Staatsangehörigkeit als Standesmerkmal

Sind unsere Visa-Bestimmungen noch zeitgemäß?

Als deutsche Staatsbürgerin kann ich in jedes mir x-beliebige Land reisen. Visa-Vorschriften sind für mich eine reine Formalität, mit einer Ablehnung muss ich in der Regel nicht rechnen. Umgekehrt verhält es sich etwas anders. Zeit, diese Praxis einmal kritisch zu hinterfragen. Von Laura Beusmann

Wer nach Deutschland einreisen darf und wer nicht, unterteilt die Weltbevölkerung in unterschiedliche Gruppen. Ob ein Mensch nach Deutschland einreisen darf oder nicht, richtet sich dabei vorrangig nach einem Merkmal – der Staatsangehörigkeit. Kriminelle Vergangenheit, wirtschaftliche Unabhängigkeit und deutsche Sprachkenntnisse spielen zunächst einmal keine Rolle. Wer fragt schon einen US-amerikanischen, brasilianischen oder japanischen Staatsbürger nach seiner weißen Weste, nach Deutschkenntnissen und Kontostand? Den deutschen Staat interessiert das zunächst einmal nicht.

Die Staatsangehörigkeit ist ein Merkmal, das man sich nicht verdient. Man erhält die durch seine bloße Existenz. Diese Art der Privilegierung erinnert an eine Gesellschaftsordnung, die wir in Deutschland schon längst hinter uns gelassen glaubten: die mittelalterliche Ständeordnung.

___STEADY_PAYWALL___

Die Staatsangehörigkeit ist ein Merkmal, das man sich nicht verdient. Man erhält sie durch seine bloße Existenz, einfach nur dadurch, dass man ist. Diese Art der Privilegierung erinnert an eine Gesellschaftsordnung, die wir in Deutschland schon längst hinter uns gelassen glaubten. An eine Ordnung, die wir heute als rückschrittlich und ungerecht empfinden, auf die wir als aufgeklärte, moderne und fortschrittliche Nation herabblicken. Sie erinnert an die mittelalterliche Ständeordnung, die Untergliederung der Gesellschaft in Klerus, Adel und Bauern.

Stände sind anders als Klassen nicht zwingend ökonomischer Natur. Genauso wie es verarmten Adel und reiche Gutsbesitzer gab, gibt es verarmte Deutsche und wohlhabende Marokkaner. Der Soziologe Max Weber beschreibt Stände als Gemeinschaften, denen aufgrund eines gemeinsamen Merkmals eine bestimmte Art der Ehre zu Gute kommt und die damit einhergehend eine bestimmte Art der Lebensführung teilen. Berufe, deren Ausübung an den Erwerb bestimmter Qualifikationen gebunden ist, sind solche Stände, wir sprechen im Deutschen wortwörtlich von „Berufsständen“. Auch Clubs und Vereine lassen sich nach Webers Definition als Stände bezeichnen. Ihren Mitgliedern werden durch ihre Aufnahme bestimmte Rechte gewährt, die Außenstehenden verwehrt werden. Die Aufnahme in diese Clubs sollte nach unserem heutigen Gerechtigkeitsverständnis für die gesamte Gesellschaft durchlässig sein und dort, wo praktische Zwänge sie begrenzt, durch ausgleichende Unterstützung ermöglicht werden, so will es das im Grundgesetz verfestigte Sozialstaatsprinzip.

Doch in den Club der Deutschen kommt man nicht so leicht. Während wir auf nationaler Ebene zumindest versuchen, Privilegien abzubauen, die auf angeborene Merkmale zurückgehen, fehlt uns auf internationaler Ebene überhaupt erst das Bewusstsein dafür, dass es sich bei den bestehenden Visa-Vorschriften um gleichermaßen fundamental ungerechte, da ungerechtfertigte Privilegien handelt.

Wir befinden uns in einer Welt, deren Globalisierung aufgrund technischer Möglichkeiten immer rasender voranschreitet. Multinationale Konzerne dominieren die Wirtschaft, internationale Abkommen bestimmen die nationale Gesetzgebung, Forschung und Berichterstattung sind heute ohne Internet nicht mehr denkbar. Dank technischen Fortschritts sind die Staatsgrenzen heute so überwindbar wie noch nie. Doch die Durchlässigkeit der Grenzen ist selektiv und einseitig. Dadurch haben wir ungewollt oder gewollt einen neuen Stand nach mittelalterlichem Vorbild kreiert: Den des Kosmopoliten. Zugehörigkeitsmerkmal ist die Staatsangehörigkeit. Seine Privilegien sind faktisch nahezu unbegrenzte Reise- und Niederlassungsfreiheit und die damit ermöglichte aktive Teilhabe am stattfindenden Globalisierungsprozess.

