10 Thesen

Muslime in Deutschland

In einer Zeit, in der die Öffentlichkeit in fast inflationärer Weise mit Erklärungen, Aufrufen und Deklarationen zur Islam-Debatte überschüttet wird, braucht es eine grundlegende Standortbestimmung. Es ist unverzichtbar, die Grundkoordinaten der aktuellen Diskussionen offenzulegen, um Akteure, Positionen und Argumente richtig einordnen zu können. Im Folgenden ein erster Auftakt für diese Standortbestimmung in 10 Thesen. Von Murat Kayman

These 1 – Das Narrativ des gesellschaftlich „Anderen“ hat einen historischen Transformationsprozess durchlaufen, resultiert aber gleichzeitig in der Perpetuierung der Vorstellung vom „Fremden“ – und das trotz der gestiegenen muslimischen Bemühungen zur Beheimatung ihres Glaubens und ihrer Gemeinden

Beginnend mit dem „Gastarbeiter“ in den Anfangsjahren der „Gastarbeitermigration“ bis in die 1980er Jahre hinein waren Muslime vor allem die kulturell Fremden – jene, die anders riechen, anders aussehen, anders reden. Damals hat man sie noch nicht Muslime genannt, sondern Türken.

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Im Zuge der deutschen Wiedervereinigung und der Herausforderung, ein neues deutsches „Wir“ zu konstruieren, wandelte sich das Bild dieses „Türken“ bis Anfang der 2000er Jahre zu dem, eines nationalen Fremden. Im Fokus standen Fragen des Staatsangehörigkeitsrechts, des Doppelpasses, des „Beileidstourismus“. Unausgesprochen, vielleicht auch nur unterbewusst, ging es um die Frage, wer der „deutsche Bürger“ ist. Der „Ausländer“, der seit 40 Jahren fest in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit verankert war oder der „Ossi“ nach 40 Jahren Sozialisation als politischer Gegner im Kalten Krieg?

Spuren dieses Wandels finden sich auch in den Schmähungen als exkludierende Begleitmusik jener Zeit: Aus „Kümmel-Türken“ und „Knoblauchfressern“ wurden „Ausländer“, denen possessiv deutlich gemacht wurde, dass „Deutschland den Deutschen“ gehört.

Heute sind wir bei dem Stereotyp des „Muslim“ angekommen, der unabhängig von kultureller Integration oder deutscher Staatsbürgerschaft, allein qua confessio als „religiöser Fremde“ markiert wird – und in dessen Skizzierung als „Fremder“ letztlich alle Marker der vorherigen Transformationsphasen verschmelzen: Denn er wird aufgrund seiner religiösen Identität und entgegen aller kulturellen Integrationsleistungen, als einem anderen Kulturkreis zugehörig markiert, ihm wird auch im nationalen Sinne eine andere Loyalität unterstellt. Damit steht die Kategorisierung als „Muslim“ auch durch die Ethnisierung von Religion gegenwärtig für das in jeder Hinsicht „Fremde“ schlechthin.

Und das ausgerechnet in einer Phase, in der die Beheimatung und Verwurzelung muslimischer Gemeinden durch den Beitrag der nachfolgenden Generationen von Muslimen intensiver gelebt wird, als je zuvor. Doch dieser Verwurzelungsprozess trifft auf immer größere Distanz und Ablehnung des Islam durch die nichtmuslimische Gesellschaft, ausgelöst durch die Sichtbarwerdung muslimischer Präsenz in allen Bereichen der Gesellschaft: nicht ohne Grund dienen deshalb Äußerlichkeiten als Kristallisationspunkt exkludierender Debatten (Stichwort: Burka, Burkini, Kopftuch, Moscheebau).

