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Michael Groys © privat, bearb. MiG

Kollektive Erinnerung

Russen? Deutsche? Russlanddeutsche.

Russlanddeutsche wählen zumeist konservativ und sind traditionell der CDU nahe, werden aber zunehmend enttäuscht. Die SPD hat diese Gruppe ohnehin verschlafen. Setzt sich die historische Diskriminierung fort? Von Michael Groys

Von Freitag, 09.12.2016, 8:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 12.12.2016, 16:24 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Was haben Helene Fischer, Sergej Motz, Robert Stieglitz und Katharina die Große gemeinsam? Die Sängerin, der gefallene Bundeswehrsoldat, der erfolgreiche Boxer und eine Zarin verbindet der schwammige Begriff: Russlanddeutsche. Sind diese Menschen eigentlich russifizierte Deutsche, deutsche Russen oder eben eine Mischung aus beiden? Ich werde über die Identität, das Leben und Denken der sogenannten Spätaussiedler in Deutschland schreiben. Als jüdischer Immigrant bin ich zwar nicht ein Teil der Community, fühle mich ihnen aber sehr verbunden.

Nach Definition sind Aussiedler beziehungsweise Spätaussiedler Zuwanderer mit deutschen Wurzeln aus den Staaten des ehemaligen Ostblocks. Dabei entscheiden im wesentlichen drei Kategorien über die Angehörigkeit zur Gruppe der Spätaussiedler: Abstammung der deutschen Volkszugehörigkeit, Bekenntnis zum Volkstum und Sprachkenntnisse. Des Weiteren ist es ausschlaggebend, vor dem Jahr 1993 geboren zu sein, um als sogenannter Spätaussiedler bezeichnet zu werden. Was wissen wir eigentlich noch über rund vier Millionen Menschen? Welche politischen Ideen und Interessenvertretungen haben sie? Was sind eigentlich die Probleme dieser Menschen?

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Russlanddeutsche wählen zumeist konservativ und sind traditionell der CDU nahe. Der Grund dafür ist der starke Einsatz des Bundeskanzlers Kohls für deren Migration nach Deutschland. Bei Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion sind eindrucksvolle Narrative von großer Bedeutung für viele Generationen voraus. Gemacht hat die CDU seitdem aber wenig, was die Herausforderungen der Integration dieser Menschen betrifft. Die SPD hat diese enorme Gruppe einfach verschlafen beziehungsweise als Vertriebene abgestempelt, mit denen sich eher die Konservativen beschäftigen sollten. Das war ein fataler Fehler auch anderer linker Parteien, da die Spätaussiedler trotz gesetzlicher Gleichstellungen mit den Bio-Deutschen doch durchaus vergleichbare Probleme mit anderen migrantischen Communitys hatten, wie z.B. der jüdischen Flüchtlingskontingente.

Auf dem Papier als Deutsche, haben die Russlanddeutschen in diesem Land sehr stark mit dem Stempel „Russen“ zu kämpfen. Das Gleiche ist ihnen in der ehemaligen Sowjetunion widerfahren. Dort waren sie „Deutsche“, was gerade nach dem 2. Weltkrieg und darüber hinaus ihnen das Leben im sowjetischen Vielvölkerstaat das Leben erschwert hatte.

Diese historische Diskriminierung und auch Verfolgung durch Stalin hat bis heute seine Auswirkungen. Diese kollektive Erinnerung ist nach wie vor präsent und erzeugt ein durchaus widersprüchliches Bild vom heutigen Russland. Die Feierlichkeiten zum 9. Mai werden von Aussiedlern tendenziell eher gemieden. Vor allem bei vielen aus der jüngeren Generation der Spätaussiedler führt dies zu einer Identitätskrise.

Diese nichterzählte Geschichte wird vermehrt künstlerisch aufgegriffen, wie der im Jahr 2012 erschienene Film „Nemez“ des russlanddeutschen Regisseurs Stanislav Günther, der eben diese Identitätsproblematik aufgreift. Dennoch ist im Namen der Landsmannschaften, der politischen Hauptvertretung der Russlanddeutschen klar, wie sie sich sehen wollen als Deutsche aus Russland.

