Atmosphäre der Menschlichkeit

„Mir ist das Wasser in die Augen geschossen, als ich die Flüchtlinge gesehen habe.“

Flüchtlingshelferinnen erinnern sich an die Münchner Willkommenskultur vom September 2015 – und staunen im Rückblick, was alles möglich war.

Barbara Weiß sitzt vor dem Fernseher und schaut Nachrichten, als sie eine Entscheidung trifft. Sie sieht die Bilder der Tausenden ankommenden Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof und der vielen Menschen, die ihnen applaudieren und zujubeln. Sie beschließt: Sie muss sich selbst ein Bild von der Situation vor Ort machen. Noch am selben Abend, es ist der 11. September 2015, steht die selbstständige Buchhändlerin aus dem Münchner Osten am Hauptbahnhof.

„Mir ist das Wasser in die Augen geschossen, als ich die Flüchtlinge gesehen habe“, sagt Barbara Weiß, die sich schon vor 20 Jahren ehrenamtlich um Flüchtlinge gekümmert hat. Sie geht zu den Helfern und fragt, wo sie mit anpacken kann. Die ganze Nacht ist sie dann damit beschäftigt, alleinreisende Männer in eine Notunterkunft in der Nähe des Bahnhofs zu geleiten. Zwei Gruppen mit 500 Flüchtlingen sind es insgesamt. 10 bis 15 Helfer begleiten die Flüchtlinge, vorne und hinten sichern Polizeibeamte.

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In der ersten Septemberhälfte kommen mehr als 60.000 Asylbewerber am Münchner Hauptbahnhof an – mehr als Bayern im gesamten Jahr 2014 aufgenommen hat. Hunderte freiwillige Helfer sind rund um die Uhr im Einsatz, versorgen die Menschen, die über die Balkan-Route und dann über Ungarn und Österreich eingereist sind, mit dem Nötigsten. Die Bilder der Münchner Gastfreundschaft gehen um die Welt und stehen bald sinnbildlich für die deutsche Willkommenskultur.

Auch die Innere Mission München, die seit mehr als 30 Jahren die Sozialbetreuung in der Münchner Erstaufnahmeeinrichtung innehat, ist am Hauptbahnhof im Dauereinsatz. „Wir sind zwar alte Hasen, was das Thema Flüchtlinge angeht“, sagt die Abteilungsleiterin für Hilfen für Flüchtlinge, Migration und Integration, Andrea Betz. Doch so etwas wie vor einem Jahr habe noch niemand erlebt. Auch Andrea Betz ist im Rückblick immer noch „überwältigt“ von den freiwilligen Helfern, spricht von einer „Atmosphäre der totalen Menschlichkeit“.

Die Organisation der Helfer, das Zusammenspiel zwischen Freiwilligen und offiziellen Einsatzkräften – das alles sei perfekt gewesen, sagt auch Barbara Weiß. „Es ist faszinierend, zu erleben, dass man mit Wildfremden etwas anpackt, und dann kommt dabei etwas Gutes heraus.“ Beim Anblick der Tausenden Flüchtlinge habe sie schon geschluckt. Zu sehen, was die Flüchtlinge dabei hatten – oder eben nicht -, sei hart gewesen. Viele Flüchtlinge kommen mit nichts an außer ihrer Kleidung am Körper, andere haben ihr Hab und Gut in Plastiktüten gestopft.

Weniger begeistert ist die 50-Jährige allerdings von der anfänglichen Jubelstimmung am Bahnhof. Applaus für Flüchtlinge sei das falsche Signal. Denn das könne den Anschein für die Neuankömmlinge erwecken, dass in Deutschland alle ihre Probleme gelöst würden. Außerdem spiele es den Schlepperbanden in die Hände. Denn die erzählten den Flüchtlingen immer wieder Geschichten, wie toll und einfach alles in Deutschland sei. Wer dann die applaudierenden Münchner im Fernsehen sieht, könnte womöglich meinen: „Die Schlepper haben recht.“

Andrea Betz hält dagegen: „Warum sollen die Menschen denn nicht applaudieren?“ Das habe in dem Moment einfach gepasst, die Menschen wollte ihre „riesige Solidarität“ mit den Geflüchteten ausdrücken. Applaus habe etwas mit Würde zu tun. Viele Flüchtlinge hätten ihr im Nachhinein erzählt, dass sie seit langem für einen kurzen Augenblick keine Angst mehr hatten. Denn: „Wenn jemand klatscht, dann ist er kein Feind.“

Barbara Weiß jedenfalls ist froh, dass sie am Hauptbahnhof mitgeholfen hat. In den folgenden Monaten arbeitet sie weiter ehrenamtlich in der Notunterkunft Dornach im Münchner Osten und gibt Deutschunterricht. Seit einigen Wochen ist sie auch Patin für einzelne Flüchtlinge, hilft ihnen im Alltag oder macht Ausflüge mit ihnen. Asyl-Gegner verstehe sie nicht, sie machten es sich zu einfach, sagt Weiß. Denn: „Sehr viele Leute reden über Flüchtlinge, ohne einen zu kennen. Und was man nicht kennt, macht Angst.“ (epd/mig)