These 2 – Die nichtmuslimische Mehrheitsbevölkerung weist ein verzerrtes Selbstbild auf, das sich negativ auf die Muslime auswirkt

Wir beobachten eine kognitive Dissonanz in weiten Teilen der Bevölkerung: etwa 50 % bezeichnen sich als religionsfreundlich, aber gleichzeitig stimmen die gleichen Befragten der Aussage zu, „Der Islam passt nicht in die westliche Welt.“ Dieser Widerspruch wird im öffentlichen Diskurs aufgelöst durch die Umdeutung einer Religion zur politischen Ideologie: Verfassungsrechtliche Kriterien werden im Hinblick auf islamische Religionsgemeinschaften relativiert oder gar gänzlich in Abrede gestellt, exkludierende Faktoren werden fokussiert (Stichwort: Türkeipolitik) und so religiöse Fragen „politisiert“. Im Gegenzug werden religiöse Dienste der islamischen RG und deren gemeindliche Wirklichkeit größtenteils ausgeblendet oder sind überhaupt unbekannt.

These 3 – Die Stigmatisierung islamischer Religionsgemeinschaften nimmt zu

Die Grenzen der zulässigen Religionskritik werden immer stärker in eine islamfeindliche Richtung verschoben und gleichzeitig als „Islamkritik“ legitimiert. Dabei werden neutrale oder positive Ausdrucksformen islamischer Religionspraxis ins Negative gezogen oder ignoriert. Dadurch werden positive Aspekte der religiösen Identität von Muslimen und ihr positives gesellschaftliches Potential verschüttet.

Dies geschieht vor dem Hintergrund sehr geringer Kenntnisse und Erfahrungen mit gelebter muslimischer Religionspraxis, vornehmlich durch Wissen vom Hörensagen: In die Rolle der religionskritischen Kronzeugen zu Beginn der 2000er Jahre sind mittlerweile die „islamkritischen Experten“ getreten. Dadurch erfolgt eine vermeintlich wissenschaftliche Versachlichung der Kritik aber gleichzeitig steigert sie sich – entgegen jeder empirischen Grundlage – in die Stigmatisierung des praktizierenden muslimischen Mainstream als gefährlich, radikal oder gar extremistisch und mündet damit in ihre Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Diskurs. Der vielfach geforderte „kritische Dialog“ mutiert so zur einseitigen antimuslimischen Anklage.

Deutlich wird diese Entwicklung auch in dem jüngsten Beispiel in Gestalt der „Freiburger Deklaration“. Hier treffen sich die frühen Kronzeugen und die aktuellen „Experten“ als neue Koalition – es heißt, sogar unterstützt durch parteipolitische Vertreter – bei der Wiederaufbereitung und Amalgamierung ihrer jeweiligen Produkte auf dem „islamkritischen“ Markt. Der antiquierte Charakter der Erklärung wird darin deutlich, dass die proklamierten Forderungen wie ein Aufguss der St. Petersburg Declaration aus dem Jahr 2007 wirken. Auch dort ging es um einen „säkularen Islam“. Diese Position wird nun mit einem immer häufiger wiederkehrenden zeitgenössischen Motiv verknüpft: dem Rückgriff auf Menschenrechte und Grundgesetz, bei gleichzeitig offen verfassungswidrigen Positionen. Pars pro toto: Die Forderung, Religion solle Privatsache bleiben, offenbart eine völlige Unkenntnis unserer Verfassungsordnung und einen eklatanten Rückfall hinter verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung.

Letztlich wird der beträchtliche Mangel an intellektueller und auch spiritueller Aufrichtigkeit dieser Deklaration darin deutlich, dass sie zwar konkret politische Machtbeteiligung einfordert – übrigens erneut im Widerspruch zum geltenden Verfassungsrecht und den darin formulierten Voraussetzungen der gesellschaftlichen Relevanz und der Bestandsgarantie –, aber die gleichzeitig erhobene Reformforderung immer nur Lippenbekenntnis oder „Traum“ bleibt: An keiner Stelle machen die Unterzeichner das konkrete Angebot, ihr Islamverständnis auch tatsächlich gemeindlich vorzuleben.