Dementsprechend kriegen die Russlanddeutschen Renten nach dem Fremdrentengesetz. Ihre Arbeitszeit in Russland oder anderen ehemaligen Sowjetrepubliken wird aus den deutschen Rentenkassen bezahlt, wobei nur zur Hälfte, was zur besonders starken Altersarmut unter den russlanddeutschen Rentnern führt. Diese Problematik ist offensichtlich in der Bundespolitik nur bedingt angekommen.

Die ganze Thematik rund um die Russlanddeutschen wurde in der deutschen Öffentlichkeit eher seltener behandelt beziehungsweise vollkommen vernachlässigt. Das änderte sich im Januar des Jahres 2016 als eine Demonstrations- und Protestwelle vor allem von Russlanddeutschen und anderen russischsprachigen Menschen in vielen deutschen Städten für Aufmerksamkeit sorgten. Der Ausgangspunkt war die angebliche Vergewaltigung eines minderjährigen russlanddeutschen Mädchens durch arabischstämmige Flüchtlinge. Als die Polizei ziemlich schnell widerlege, dass es weder eine Vergewaltigung noch eine Entführung gegeben hatte, mischte sich der russische Außenminister Lawrow ein.

Die AfD hat natürlich versucht, auf diesen Zug aufzuspringen und die emotional hochgekochte Stimmung für ihre Zwecke zu nutzen. Es ist schon zu vermerken, dass zum Beispiel bei den Wahlen ins Berliner Abgeordnetenhaus russischsprachige Menschen die AfD stark favorisiert haben, aber man sich davon nicht täuschen sollte. Entscheidend für diese Gruppe sind andere Fragen, solche wie eine angemessene Rente, Arbeit und Bildung.

Um gehört zu werden, müssen die Russlanddeutschen sich wohl auf dem politischen Markt teuer anbieten, denn keiner der Parteien hat es heute verdient, sich als Partei der Russlanddeutschen nennen zu können.

Diese Menschen sind ein fester Teil Deutschlands. Sie fühlen sich Deutsch und dennoch bleibt ihre russische Heimat stets ein Bestandteil ihrer Identität, die für Deutschland eine Bereicherung und kein Nachteil darstellt. Aktuell Meinung

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  1. Erhard Stölting sagt:

    Der Artikel von Michael Groys ist sehr hilfreich. Er ließe sich ergänzen: Bei den heutigen Rußlanddeutschen handelt es sich überwiegend um Nachkommen von seit dem 18. Jahrhundert angeworbenen bäuerlichen Einwanderern aus deutschsprachigen Regionen Europas. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 wurden sie sofort nach Sibieren und nach Kasachstan deportiert und bis in die fünfziger Jahre in eigenen Lagern gehalten. Unter Chruschtschow ließ ihre Diskrimierung nach, später wurden sie schrittweise wieder zu weiterführenden Bildungseinrichtungen zugelassen. Sie haben also identitätsprägende kollektive Erfahrungen. In den sowjetischen Personalpapieren wurde neben der Staatsangehörigkeit (UdSSR) auch die Nationalität vermerkt, z.B. „ukrainisch“, „russisch“, „udmurtisch“ usw, . Bei den Sowjetdeutschen hieß es „deutsch“.

  2. Alex sagt:

    Danke für diesen Artikel!

    Jetzt noch einmal ein Rußlanddeutscher, der einfach Mal die Wahrheit sagen möchte:

    Es ist so, dass zwar 40.000 Rußlanddeutsche im Januar auf die Straße gingen, aber es sind nur 1% der 4 Mio. Rußlanddeutschen. Diese 1% werden höchst-wahrscheinlich entsprechende Partei wählen. Logischerweise können 1% keine Meinung der 99% repräsentieren. Von dem her sind wir keine Rassisten, sondern eher konservativ. Gegen Flüchtlinge haben wir nichts und können deren Situation sehr gut nachvollziehen. Man darf nicht sagen, dass wenn einer was kriminelles macht, dass automatisch alle so seien.

    Wir können zwei Sprachen und lesen „zwischen den Zeilen“ und können ganz leicht die zurecht gebogene Berichterstattung erkennen und diese hinterfragen. Mittlererweile finden wir es als eine Art amysanten Running-Gag, wenn Russen jeden Tag an wirklich Allem in der Welt Schuld seien.