Würden wir die bestehenden Visa-Restriktionen in Deutschland auch noch für gerecht halten, wenn wir nicht wüssten, mit welcher Staatsangehörigkeit wir zur Welt kommen würden?

Natürlich könnten andere Staaten ihre eigenen Stände nach dem gleichen Modell entwerfen, indem sie ähnlich restriktive Visa-Bestimmungen für uns Deutsche erlassen. Wäre doch gerecht. Aug um Auge, oder nicht? Doch mal ehrlich, wer glaubt wirklich, dass Länder wie Ruanda, Nepal oder der Jemen angesichts der bestehenden Sachzwänge tatsächlich über die Freiheit verfügen, vergleichbar restriktive Visa-Bestimmungen zu erlassen. Und – wollen wir so ein System überhaupt? Sind Entwicklungen wie die EU, die UNO, das Völkerstrafgesetzbuch und die internationale Erklärung der Menschenrechte nicht ein Bekenntnis dazu, dass wir mehr rechtliche Gleichheit auf internationaler Ebene wollen statt weniger?

Nach der Theorie des Philosophen John Rawls ist ein System nur dann gerecht, wenn alle darin lebenden Menschen die Gerechtigkeitsgrundsätze, die ihm zugrunde liegen, auch dann für gerecht hielten, wenn sie die natürlichen Fähigkeiten (z.B. Behinderung und Talente) und gesellschaftlichen Umstände (z.B. Elternhaus, Nachbarschaft und Heimatland) ihrer Person in diesem System nicht kennen würden. Würden wir die bestehenden Visa-Restriktionen in Deutschland auch noch für gerecht halten, wenn wir nicht wüssten, mit welcher Staatsangehörigkeit wir zur Welt kommen würden?

Auf der Seite des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung heißt es, dass Deutschland sich engagiere, um den „Menschen die Freiheit zu geben, ohne materielle Not selbstbestimmt und eigenverantwortlich ihr Leben zu gestalten“.
Doch zu einem selbstbestimmten Leben gehört es auch, frei darüber entscheiden zu können, wo man leben und arbeiten möchte.

Auch in Deutschland geht nicht alles gerecht zu, Herkunft bestimmt immer noch Bildungsverläufe und Lebensläufe. Doch in Deutschland teilen wir zumindest die Ansicht, dass alle Deutschen die gleichen Zugangschancen haben sollten. Rechte beschreiben den Soll-Zustand, nicht den Ist-Zustand. Um Kindern aus unterschiedlichen Elternhäusern gleiche Chancen zu gewähren, müssen wir uns erst einmal bewusstwerden, dass diesen Kindern das gleiche Recht auf Bildung zusteht. Anschließend können wir Maßnahmen ergreifen, um dieses Recht umzusetzen. In Sachen Visa-Freiheit mangelt es international jedoch bereits am (Un-) Gerechtigkeitsbewusstsein.

Deutschland ist nicht für alle Ungerechtigkeit in der Welt verantwortlich. Korruption, Umweltkatastrophen, Krankheiten, nationale Rechtsgestaltung, auf vieles haben wir keinen Einfluss. Auf anderes schon. An vielem tragen wir eine Teilverantwortung, haben eine Mitschuld, sind ein Glied in einer Kette von Zusammenhängen. Dies ist keine neue Erkenntnis. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ist sich dessen längst bewusst. Auf seinem Internetauftritt heißt es, dass Deutschland sich „aus ethischer Verantwortung und internationaler Solidarität“ in der Entwicklungszusammenarbeit engagiere, um den „Menschen die Freiheit [zu] geben, ohne materielle Not selbstbestimmt und eigenverantwortlich ihr Leben zu gestalten und ihren Kindern eine gute Zukunft zu ermöglichen.“ Man könnte meinen, der Wille, den Menschen weltweit ihre Freiheit zur Selbstbestimmung zu ermöglichen, sei längst im Ministerium vorhanden.