Vermeintlich vertreten die etablierten islamischen Religionsgemeinschaften doch nur einen sehr geringen Teil der hiesigen Muslime. Angeblich steht das Islamverständnis der „Reformer“ doch für die große, erstaunlich schweigsame Masse der Muslime. Dann müssten die „Reformer“ doch nur eine regelmäßige gemeindliche Praxis ihres Islamverständnisses anbieten und darauf warten, dass die Muslime ihnen die Türen einrennen.

Dass es aber weniger um die Frage einer authentischen islamischen Glaubenspraxis geht, sondern vornehmlich um die „Platzierung am politischen Markt“ wird in der Tatsache deutlich, dass unmittelbar nach der Veröffentlichung der Freiburger Deklaration sich die „liberalen“ Kräfte in der Islam-Debatte in einer Art und Weise zerstritten haben, die nun so gar nicht zum humanistischen Geist passen will.

Derweil müssen wir weiter darauf warten, wann die „säkularen Muslime“ endlich aufhören zu träumen oder Deklarationen zu verfassen und uns exemplarisch vorleben, wie sie ihren Islam praktizieren wollen. Bis dahin gilt das, was für alle barmherzigen oder warmherzigen Reformer gilt: Nichts Genaues weiß man nicht.

These 4 – Wir erleben eine Dogmatisierung der Debatte durch die Konstruktion gesellschaftlicher Dogmen als vermeintliches Gegengewicht gegenüber religiösen Dogmen von Muslimen

Bekannteste Erscheinungsform: „Das Grundgesetz steht über dem Koran!“.

Aber: Eine solche rigide, konkurrierende Dogmatik gibt es auf muslimischer Seite mehrheitlich gar nicht. Die „Koranisierung“ der Debatte, also die Fixierung auf religiöse Schriften als vermeintlich prägende Handlungsnormen, findet im „islamkritischen Diskurs“ statt, aber nicht in der Gemeindewirklichkeit islamischer Religionsgemeinschaften selbst. Hierin liegt auch das große Missverständnis der muslimischen „Reformer“ und jeder Reformforderung an muslimische Adressaten: Der Mainstream der praktizierenden Muslime besteht aus Traditionalisten. Das bedeutet, sie pflegen eine Tradition der praktischen, historisch und sozial kontextualisierten Aneignung ihrer Religion in den jeweils sehr differenzierten gesellschaftlichen Wirklichkeiten ihres jeweiligen Lebensmittelpunkts.

Das Zentrum ihrer Religionspraxis ist nicht die exegetische Textarbeit oder die Diskussion über hermeneutische Methoden, sondern die gelebte, ganz praktische Aneignung religiöser Normen – und dies geschah und geschieht in der überwältigenden Mehrheit der Muslime stets im Einklang mit der Gesellschaft und der Rechtsordnung, in der sie leben.

Die Frage einer „historisch-kritischen“ Auslegung religiöser Schriften stellt sich ihnen gar nicht, denn sie sind keine religiösen Roboter, die unreflektiert Gebote oder Verbote ihrer Offenbarungsschrift exekutieren. Was vor diesem Hintergrund „liberale Reformer“ und „Salafisten“ eint: beide verstehen sich als „Modernisten“, die religiöse Normen neu definieren und interpretieren wollen. Beide blenden – aus jeweils unterschiedlichen Motiven – die traditionellen Konzepte von Religionsaneignung als im Einklang mit der Gesellschaft und dem Recht verstandene, praktisch gelebte Religiosität aus.

Das Ergebnis: Der muslimische Mainstream wird potentiell kriminalisiert und damit als gefährlich markiert.

Es ist sicher nur ein Zufall, aber andererseits ein geradezu ominöser Zufall, dass die in der vorherigen These zitierte St. Petersburg Declaration von einer Einrichtung getragen und unterstützt wurde, die sich „Institute for the Secularisation of Islamic Society“ nennt – also ISIS.

