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Grünen stimmen ab bei der Bundesdelegiertenkonferenz in Münster 2016 © Twitter

Auf postfaktisch folgt postdemokratisch

Grünen haben weder Religion noch Grundgesetz verstanden

In Deutschland gibt es vier große islamische Organisationen. Die Grünen beschlossen auf ihrer Bundesdelegertenkonferenz: keine einzige ist eine Religionsgemeinschaft. Murat Kayman wirft den Grünen doppelten Verfassungsbruch vor.

Von Montag, 14.11.2016, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 14.11.2016, 20:14 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Demokratischer Sittenverfall, Hybris, Entrechtung von Bürgern müssen keine existenziell bedrohlichen Ausmaße erreichen, bevor wir uns zum Widerspruch aufgerufen fühlen. Gerade unsere deutsche Geschichte verpflichtet uns und nimmt uns in die Verantwortung, bei solchen gesellschaftlichen Entwicklungen rechtzeitig und deutlich vernehmbar die Stimme zu erheben.

Mit der gleichen Selbstgefälligkeit, mit der unsere etablierten politischen Kräfte auf die Präsidentenwahl in den USA blicken, nehmen sie offenkundig auch ihr eigenes politisches Handeln wahr. Bevor also das Super-Wahljahr 2017 anbricht, hier der Hinweis auf die aktuellen Verirrungen unserer bundesdeutschen Politik:

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Die AfD gibt den Takt vor, die etablierten Parteien geben schrittweise und in tänzerischer Leichtigkeit die Errungenschaften unserer freiheitlichen Gesellschaft und Verfassungsordnung auf. Die AfD beschließt auf ihrem Parteitag, dass eine Weltreligion keine mehr ist. So kann das Selbstbild des demokratischen und zivilisierten Europäers aufrechterhalten bleiben. Weil der Islam keine Religion, sondern eine politische Ideologie sei, wolle man auch nicht die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit abschaffen, sondern bekämpfe nur eine Gefahr für unsere Demokratie.

CSU

Der gleichen Logik folgt die CSU in Bayern, wo sie einen „Islamunterricht“ an öffentlichen Schulen etabliert und proklamiert, es handele sich nicht um einen Religionsunterricht, sondern um „staatliche Aufklärung“. Folglich kann sie muslimische Kinder im Rahmen der Schulpflicht darüber belehren, was die CSU unter Islam versteht – ohne dass islamische Religionsgemeinschaften beteiligt werden müssten, wie es unser Grundgesetz zwingend vorsieht. Mit ihrem aktuellen Grundsatzprogramm geht die CSU sogar einen Schritt weiter und übernimmt die AfD-Formulierung von der politischen Ideologie, die sie mit Islamgesetzen bekämpfen will. Sondergesetze für Andersgläubige, knapp 70 Jahre nach Ende der Nazi-Diktatur.

Grüne

Selbst die Grünen und allen voran ihr religionspolitischer Sprecher Volker Beck haben die Entrechtung andersgläubiger Minderheiten als fruchtbares politisches Betätigungsfeld kurz vor der Landtagswahl in NRW und der Bundestagswahl entdeckt. In diesen Stunden, in denen dieser Text verfasst wird, haben die Grünen auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz in Münster beschlossen, dass die vier etablierten islamischen Religionsgemeinschaften in Deutschland keine mehr sein sollen.

Die AfD bestimmt, wer bei ihr Religionsangehöriger ist. Und die Grünen bestimmen, wer bei ihnen Religionsgemeinschaft ist. In Zeiten des Postfaktischen bedürfen solche „Beschlüsse“ auch keinerlei nachvollziehbarer oder gar schlüssiger Begründung. Es reicht, wenn solche Beschlüsse sich für die eigene politische Basis richtig anfühlen. Faktisch und rechtlich korrekt müssen sie gar nicht mehr sein.