Doch zu einem selbstbestimmten Leben gehört es auch, frei darüber entscheiden zu können, wo man leben und arbeiten möchte. Nicht ohne Grund sind die Reise- und Niederlassungsfreiheit zentraler Bestandteil von EU und BRD, ohne sie wären die europäische Integration, wäre die deutsche Wiedervereinigung lachhaft gewesen. Wie glaubwürdig hätte die Wende geklungen, hätte es geheißen, Ost- und Westdeutsche würden nun die gleichen Grundrechte genießen, aber zum Schutze der demokratischen und katholischen Grundordnung in Bayern sei es Menschen aus Dresden grundsätzlich nicht gestattet nach München zu reisen oder sich dort niederzulassen – denn aufgrund ihrer kommunistisch-atheistischen Sozialisierung würden sie dort nur Unruhe stiften, ihre Diplome seien den bayerischen unterlegen, ihre Jobaussichten daher prekär, sodass sie sich den bereits knappen Wohnraum ohnehin nicht leisten könnten. Dass Münchner hingegen nach Dresden reisten, dort Urlaub machten, Unternehmensstrukturen ausverlagerten und von den günstigen Preisen und Arbeitskräften profitierten stelle hingegen kein Problem dar. Sie hätten ihre Hausaufgaben in puncto Wirtschaft und Demokratie ja schon gemacht und ohne ihre Kaufkraft wären vielleicht noch mehr Ostdeutsche arbeitslos. Sollen sich die Ex-DDRler ihre Demokratie doch eigenständig im Osten aufbauen. Die Anleitung dazu gibt es dank Globalisierung im Internet, einen Zuschuss aus dem Westen obendrauf, wozu muss man Demokratie schon selbst erlebt haben, um zu verstehen wie sie funktioniert und zu realisieren ist?

Es geht nicht um die Aufhebung der Nationalgrenzen oder der Einlasskontrollen, sondern um die Angleichung der Visa-Bestimmungen hinsichtlich der Staatsangehörigkeit.

Was in Bezug auf DDR und BRD grotesk klingt, ist moralisches Selbstverständnis auf internationaler Ebene. Natürlich ist Deutschland nicht die Welt, sondern ein kleiner Teil davon, der wenige Jahrzehnte vor Teilung und Wiedervereinigung bereits einen einheitlichen Rechtsstaat gebildet hat. Ebenso wenig sind deutsche Grundrechte mit den Menschenrechten gleichzusetzen und die Zusammenhänge und kulturellen Unterschiede sind auf globaler Ebene wesentlich komplexer als zwischen DDR und BRD. Aber unabhängig davon, dass sich innerhalb Deutschlands ebenso große Kulturschocks erleben lassen wie im Ausland und dass die Verständigung zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalitäten manchmal leichter fällt als die mit den Menschen im eigenen Land, geht es hier ja nicht um die Aufhebung der Nationalgrenzen oder Einlasskontrollen – wie bei DDR und BRD –, sondern um die Angleichung der Visa-Bestimmung hinsichtlich der Staatsangehörigkeit.

Wenn das zuvor geschilderte Beispiel in Bezug auf DDR und BRD jedoch das globale Verständnis unserer Werteordnung wiederspiegelt, stellt sich die Frage, wie sehr wir überhaupt selbst hinter unseren Werten stehen. Wenn wir uns nicht trauen, unsere Werteordnung durch neue Werte und Konflikte zu hinterfragen und uns einer vernünftigen Auseinandersetzung zu stellen, ist unser vorrangiges Problem mangelndes Vertrauen in unsere Werteordnung und nicht die fremden Werte. Wenn wir hingegen die entstehenden Konflikte nutzen, um uns bewusst zu machen, welche Werte wir warum schützen wollen, um so die bestehenden Normen auszubessern und an neue Realitäten anzupassen, wird sie dies im Kern stärken, nicht schwächen.

Dem indischen Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen zufolge, ist Entwicklung der Prozess der Erweiterung realer Freiheiten. Für sich genommen stellt Wirtschaftswachstum noch keine gesellschaftliche Entwicklung dar.

Die Entwicklungszusammenarbeit vernachlässigt bislang die Angleichung grenzüberschreitender Freiheiten während sie sich auf die materielle Not und Freiheit in anderen Ländern konzentriert. Dies ist in zweierlei Hinsicht verwunderlich.