These 5 – Die ständige Kontextualisierung islamischer Themen mit globalen Phänomenen und Krisen macht es nahezu unmöglich, lokale Ausdrucksformen praktisch gelebter islamischer Identität als Normalität wahrzunehmen oder gar als positiven Beitrag zu einer pluralistischen Gesellschaft zu verstehen

Das mediale Framing fördert beim breiten Publikum vielmehr eine Verfügbarkeitsheuristik und stärkt die negative Wirkung anekdotischer Evidenz und fungiert so letztlich als immer engeres Nadelöhr bei der Wahrnehmung muslimischer Präsenz als gesellschaftliche Normalität. Das heißt, das Publikum verfügt nur über unvollständige, sehr bruchstückhafte Informationen, die auch noch einseitig gefärbt sind und im Kontext globaler Krisen stehen. Jede noch so marginale negative Erfahrung mit Muslimen oder einer entsprechenden Berichterstattung führt vor diesem Hintergrund zu einer verdächtigenden Wahrnehmung auch gegenüber Muslimen von nebenan.

Das ist dann nichts anderes als der mentale Import von globalen Krisen als Erfahrungsschablone für die unmittelbare Nachbarschaft mit Muslimen.

Das negative Potential einer solchen Betrachtungsweise hat längst die akademische Szene erreicht. Das auf diesem Blog bereits kritisch besprochene „Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam“ (FFGI) trägt diesen verzerrenden Ansatz sogar im Namen und dokumentiert – am Beispiel der eigenen Internetseite – weiterhin unverändert, wozu diese globale Erfahrungsperspektive führt; nämlich zu der Wahrnehmung, ein „islamischer Lebensstil“ berge „erheblichen Sprengstoff“.

Es stellt sich hier – gerade auch mit Blick auf die Zukunft – für uns die Frage: Welche Spuren hat der derart geführte Diskurs der letzten 15 Jahre bei den Geburtenjahrgängen ab 1990 hinterlassen? Welche Folgen hat das Heranwachsen in einer (konstruierten?) Atmosphäre der permanenten Bedrohung und Überfremdung einerseits für junge Nichtmuslime, und der behaupteten Rückständigkeit, Gefährlichkeit und Fremdheit der eigenen religiösen Identität andererseits für junge Muslime?

These 6 – Die Islam-Debatte trägt immer mehr die Merkmale eines hegemonialen Diskurses

Die Individualisierung des Religiösen im mittel- und nordeuropäischen Kontext erschwert eine überzeugende positive kollektive Identitätserzählung über das europäische bzw. deutsche „Wir“. Der Islam und die Muslime mit einem gerade auch kollektiven Aspekt eigener Religiosität wirken dadurch als noch bedrohlichere Herausforderung, der größtenteils durch Abwertung begegnet wird. Wir erleben die eigentlich absurde Dichotomie von Deutscher vs. Muslim. In einem derart bedingten Diskurs kann Kritik nur von oben nach unten geübt und auch nur so verstanden werden. Eine eigene deutsche Wir-Definition strebt nach gesellschaftlicher Stabilisierung – immer häufiger gerade durch negative Abgrenzung: Die Abwehrmechanismen nehmen zu, je fordernder Muslime in die Mitte der Gesellschaft drängen und die Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen einfordern.

These 7 – Es ist ein Umkehrprozess bei der „Normierung“ der Debatte zu beobachten

