Flüchtling © Montecruz Foto @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG
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Barcelona oder sterben

Junge Menschen im Senegal träumen von Europa

Sie fahren mit Diplom in der Tasche übers Meer - um bestenfalls als Straßenhändler in Spanien zu enden. In Senegal hat das Auswandern eine lange Tradition. Doch mutige Frauen wollen nicht mehr hinnehmen, dass ihre Söhne im Mittelmeer ertrinken. Von Odile Jolys

Von Odile Jolys Mittwoch, 26.10.2016, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 01.11.2016, 16:07 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Die Frau mit der schwarz umrandeten Brille und dem roten Tuch um den Kopf senkt die Stimme. „Er hat sich auf die Reise gemacht, damit ich ein besseres Leben haben kann“, sagt die Senegalesin Yayi Bayam Diouf fast flüsternd. Sie ist 58 Jahre alt. Vor knapp zehn Jahren stieg ihr einziges Kind, ihr Sohn Alioune, in eine Piroge, ein einfaches Boot. Der damals 26-jährige startete in Thiaroye-sur-Mer, einem Fischerstädtchen im Großraum der senegalesischen Hauptstadt Dakar. Er wollte Richtung Spanien – und ertrank.

Jedes Jahr emigrieren Tausende Senegalesen nach Europa. Sie treten „die Reise“ an, sagen die Leute. Wenn sie kein Besucher- oder Touristenvisum für einen Flug ergattern können, nehmen viele den Landweg über Niger und weiter bis an die Mittelmeerküste, um die gefährliche Bootsfahrt zu wagen. In Senegal selbst starten nur wenige Pirogen, Europa ist zu weit. Genaue Migrationszahlen gibt es nicht. Die trauernde Mutter Diouf wollte indes nicht hinnehmen, dass immer noch Jugendliche auf dem Mittelmeer ihr Leben verlieren. Sie gründete eine Initiative.

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Senegal mit seinen rund 15 Millionen Einwohnern gehört zu den 25 ärmsten Ländern der Welt. Doch Armut ist nicht der einzige Grund, warum junge Männer und Frauen weggehen. Für Aly Tandian, Soziologe an der Universität Saint-Louis im Norden Senegals, ist Migration ein Thema in allen Gesellschaftsschichten: „Weggehen ist eine Strategie des sozialen Aufstiegs und hat eine lange Geschichte.“

Senegal gehört zu den fünf afrikanischen Ländern, die die EU für sogenannte Migrationspartnerschaften ausgewählt hat. Ziel ist, die Einwanderung nach Europa einzudämmen. Dazu gehören ein stärkerer Grenz- und Küstenschutz, die Bekämpfung des Schleuserwesens, aber auch Entwicklungsprojekte. Zudem ist die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber ein Thema. Im November sollen senegalesische Staatsbedienstete in Europa bei der Identifizierung von Landsleuten helfen, damit sie abgeschoben werden können. Die Migrationspartnerschaften mit Afrika sollen durch formale Abkommen besiegelt werden. Bis 2030 stellt die EU dafür acht Milliarden Euro in Aussicht. Weitere Partnerländer sind Niger, Nigeria, Mali und Äthiopien.

Während der Krise der Erdnussproduktion – lange das wirtschaftliche Rückgrat des Landes – zog die Jugend Ende der 1960er Jahre vom Land in den Großraum Dakar. Und schon vor der Unabhängigkeit ihres Landes von Frankreich 1960 hatten Senegalesen begonnen, als Gastarbeiter nach Frankreich und in die USA auszuwandern.

Damals hieß es bei der Volksgruppe der Solinkés, „nach Bordeaux gehen oder sterben“, wie Tandian erläutert. Seit der Jahrtausendwende ist der Spruch ähnlich bei den jungen Migranten wieder zu hören, die in die einfachen Boote Richtung Europa steigen wollen: „nach Barcelona gehen oder sterben“.

Der Migrationsexperte Tandian erinnert an den Wirtschaftsboom in Spanien in den 90er Jahren. Straßenhändler wurden dort toleriert. Jugendliche aus Senegal zog es dorthin, auch diejenigen mit einem Diplom in der Tasche.

Aber es ist auch eine Statusfrage. Diouf lebt in einer polygamen Ehe, wie viele Frauen im mehrheitlich muslimischen Senegal. „Als eine unter anderen, muss ich selber für meinen Unterhalt arbeiten“, sagt sie. „Ohne meinen Sohn bin ich in der Gesellschaft niemand. Wenn mein Sohn erfolgreich gewesen wäre, hätte ich an Ansehen gewonnen.“ Das muss sich ändern, findet sie.

Diouf wirkt bestimmt, aber auch etwas müde. Ihr Kampf gegen die illegale Migration ist auch ein Kampf für die Frauen. Ihr „Verein der Frauen gegen die illegale Migration“ in Thiaroye-sur-Mer hat heute über 300 Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Fast alle haben ein Kind auf der „Reise“ verloren. Der Verein will auf die Gefahren aufmerksam machen und Rückkehrern helfen.

Mit Unterstützung einer spanischen Hilfsorganisation entstand ein Bildungszentrum. Junge Leute sollen Schneidern, Frisieren, Kochen oder Gärtnern lernen, um in Senegal ihren Unterhalt zu bestreiten. Das Geld ist aber jetzt knapp, und die Kurse werden dieses Jahr kostenpflichtig sein – was das Aus bedeuten könnte.

Senegal gehört zu den Ländern, die die EU für ihre Migrationspartnerschaften ausgewählt hat. 2016 hat Brüssel knapp 74 Millionen Euro zur Bekämpfung der Ursachen der Abwanderung bereitgestellt. Diouf hat davon noch nichts gehört. Die Aufgaben sind indes gewaltig, denn wie in vielen afrikanischen Ländern wächst die Bevölkerung, in den nächsten 35 Jahren dürfte sie sich verdoppeln. Die Entwicklung kommt nicht hinterher: Brunnen müssen gebohrt, Stromleitungen gezogen, Schulen gebaut und Krankenhäuser errichtet werden.

Tandian geht hart mit der Regierung ins Gericht. „Sie spielt nur Theater“, sagt er. Die Regierung kassiere das Geld aus dem Ausland, habe aber keinen Plan, wie sie gegen Migration angehen kann: „Es passiert nichts.“ Die Europäische Union indes habe den Schutz ihrer Grenzen nach Afrika verlagert. (epd/mig) Ausland Leitartikel

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