Beck wird dann auch mit folgender Begründung zitiert: „Aber eine Struktur von Verbänden, die ihre Identität nicht der Religion, sondern der Politik der Heimatländer verdankt, hat mit Religionsgemeinschaft nichts zu tun.“

Postfaktisch ist auch diese Begründung weder sprachlich noch inhaltlich auch nur ansatzweise verständlich: Was ist eine „Struktur von Verbänden“? Was ist die „Identität“ einer „Struktur“? Und was soll „… eine Struktur…, hat mit Religionsgemeinschaft nichts zu tun.“ heißen?

Weder die Religion verstanden …

Gleichzeitig twittert Volker Beck folgenden Satz, der seine vollständige religionswissenschaftliche und verfassungsrechtliche Verirrung erkennbar macht: „Die TÜRKISCH-islamische Union der ANSTALT FÜR RELIGION, angeführt von einem türkischen Botschaftsrat, kann keine Religionsgemeinschaft sein.“

Dieser Satz unterscheidet sich nur graduell, aber nicht prinzipiell von der Ansicht des CSU Generalsekretärs über ministrierende Senegalesen. Beide Sätze lassen erkennen, dass ihre Urheber weder die Religion, noch das Grundgesetz verstanden haben, auf die sie sich jeweils beziehen.

So wie es griechische, russische, serbische, armenische, koptische Kirchengemeinden gibt und jeder separate Zusammenschluss solcher Gemeinden natürlich eine Religionsgemeinschaft im Sinne unseres Grundgesetzes ist, so gibt es auch marokkanische, bosnische, iranische oder eben türkische Moscheegemeinden mit ihren jeweils unterschiedlichen Auslegungen, Nuancen und Besonderheiten im jeweiligen Glaubensverständnis oder der Glaubenspraxis. Dies sind historisch gewachsene religiöse Identitäten, welche die Grünen den Muslimen im Vorbeigehen mal eben so absprechen.

… noch das Grundgesetz

Ebenso ist es für unser Grundgesetz gleichgültig, ob eine Religionsgemeinschaft einer ausländischen religiösen Institution angeschlossen ist oder mit dieser zusammenarbeitet. Die Anglikanische Kirche, die isländische Staatskirche, der Vatikan sind ausländische Institutionen, deren Partner oder Untergliederungen auch nach unserem Verfassungsrecht ohne Einschränkung Religionsgemeinschaft sein können bzw. schon sind.

Dass all diese religiösen Fakten den Grünen unbekannt sind, mag man vielleicht noch glauben. Die völlige Unkenntnis des geltenden Verfassungsrechts, kann man aber selbst Volker Beck nicht unterstellen. So mag er den türkischen Botschaftsrat nicht sympathisch finden, aber dessen Funktion als führender Theologe einer deutschen Religionsgemeinschaft als Ausschlusskriterium zu zitieren, muss schon als bewusste Verschleierung der verfassungsrechtlichen Wahrheit bewertet werden.

Denn natürlich kennt auch Volker Beck Artikel 140 des Grundgesetzes. Dort steht unter dem inkorporierten Artikel 137 Absatz 3 der Weimarer Reichsverfassung: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.“ Das ist geltendes Verfassungsrecht. Und deshalb gehört es zum garantierten Schutzbereich der Religionsfreiheit, dass Glaubensangehörige in ihren Gemeinden religiöse Ämter auch an Ausländer verleihen dürfen. An Senegalesen und auch an Türken. Und auch dann, wenn diese Menschen im Staatsdienst ihrer Herkunftsländer stehen, egal ob Isländer oder Türke.