Das heißt, erste Schritte der Normalisierung und Normsetzung im Verhältnis von Muslimen und Gesellschaft, also auch von Religionsgemeinschaften und Staat – zum Beispiel islamischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, Uni-Beiräte, islamische Theologie, Imamausbildung – waren bereits unternommen und teilweise auch in einem fortgeschrittenen Stadium eingeübt. Sie werden jetzt aber im Zuge der aktuellen Diskussionen umgedeutet zu Narrativen der Infiltration, Unterwanderung, illoyalen Einflussnahme und heteronomer Herrschaftsansprüche. Die eigentlich folgerichtige und für die Beheimatung von Muslimen unverzichtbare Institutionalisierung islamischer Religionsgemeinschaften wird jetzt umgedeutet in ein Versagen des Staates: Dem Staat wird Handlungsunfähigkeit unterstellt, der Politik Naivität und „Kollaboration“ mit Blick auf muslimische Institutionen. Somit wird das Misstrauen gegenüber muslimischen Institutionen auf staatliche Institutionen übertragen. Dieser Vorwurf wird gesteigert durch die Totalisierung des vermeintlichen staatlichen Scheiterns: Alles was an Integrationsleistung erbracht wurde, was als Beheimatung muslimischer Gemeinden in Deutschland geleistet wurde, wird beim ersten kritischen Diskurs als hinfällig, als Irrtum, gar als von Muslimen betriebene bewusste Täuschung disqualifiziert.

These 8 – Es existiert ein faktisches, politisches und auch mediales Machtgefälle im öffentlichen Diskurs, welches zur Verschiebung von Deutungskompetenzen und dadurch auch von Definitionshoheit über Begriffe und Teilhabekriterien führt

Wir stehen vor der Frage: Wer hat die Deutungshoheit über Begriffe und Teilhabeschranken?

Religiöse Institutionen, etablierte islamische Religionsgemeinschaften werden geschwächt, ihre Kompetenzen disqualifiziert, ihre Deutungshoheit über religiöse Inhalte und Begriffe in Abrede gestellt. Die Folge sind Distanzierungsforderungen, statt die Anerkennung der Rolle islamischer Religionsgemeinschaften als legitime und wirkmächtige Interpreten religiöser Inhalte. Wir erleben das wiederkehrend bei Begriffen wie Scharia, Djihad, Allahu Akbar, Märtyrer oder äußeren Merkmalen, wie dem Kopftuch.

Die Aufgabe von islamischen Religionsgemeinschaften muss es sein, die Deutungshoheit über religiöse Begriffe nicht preiszugeben und den Missbrauch religiöser Begriffe für extremistische Zwecke durch die eigene Definitionshoheit zu verhindern. Greift der Staat hier – vielleicht auch mit Blick auf bevorstehende Wahlen und Wählerbewegungen – zum „Verherrlichungsvorwurf“, um eine öffentliche Absetzbewegung einzuleiten, ist das die Torpedierung jedes positiven Engagements islamischer Religionsgemeinschaften. Geschieht dies auch noch mittels unvollständiger oder falscher Informationen an die Öffentlichkeit, unter Inkaufnahme der dauerhaften Beschädigung islamischer Religionsgemeinschaften, stellen sich zusätzlich ganz grundsätzliche Fragen des politischen Anstandes.

Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung und das dadurch aufkommende Spannungsverhältnis ist das Abhandenkommen des pluralistischen Kompasses durch die stetige Absenkung der Toleranzschwelle für abweichendes Verhalten. Eine pluralistische, starke, bevölkerungsreiche Wirtschaftsnation, wie es unsere ja ist, befindet sich im emotionalen Zustand einer unsicheren Stammesgesellschaft, die anhand von Äußerlichkeiten oder abweichenden rituellen Handlungsmustern eine absolute, ja geradezu existenzielle Wertedebatte und damit auch eine Autoritätsdebatte führen will. Homogenität, gar Uniformität dient als Selbstvergewisserung und Identitätsnachweis.

Das ist eine irrationale und hysterische Entwicklung öffentlicher Debatten. Sie beschreibt ein Auseinanderfallen faktischer Zustände (wirtschaftliche Prosperität, gestiegener Wohlstand) und emotionaler Befindlichkeit: Wir führen eine Angstdebatte, von der sich nahezu die gesamte politische Landschaft hat anstecken lassen. Diese Hysterisierung ist aber nichts anderes als der Verlust politischer Deutungshoheit. Statt eine inkludierende Haltung zu vertreten, wird die Deutungshoheit über das „deutsche Wir“ einer segregierenden politischen Alternative überlassen, die, wenn wir Anspruch auf ein historisches Bewusstsein und demokratische Ernsthaftigkeit erheben, niemals eine sein darf.