Erstens angesichts der Bedeutung, die Freiheit für die Entwicklung einer Gesellschaft hat. Dem indischen Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen zufolge, der den Human Development Index (HDI) maßgeblich mitentwickelt hat, ist Entwicklung der Prozess der Erweiterung realer Freiheiten. Wirtschaftswachstum kann demnach zwar dabei helfen, die Freiheiten in einer Gesellschaft auszuweiten und damit indirekt zur Entwicklung einer Gesellschaft beitragen. Für sich genommen stellt Wirtschaftswachstum jedoch noch keine gesellschaftliche Entwicklung dar.

Zweitens liegt die Ausweitung der zwischenstaatlichen Reise- und Handlungsfreiheiten im unmittelbaren Handlungsspielraum der Industriestaaten. Während sie in der Entwicklungszusammenarbeit den Umweg über fremde Regierungen gehen müssen und auf deren Kooperation angewiesen sind, liegt die Macht über Einreisebestimmungen allein in unseren Händen. Wir können die existierende Ungerechtigkeit bei der Visa-Vergabe in Deutschland eigenhändig abschaffen. Und zukünftig als Vorbild für eine EU- und weltweite Reform des Visa-Systems dastehen. Denn wenngleich Deutschland im Alleingang die deutschen Visa-Vorschriften ändern kann, erfordert eine internationale Angleichung der Reise- und Niederlassungsfreiheit, dass alle Staaten mitziehen. Eben weil wir ein Glied im internationalen Gefüge sind.

Das ist ein langer Weg. Um diesen zu beschreiten, ist eine Neubewertung der Reise- und Niederlassungsfreiheit nötig. Weg von ihrer Stigmatisierung als Bedrohung für humanistische Werte und gesellschaftliche Entwicklung. Weg davon, sie ans Ziel des weit entfernten Traums vollendeter Entwicklung und Gerechtigkeit zu stellen. Stattdessen sollte sie als Baustein und Mittel auf dem Weg zu mehr Humanismus, globaler Gerechtigkeit und Entwicklung gesehen werden.

In Anbetracht der ernüchternden Gespräche Merkels mit den Visegrad-Staaten über den Umgang mit Menschen, die in die EU flüchten, scheint eine derartige Visa-Reform nicht gerade greifbar. Doch die mittelalterlichen Stände ließen sich auch nicht von heute auf morgen abschaffen. Und ja, ihre Abschaffung ging einher mit Einbußen von Privilegien. Dennoch brachte sie Errungenschaften mit sich, auf die wir heute keinesfalls mehr verzichten möchten. Wer möchte heute tatsächlich mit dem Leben einer Adligen tauschen, die zum Machterhalt zwangsvermählt wird? Die Wende zog eine Landflucht im Osten nach sich, aber sie war gleichzeitig begleitet von Demokratisierung, Innovation und Fortschritt auf beiden Seiten der Mauer.

Wenn wir es mit der „Freiheit zur Selbstbestimmung“ in der Entwicklungszusammenarbeit ernst meinen, sollten wir den Menschen, die aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit bei der Visavergabe diskriminiert werden, die Chance geben, den Globalisierungsprozess aktiv mitzugestalten und selbstständig Entwicklung global voranzutreiben. Es ist unsachlich, einer Person, die an einer westlichen Universität ein Promotionsstipendium erhalten hat, das Visum zu verweigern, nur weil sie aus einem bestimmten Herkunftsland kommt, und es einer Person aus einem anderen Land mit gleichen Voraussetzungen zu gestatten. Es ist unsachlich, der Person eines Landes die Einreise zu verweigern, weil sie nicht genügend Einkünfte vorweisen kann, und einer Person mit ebenso geringen Einkünften aus einem anderen Land die Einreise zu gewähren. Es ist unsachlich, der einen Person die Einreise zu verweigern, weil sie kein Deutsch kann, obwohl in ihrem Land keine ausreichende Infrastruktur für Deutschkurse besteht, während einer Person, die ebenfalls kein Deutsch kann, aber aus einem Land mit ausreichender Infrastruktur für Deutschkurse kommt, die Einreise zu gestatten.

Deutschland ist unsachlicher und ideologischer als wir uns eingestehen. Aber wir verfügen über die Freiheit dies zu ändern. Wenn wir diese Freiheit nicht wahrnehmen und statt am einzelnen Menschen weiterhin am Nationalstaat ansetzen, verhöhnen wir den Humanismus, statt ihm gerecht zu werden.