahlt, wobei nur zur Hälfte, was zur besonders starken Altersarmut unter den russlanddeutschen Rentnern führt. Diese Problematik ist offensichtlich in der Bundespolitik nur bedingt angekommen.

Die ganze Thematik rund um die Russlanddeutschen wurde in der deutschen Öffentlichkeit eher seltener behandelt beziehungsweise vollkommen vernachlässigt. Das änderte sich im Januar des Jahres 2016 als eine Demonstrations- und Protestwelle vor allem von Russlanddeutschen und anderen russischsprachigen Menschen in vielen deutschen Städten für Aufmerksamkeit sorgten. Der Ausgangspunkt war die angebliche Vergewaltigung eines minderjährigen russlanddeutschen Mädchens durch arabischstämmige Flüchtlinge. Als die Polizei ziemlich schnell widerlege, dass es weder eine Vergewaltigung noch eine Entführung gegeben hatte, mischte sich der russische Außenminister Lawrow ein.

Die AfD hat natürlich versucht, auf diesen Zug aufzuspringen und die emotional hochgekochte Stimmung für ihre Zwecke zu nutzen. Es ist schon zu vermerken, dass zum Beispiel bei den Wahlen ins Berliner Abgeordnetenhaus russischsprachige Menschen die AfD stark favorisiert haben, aber man sich davon nicht täuschen sollte. Entscheidend für diese Gruppe sind andere Fragen, solche wie eine angemessene Rente, Arbeit und Bildung.

Um gehört zu werden, müssen die Russlanddeutschen sich wohl auf dem politischen Markt teuer anbieten, denn keiner der Parteien hat es heute verdient, sich als Partei der Russlanddeutschen nennen zu können.

Diese Menschen sind ein fester Teil Deutschlands. Sie fühlen sich Deutsch und dennoch bleibt ihre russische Heimat stets ein Bestandteil ihrer Identität, die für Deutschland eine Bereicherung und kein Nachteil darstellt.