Wir erleben die sehr gefährliche Tendenz, gleiche Bürgerrechte für alle, unabhängig vom Glauben, nur unter der Bedingung der Nivellierung sichtbarer Unterschiede gewähren zu wollen. Ein solcher Vorbehalt öffnet die Pforte zu einem Zwei-Klassen-Grundgesetz und widerlegt den Grundgedanken und die Entstehungsgeschichte unserer Verfassungsordnung. Umso größer ist jetzt die historische, demokratische Reifeprüfung unserer Gesellschaft.

Ob wir sie bestehen werden, gestaltet sich als zunehmend offene Frage. Denn wir erleben historische Rückfälle; zum Beispiel bei der Loyalitätsdiskussion. Sie weist Parallelen auf zum bismarckschen Kulturkampf und dem darin gegenüber Katholiken erhobenen Ultramontanismusvorwurf – dieser begegnet uns auch heute im alten Gewand des Heteronomievorwurfs, der Verbotstendenzen, der Isolation und Segregation der praktizierenden religiösen Mitte, der Infragestellung religiöser Ämter innerhalb von (islamischen) Religionsgemeinschaften.

Gleichzeitig erleben wir Rückschritte bei gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen: Auf dem Weg zu gesellschaftlicher Inklusion ist in den öffentlichen und gerade auch parteipolitischen Debatten immer häufiger zu beobachten, wie die Ausfahrt in Assimilations- und Kulturkreisdebatten genommen wird. Dieses Drängen nach Eindeutigkeit im Glauben, Denken und Handeln verstellt den Blick auf die Vielfalt ganz unterschiedlicher, aber jede für sich ebenso erfolgreicher Lebensgestaltungen innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft.

These 9 – Es besteht die Gefahr, dass uns elementare verfassungsrechtliche Grundkoordinaten abhandenkommen

Die Islam-Debatte ist geprägt von dem Begriff der Werteordnung als Handlungsmaßstab. Er mutiert aber dort zum bloßen Kampfbegriff, wo zwar leidenschaftlich auf unser Grundgesetz rekurriert, aber durch die Einführung zunehmend verfassungswidriger Positionen im „islamkritischen Diskurs“ das Grundgesetz gleichzeitig relativiert wird. Unser Grundgesetz wird immer häufiger umgedeutet zu vermeintlichen Handlungsnormen und Verpflichtungen des Bürgers gegenüber dem Staat und nicht mehr als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat: Damit werden aber die historischen Wurzeln unserer Grundrechtsordnung ausgeblendet, was zu einer schleichenden Erosion unseres Verfassungsverständnisses und damit zu einer elementaren Gefährdung unserer Verfassungsordnung führt.

Wie akut diese Gefährdung ist, wird in einem aktuellen Zitat Norbert Lammerts deutlich. Vor Zuhörern der Klassik Stiftung Weimar hat er am 05.06.2016 folgenden Satz gesagt (Zitat): „Verfassungen definieren Verbindlichkeiten, die der Staat gegenüber der Gesellschaft durchzusetzen hat.“ (Zitat Ende, Norbert Lammert: »Brauchen wir eine Leitkultur?«, Thesen zu einer notwendigen Debatte und einem schwierigen Begriff; Klassik Stiftung Weimar am 5. Juni 2016).

