Flüchtlingsrechte in Russland

Mathematikerin im Dienst der Menschlichkeit

Im Ausland geehrt, in der Heimat attackiert: Swetlana Gannuschkina lässt sich trotz Anfeindungen in ihrem Einsatz für Verfolgte und Armutsflüchtlinge nicht erschüttern. Jetzt erhält sie den Alternativen Nobelpreis.

Eine Mathematik-Dozentin ist wahrscheinlich die beste Kennerin des verworrenen russischen Ausländer- und Flüchtlingsrechts. Seit über 25 Jahren steht Swetlana Gannuschkina an der Spitze der von ihr mitbegründeten Vereinigung „Ziviler Beistand“ – der ältesten Flüchtlingshilfe-Organisation des Landes. Längst wurde die Moskauerin zur Ikone der russischen Bürgerrechtsbewegung. Für ihren unermüdlichen Einsatz zugunsten von Flüchtlingen, Kriegsopfern und rechtlosen Arbeitsmigranten erhält die 74-Jährige am Freitag in Stockholm den Alternativen Nobelpreis der Right-Livelihood-Stiftung.

Eine klassische Dissidentin oder Menschenrechtlerin wollte Gannuschkina nach eigener Aussage nie sein. Neugierde und „meine Angewohnheit, mich in fremde Angelegenheiten einzumischen“, hätten sie in den Kaukasus geführt, als dort Ende der 80er Jahre der Konflikt zwischen Armeniern und Aserbaidschanern ausbrach. Die Organisation „Graschdanskoje Sodejstwije“ („Ziviler Beistand“) entstand damals als Antwort auf die ersten große Flüchtlingsströme. Ebenso das Menschenrechtszentrum der Bewegung „Memorial“, für das sich Gannuschkina ebenfalls seit der damaligen Umbruchzeit engagiert.

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Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde Gannuschkinas Büro auch zum Zufluchtsort für Menschen aus vielen anderen Krisengebieten: für ausgebombte tschetschenische Familien und Wirtschaftsflüchtlinge aus den bettelarmen mittelasiatischen Republiken ebenso wie für ethnische Russen, die vor dem Nationalismus der einstigen Brudervölker flohen. Gannuschkina und ihre Mitstreiter kämpfen gegen Polizeiwillkür und für das Recht von Flüchtlingskindern auf Schulbesuch, aber auch dafür, dass Menschenrechtsverletzungen in Regionen wie Tschetschenien geahndet werden.

Manchmal, so erklärte die Aktivistin einmal, gebe es so viele Hilfesuchende, „dass wir kaum noch zu unseren Schreibtischen durchkommen“. Die Gleichgültigkeit von Staatsapparat und weiten Teilen der Bevölkerung gegenüber der Not von Flüchtlingen und die bis ins Absurde komplizierten Ausländergesetze hält sie für einen Skandal. Der größte Mangel der russischen Flüchtlingspolitik liege darin, dass es gar keine Flüchtlingspolitik gebe. Ihren Sitz im offiziellen Menschenrechtsbeirat des russischen Präsidenten Putin hatte Gannuschkina schon vor einigen Jahren im Streit aufgegeben. Die Anliegen der Beiratsmitglieder seien nicht mehr ernstgenommen worden.

Vor den Dumawahlen 2016 beteiligte die Aktivistin sich mit anderen Bürgerrechtlern an dem vergeblichen Versuch, zwischen den heillos zerstrittenen Anführern der prowestlich-liberalen russischen Opposition zu vermitteln. Schließlich trat sie selbst als Kandidatin für die sozialliberale Partei Jabloko an – nicht in ihrer Heimatstadt Moskau, sondern in Tschetschenien. Dort blieb sie von vorneherein chancenlos, während die Kreml-Partei „Einiges Russland“ mit angeblich über 96 Prozent der Stimmen einen haushohen Sieg einfuhr.

International ist Gannuschkina hoch angesehen und wurde mehrfach für den Friedensnobelpreis nominiert. Doch in Russland selbst muss sie sich vermehrt gegen Anfeindungen zur Wehr setzen. Weil ihre Organisationen aus dem Ausland finanziell unterstützt werden, aber nach Auffassung der Behörden politisch aktiv sind, fallen mittlerweile sowohl Memorial als auch „Ziviler Beistand“ unter das berüchtigte russische „Auslandsagenten-Gesetz“, das missliebige Organisationen brandmarkt. „Ich muss zugeben, dass wir Agenten von Ausländern sind“, sagte Gannuschkina kürzlich ironisch in einem Interview: „Wir sind Agenten von Flüchtlingen, schwangeren Frauen und ihren Kindern.“ (epd/mig)