Doppelter grüner Verfassungsbruch

Statt all das zu respektieren, verrenken sich die Grünen in immer verfassungswidrigeren Positionen. Und sie offenbaren dabei eine Doppelmoral, die der Glaubwürdigkeit der gesamten politischen Landschaft keinen Gefallen tut. Bei der Unterscheidung zwischen Religionsgemeinschaften und religiösen Vereinen lassen die Grünen jegliche Ernsthaftigkeit in der Argumentation vermissen. Mit den oben beschriebenen völlig abwegigen und verfassungswidrigen Positionen werden islamische Religionsgemeinschaften zu bloßen religiösen Vereinen degradiert und damit entrechtet. Eine Definition der Begriffe „Religionsgemeinschaft“ oder „religiöser Verein“ wird sich in der Grünen Argumentation kaum finden. Denn um faktische Erläuterungen geht es schon lange nicht mehr.

Stattdessen werden Beispiele für Organisationen genannt, die vermeintlich Religionsgemeinschaften – freilich nach Beck‘schen Gnaden – sein sollen. Immer wieder fallen die Namen Alevitische Gemeinde Deutschland e.V. (AABF), Muslimisches Forum Deutschland (MFD) und Liberal-Islamischer Bund e.V (LIB). Es ist gerade die Absurdität dieser Beispiele, die die postfaktische Natur der Grünen Positionen entlarvt. Denn gerade bei diesen Organisationen handelt es sich tatsächlich und rechtlich um religiöse Vereine und nicht um Religionsgemeinschaften.

Das MFD hat nicht einmal ein gemeinsames Bekenntnis, unter dem sich die Glaubensangehörigen zusammengeschlossen hätten. Der LIB e.V. stellt selbst fest, dass er keine Religionsgemeinschaft, sondern eine Interessenvertretung ist. Und bei der AABF handelt es sich um eine politische Interessenvertretung, die zumindest auf Bundesebene in keiner Weise umfassende identitätsstiftende religiöse Aufgaben für ihre Mitglieder übernimmt. Im Gegenteil hat sich die AABF endgültig und ausschließlich in der politischen Interessenvertretung verloren.

Somit ist die Position der Grünen bei dem Thema Religionsfreiheit doppelt verfassungswidrig: Die umfassend religiös tätigen islamischen Religionsgemeinschaften sollen entrechtet werden. Die mit Einzelaufgaben der politischen Vertretung beschäftigten religiösen Vereine – und mit dem MFD selbst eine Organisation, die nicht mal ein religiöser Verein ist – sollen gleichzeitig an unserem Grundgesetz vorbei zu Religionsgemeinschaften deklariert werden.

Das ist kein Kavaliersdelikt und auch keine raffinierte politische Finte. Das ist doppelter Verfassungsbruch, den sich bislang nicht mal die AfD getraut hat. Wer also kritisch auf die USA schaut, der sollte die verfassungswidrigen Trumpel in unserer unmittelbaren Nähe nicht aus dem Blick verlieren. Denn auf postfaktisch folgt postdemokratisch. Aktuell Meinung

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  1. Rerun sagt:

    @Deutschländer: Wenn man keine Argumente hat, bleibt nur die Beleidigung. Bin gespannt auf Ihrer Ausführungen zur Homologie der Geschlechtsteile und warum die Klitorisvorhaut unantastbar ist während diese bei Jungen angeblich ja nur ein wenig Haut ist. Menschenrechte, und zu denen gehören die sexuelle Selbstbestimmung und die körperliche Unversehrtheit nun mal, sind unteilbar und gelten für alle Menschen, auch männliche.

  2. Deutschländer sagt:

    Bitteschön, @Rerun, als Ausgangspunkt: http://www.who.int/hiv/topics/malecircumcision/en/

    Ist jetzt aber off-topic ;)

  3. munsterEi sagt:

    @Deutschländer

    Könnten Sie bitte noch ausführen warum die Klitorisvorhaut wichtiger ist, als die Penisvorhaut. Das würde mich auch mal interessieren.

    Was ihren letzten Post angeht: natürlich haben beschnittene Männer ein weniger hohes HIV Risiko, da ihnen ja ein Teil ihrer Empfindlichkeit an der Eichel genommen wurde. Ohne Zähne bekommt man ja auch kein Karies…