Westermann, Erdoğan, Schule, Putsch, NRW
Arbeitsblätter für den Politikunterricht des Schulbuchverlages "Westermann".

Schulunterricht

Lehrblätter vergleichen Erdoğan-Politik mit Nazi-Regime

In Arbeitsblättern für den Schulunterricht wird der türkische Präsident Erdoğan den Schülern als angehender Diktator nähergebracht, seine Politik mit Deutschland im Jahr 1933 verglichen. Türkische Elternverbände, Schüler und Politiker kritisieren, das Schulministerium ist desinteressiert.

Von Montag, 12.09.2016, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 15.09.2016, 14:23 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

„Erdoğan auf dem Weg zur Alleinherrschaft?“ Diese Frage wird in Deutschland seit dem Putschversuch in der Türkei kontrovers diskutiert. In deutschen Klassenzimmern wird die Antwort vorgegeben. Auf Arbeitsblättern des Schulbuchverlages „Westermann“ für den Politikunterricht der Jahrgangsstufen 9 bis 13 wird Erdoğan den Schülern als Despot und Diktator vorgestellt.

„Erdoğans Strategien des Machtausbaus“ würden „gewisse Gemeinsamkeiten mit der Situation nach dem Reichtagsbrand 1933 aufweisen“, heißt es in den Lehrmaterialien. Ergänzt wird der Textteil mit einer Karikatur aus einer britischen Tageszeitung „The Guardian“. Darauf ist Erdoğan zu sehen, wie er ein Hakenkreuz an die Stelle des Halbmondes auf der türkischen Fahne malt. Auf einer weiteren Abbildung der britischen Wochenzeitschrift „The Economist“ prangt die Titelstory „Democrat or sultan?“. Die Antwort auf die rhetorische Frage liefert das Magazin gleich mit: Auf dem Foto ist Erdoğan im Sultanskostüm abgebildet.

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Endgültige Abrechnung

An anderer Stelle heißt es im Hinblick auf den Putschversuch: „Was Erdoğan bisher auf legalem Weg nicht erreichen konnte, die Machtkonzentration auf seine Person, sollte in der Folge durch Mittel umfassender Repression gegen Journalisten, oppositionelle Abgeordnete und protestierende Bürger auf den Weg gebracht werden“. Schon vor dem Militärputsch habe es „willkürliche Verhaftungen“ gegeben. Der gescheiterte Militärputsch scheint Erdoğan nun „die Berechtigung verschafft zu haben, endgültig mit seinen Gegnern abzurechnen“.

Mehrere kritische Auszüge aus Büchern, Zeitungen, Zeitschriften sowie ein Auszug aus der NS-“Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ aus dem Jahr 1933 runden das Erdoğan-Bild ab. In zwei Doppelstunden sollen die Schüler die vorgegebenen Inhalte verknüpfen, analysieren und „mögliche politische Strategien Erdoğans“ erarbeiten.

Grundsätze für den Schulunterricht

Die Grundsätze für die politische Bildung im Schulunterricht sind im sogenannten „Beutelsbacher Konsens“ festgelegt. Danach soll das, was in der Gesellschaft kontrovers diskutiert wird, auch in der Schule „kontrovers“ dargestellt werden. Der Beutelsbacher Konsens weist ausdrücklich darauf hin, dass es nicht erlaubt ist, Schüler im Sinne einer erwünschten Meinung zu überwältigen und damit an der „Gewinnung eines selbstständigen Urteils“ zu hindern.

Ministerium kommentiert Relativierung nicht

Ob die Lehrmaterialien zur Politik Erdoğans diesen Grundsätzen entsprechen, wollte das Nordrhein-Westfälische Schulministerium nicht kommentieren. Auf Anfrage des MiGAZIN wurde mitgeteilt, dass die Lehrkraft dafür sorge, „dass die politische Situation in der Türkei bzw. die Einschätzung dieser aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird“. Lose Arbeitsblätter würden „nicht durch das Ministerium hinsichtlich ihrer Lehrplankonformität und auch nicht hinsichtlich ihrer politischen Stoßrichtung geprüft.“ Das obliege ausschließlich der Verantwortung des herausgebenden Verlags.

Unkommentiert ließ das Ministerium auch die Frage, ob die Vergleiche der Erdoğan-Politik mit dem Nazi-Regime bei Schülern einen relativierenden oder verharmlosenden Effekt im Hinblick auf die deutsche Geschichte haben könnte. Das Schulministerium sei, „nicht zuständig für die inhaltliche Bewertung von solchen Lehrmitteln“, sagte eine Sprecherin dem MiGAZIN.

Yeneroğlu: An Skrupellosigkeit kaum zu überbieten

Für den Vorsitzenden des Menschenrechtsausschusses der Türkischen Parlaments, Mustafa Yeneroğlu (AKP), ist diese Erklärung inakzeptabel. Der türkische Abgeordnete, der in Deutschland aufgewachsen und zur Schule gegangen ist, ruft das Bildungsministerium auf, seinem Prüfungsauftrag nachzukommen und „solche Propagandamaterialien nicht ungeprüft für den Schulunterricht freizugeben“. Vom Verlag sei eine Klärung des Sachverhaltes zu verlangen. Der türkische Staatspräsident werde in den Arbeitsblättern „dämonisiert und Schüler in staatlicher Obhut einseitig indoktriniert“, so Yeneroğlu. Der Text „wimmele nur von unwahren Tatsachenbehauptungen und Schmähkritik“.