Diese Aussage unseres Bundestagspräsidenten, dem Inhaber des zweithöchsten Staatsamtes, muss uns alarmieren. Denn wir müssen ihm deutlich und vernehmbar widersprechen. Unsere Verfassung ist kein Katalog von Verbindlichkeiten, die der Staat gegenüber der Gesellschaft durchzusetzen hat. Sie ist kein Handbuch eines staatlichen Erziehungsberechtigten. Im Gegenteil definiert unsere Verfassung Bürgerrechte, die jedes einzelne Individuum gegenüber dem Staat beansprucht, also Verbindlichkeiten die gegen den Staat durchsetzbar sein und bleiben müssen. Mit diesen gewappnet sind es die innergesellschaftlichen Regulierungskräfte, die um der Freiheit willen nicht nur für die Freiheit durch den Staat, sondern – und das sind unsere historischen Lehren als Deutsche – gerade auch für die Freiheit vom Staat ringen. Wie Ernst-Wolfgang Böckenförde es formuliert hat, kann der Staat (Zitat) „diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“ (Zitat Ende)

Die Muslime in unserer Gesellschaft sind gerade ausdrücklich mit ihrer religiösen Andersartigkeit Teil dieser innergesellschaftlichen Regulierungskräfte und dürfen nicht zu Objekten staatlicher Gestaltungs- und Durchsetzungsansprüche degradiert werden.

These 10 – Thesen-Fazit: Die immer stärkere Tendenz zum Antipluralismus bedroht nicht nur Muslime, sondern unsere gesamte Gesellschaft

Das oben in unterschiedlichen Manifestationen beschriebene Drängen nach Eindeutigkeit führt zu der immer lauteren Propagierung eines Antipluralismus, der vorgibt, um der Freiheit Willen die Freiheit bestimmter gesellschaftlicher Gruppen relativieren und einschränken zu müssen. Mit der Begründung der Verteidigung von Freiheitsrechten wird die Versagung oder Einschränkung eben jener Rechte für Muslime legitimiert.

In diesen Entwicklungen wird ein Spannungsverhältnis deutlich, in welchem Positionen der Identitätstheorie und der Pluralismustheorie miteinander ringen. Dabei beobachten wir immer häufiger Rückfälle in Positionen der Identitätstheorie, welche die Aufhebung von Unterschieden zwischen Herrschenden und Beherrschten proklamiert und anstrebt, eine Identität zwischen Regierten und Regierenden herzustellen. In diesem Sinne müssen wir die Kulturkreis-Debatten und die Stigmatisierung von Muslimen als „Fremde“ und auch die „Der Islam gehört zu / gehört nicht zu“-Debatten verstehen. Dass dabei die leidvollen historischen Erfahrungen einer „Diktatur des Proletariats“ im linken politischen Spektrum und jene der gleichgeschalteten „Volksgemeinschaft“ im Faschismus in Vergessenheit geraten und die Vorstellung einer kulturellen und religiösen gesellschaftlichen Homogenität wieder an Popularität gewinnt, ist ein Alarmsignal.

Demgegenüber darf unser Verständnis einer pluralistischen Gesellschaft nicht in einer bloßen Duldung gesellschaftlicher Minderheiten verharren. Vielmehr müssen auch die Muslime, eben als solche und gerade auch mit ihren Religionsgemeinschaften, zu jenen gesellschaftlichen Gruppen gehören, zwischen denen Macht ausgewogen verteilt ist und die an den gesellschaftlichen Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen gleichberechtigt beteiligt sind. Gegenwärtig erleben wir allerdings entgegengesetzte Tendenzen, in denen sich eher Ausgrenzungs- und Marginalisierungsbestrebungen entfalten.

Das ist im Grunde nichts anderes als ein fundamentaler verfassungsrechtlicher Tabubruch, der nicht mehr als solcher erkannt wird. Und noch problematischer: Zur Legitimation solcher Tendenzen werden die Grenzen des Sagbaren in Bezug auf Muslime und islamische Religionsgemeinschaften immer weiter verschoben. Bald werden so auch die Grenzen des Machbaren durchlässiger: Die Übergriffe auf Moscheeeinrichtungen und muslimische Einzelpersonen nehmen zu – und der längst überfällige gesellschaftliche Aufschrei bleibt ohrenbetäubend stumm.