    In Rußland gab es verdeckte Diskriminierung gegenüber Nicht-Russen. Jüden und Deutsche wurden und werden dort immer noch gleichermaßen diskriminiert (Jüden sogar noch mehr). Auf einer Karriereleiter kann es schwer sein, wenn im Pass o.g. Volkszugehörigkeit steht (allen voran „deutsch“, „jüdisch“). Andere Volksgruppen hatten es leichter. Hier in Deutschland fragen mich jene, woher ich komme, die selber mal Aussiedler sind oder waren (aus Polen, Tschechien, Rumänien). Ausgerechnet sie werfen uns Rußlanddeutschen vor, keine Deutsche zu sein. Wenn Deutsche aus Rußland keine Deutsche seien, dann sind eben genannte ebenfalls keine Deutsche. Die richtige Bezeichnung für uns wäre „Deutsche aus Rußland“ (keine Russen-Deutsche).

    Deshalb ist es für uns eine Beleidigung, wenn man uns fragt, woher wir kommen, nur um uns schön in eine seit vielen Jahren gemachte solide Schublade zu stecken. Vorurteile abzulegen wäre hier das richtigere, nicht wahr? Dazu gab es ein Sprichwort von A. Einstein.

    Allgemein wird hier in Deutschland kein Unterschied zwischen den Russen und Rußlanddeutschen gemacht. Es gibt „Russen aus Rußland“, „Deutsche aus Rußland (Rußlanddeutsche)“ und gemischte Familien z.B. deutscher Vater und russische, jüdische, … Mutter oder anderst herum. Deutsche aus Rußland sind Deutsche und nicht Russen. Russen aus Rußland sind Russen und nicht Deutsche. Gemischte Familien sind gemischte Familien. Soviel zum Thema „deutscher Schäferhund“, wie ihr uns nennt.

    Angenommen, eine deutsche Familie würde jetzt beruflich nach Afrika auswandern. Dort werden ihre Kinder geboren. Diese Kinder gehen zurück nach Deutschland. Wie werden die dann hier bezeichnet? Afrikaner? Deutsche? Ist das Blut wichtiger oder der Geburtsort? Dieses Beispiel zeigt es uns am besten.

    Ich bemerke in den letzten Jahren in Deutschland eine verstärktere Hetze gegenüber Russlanddeutschen. Weil ich mich sehr viel für die Geschichte allgemein interessiere, sehe ich hier leider Parallelen zu der damaligen Hetze gegenüber jüdischem Volk. Es gibt unbelegte Vorurteile und Verdacht auf etwas, was nicht mal stimmt. (Nein – wir kriegen keine Autos, keine Häuser, keine vergünstigte Kredite, keine bessere Ausbildung als jedermann, …). Geld gab es für ganz Alte, die in den Kriegsjahren darunter gelitten haben. Deutsche aus Rußland, die in den 90er Jahren kamen hatten das nicht. Über ein Kredit lässt sich ein Auto kaufen oder ein Haus bauen (Kredit ist eine Verpflichtung und kein Spaß, also kein Geld vom Himmel geflogen). Außerdem gibt es gegenseitige Nachbarschaftshilfe.

    Leihfirmen, Fließband, Pflegeberufe, Mobbing, Diskriminierung, … sind unser Schicksal. Die Arbeitslosigkeit ist eine Falle und es braucht viele hunderte Absagen bis evtl. eine Einladung zu einem Gespräch kommt, was nicht einmal sicher für einen Job ist. Und wer diesen Zustand (Hartz 4) noch beneiden kann ist einfach nur ein Steinmensch.

    Gegen Schwule oder Lesben haben wir nichts. Jeder soll es selber wissen, wir er/sie damit umgeht. Was aber nicht richtig ist, den Kindern im Kindergarten/Schule solche Themen überhaupt beizubringen. Frühestens in der 8/9 Klasse wäre das noch akzeptabel. Ein Kind soll eben auch ein Kind bleiben und Kinder haben eine sensible Psyche. Von daher ist der Vorwurf, dass Rußlanddeutsche Schwulenfeindlich sind nicht haltbar.

    Außerdem koexistieren wir sehr wohl mit anderen Völkern und in unserem Freundeskreis gibt es Multi-Kulti und wir sind nicht unter uns. Konservative Haltung der Rußlanddeutscher war eine Haltung der in den Vorkriegsjahren geborener Deutschen aus Rußland.

    Die, die unsere Geschichte nicht kennen oder vielleicht absichtlich ignorieren wollen, gibt es hier eine Zeitstaffel von der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland http://lmdr.de/russlanddeutsche/ und Informationen aus Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Russlanddeutschen .