Überrascht ist Yeneroğlu vor allem über die Vergleiche mit dem Nazi-Regime. „Zu meiner Schulzeit wäre das noch undenkbar gewesen“. In diesen Lehrmaterialien würden „Hitler und das Nazi-Regime verharmlost, der Mord an sechs Millionen Juden relativiert, die Einzigartigkeit des Holocaust in Frage gestellt“. Der Vergleich der Niederschlagung des Putschversuchs in der Türkei mit der Situation nach dem Reichstagsbrand sei „an Skrupellosigkeit kaum zu überbieten.“

Langer: Nicht nützlich

„Nicht nützlich“ und „relativierend“ findet auch Armin Langer Vergleiche mit der NS-Zeit. Der ehemaliger Student des jüdischen Abraham Geiger Kollegs und Mitgründer und Koordinator der Salaam-Schalom Initiative sagte dem MiGAZIN: „Ich glaube, es ist respektlos den Opfern der NS-Zeit gegenüber, sie für aktuelle politische Zwecke zu instrumentalisieren.“

Lehrer: Arbeitsblätter verstörten Schüler 

Hasan Aydın 1, Lehrer an einer Realschulschule im Ruhrgebiet, erklärt, dass solche Lehrmaterialien eine abstoßende Wirkung auf viele türkeistämmige Schüler haben. Viele von ihnen hätten durch persönliche Erfahrungen ein ganz anderes Türkeibild als das, was in den deutschen Medien dargestellt werde. „Die Menschen in der Türkei gehen zur Arbeit, in die Kinos, ins Theater oder an den Strand. Ihre Verwandten und Freunde führen ein ganz normales Leben. Natürlich war der Putschversuch ein großer Schock und es gibt Probleme bei der Aufarbeitung, aber es gibt nichts, was einen Vergleich mit der deutschen Geschichte rechtfertigen könnte“, so Aydın.

Und deshalb verstörten solche Arbeitsblätter die Schüler im Unterricht. Die Folgen seien äußerst kontraproduktiv: „Entweder verschließen sie sich der Diskussion, weil sie vielleicht mit Erdoğan aympathisieren oder aber sie schlussfolgern im Hinblick auf ihre persönlichen Erfahrungen – und das ist noch schlimmer -, dass es in der Nazizeit dann ja gar nicht so schlimm gewesen sein kann“.

Türkischer Elternverband: Darstellung kann Schüler radikalisieren

Kritisch bewertet auch die Föderation Türkischer Elternvereine in Deutschland (FÖTED) die Arbeitsblätter. Sie sieht in der Abhandlung des Themas eine „überzogene Darstellung“. Das gelte insbesondere für den „Vergleich mit Nazideutschland, welches ein Unikum in der Weltgeschichte ist“, teilte Ali Sak, Bundesvorsitzender der Föderation, dem MiGAZIN mit. FÖTED versteht sich als Sprachrohr von Eltern türkischer Herkunft und setzt sich für die Verbesserung der Chancen türkischstämmiger Kinder im Erziehungs-, Bildungsbereich ein. Ihr gehören bundesweit mehr als 80 Mitgliedsvereinen an.

Besonders befremdlich findet Sak die in dem Text verwendete Hakenkreuz-Karikatur. „Durch den Vergleich würden die Verbrechen des dritten Reiches stark relativiert.“ Auch wenn der autoritäre Stil Erdoğans nicht zu leugnen sei und antidemokratische Züge enthalte, sei die „Art und Weise des Umgangs mit dem Thema problematisch und, zumindest in dieser Form, pädagogisch zweifelhaft“. Diese Darstellung könne Schüler mit türkischem Migrationshintergrund „polarisieren und eventuell auch radikalisieren“.

„Kleiner Erdoğan“ – Schüler gehänselt

Recep Demir 2, Schüler an einem Kölner Gynasium, hat die Arbeitsblätter im Politikunterricht der 9. Klassse selbst erlebt. Schon bei der zweiten Frage verweigerte er die Mitarbeit. „Bei diesem Text mussten wir ja zu einem ganz bestimmten Ergebnis kommen, nämlich dass Erdoğan schlecht ist. Da mache ich nicht mit“, so der 15-Jährige. Eingegangen sei der Lehrer auf seine Argumente nicht. Ergebnis: „Ich habe einen negativen Eintrag in das Klassenbuch bekommen und einige Mitschüler haben mich als ‚Kleiner-Erdoğan‘ gehänselt“.

Receps Vater „kann nicht verstehen, wie man Schülern solche Hetz-Blätter vorlegt“. Er werde ein Gespräch mit dem Schuldirektor und dem Lehrer führen, kündigte er dem MiGAZIN an. Auch die Erklärung des Schulministeriums ist für den zweifachen Vater nicht nachvollziehbar. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Schulministerium keinen Einfluss auf die Lehrmaterialien hat. Die würden sofort einschreiten, wenn es nicht um Erdoğan ginge.“ (es)

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  1. SHILA ESPANYOL sagt:

    Der Deutsche ist sich seiner geschichtlichen Greueltaten durchaus bewußt. Was wäre es schön, wenn man dieses singuläre Ereigniseinem anderen Volk unterjubeln könnte. Wäre nicht mehr singulär und man könnte mit dem Finger auf andere zeigen. Schöne neue Welt