Flüchtlingspolitik

Libyen im Fokus europäischer Grenzpolitik

Der Fokus europäischer Grenzschutzpolitik richtet sich aktuell auf Libyen. Um Flüchtende abzuhalten, sollen Migrationsbewegungen schon vor Ort kontrolliert und gesteuert werden. Die Verantwortung für die Ausführung wird an Externe übergeben. Das geht häufig zu Lasten von Menschenrechten. Von Torben Weymann

Libyen ist Ziel- und Transitland vielfältiger Migrationsbewegungen aus unterschiedlichen Herkunftsregionen des afrikanischen Kontinents. Waren es zunächst vor allem Arbeitsmigranten aus umliegenden Staaten wie Niger, Mali, Tschad, Sudan, Tunesien  und Ägypten, zog es aufgrund der lockeren Grenzpolitik auch viele Menschen aus dem subsaharischen Raum nach Libyen. Herkunftsregionen der Migrierenden sind der arabische und maghrebinische Raum West- und Zentralafrika sowie ostafrikanischen Staaten. Diese Entwicklung hält bis heute an, da die instabile politische Situation seit den revolutionären Umbrüchen im Jahr 2011 zur Folge hat, dass die Grenzen Libyens nicht umfassend kontrolliert werden. Der Zugang in die Region und die Möglichkeit einer Weiterreise nach Europa gestalten sich angesichts fehlender Grenzkontrollen vergleichsweise einfach.

Ebenso vielfältig wie die Herkunftsregionen sind die Beweggründe, aufgrund welcher sich Menschen zur Migration entschließen. Oftmals sind mehrere Gründe für die individuelle Migrationsentscheidung ausschlaggebend und politische und wirtschaftliche Faktoren ergänzen sich. Der Amnesty-Report Afrika 2014/15 zeigt in vielen Herkunftsregionen der Migrierenden gewaltvolle Handlungen auf. Die Konflikte im Sudan sind nicht beigelegt und werden in gewaltvollen Auseinandersetzungen fortgeführt beziehungsweise weiten sich auf weitere Regionen aus.  Im Norden  Nigeria nehmen Angriffe der „islamistischen“ Gruppe Boko Haram zu, was zur Instabilität der gesamten Region beiträgt. Während Auseinandersetzungen mit bewaffneten Gruppen wurden in der Demokratischen Republik Kongo mehr als eine Million Menschen vertrieben und in Somalia werden die Kämpfe unter Beteiligung von Regierungstruppen, der Friedensmission der Afrikanischen Union und der Al-Shabab Milizen weiterhin geführt. Auch in Süd- und Zentralsomalia setzt der bewaffnete Konflikt zwischen regierungstreuen Militäreinheiten und der bewaffneten islamistischen Gruppe Al-Shabab fort.

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Neben bewaffneten Konflikten und Krieg stellt die Vernichtung fruchtbaren Ackerbodens als existenzielle Lebensgrundlage einen weiteren bedeutenden Migrationsfaktor dar. Bodendegradation und Dürre führen zu einem Zusammenbruch der lokalen Lebensmittelwirtschaft. Vor allem in der Sahelzone siedelnde Menschengruppen sind von der Zerstörung ihrer Existenzgrundlagen betroffen. Dazu verstärkt Afrikas enormes Bevölkerungswachstum die angesprochenen Umweltprobleme. Eine Studie des Berlin Instituts aus dem Jahr 2011 geht davon aus, dass sich die Bevölkerung der subsaharischen Staaten Afrikas bis 2050 verdoppeln wird. Die unzureichende Versorgung mit Trinkwasser, Lebensmitteln und Brennstoffen wird durch diese Entwicklung verschärft. Die Folge ist eine Abwanderung in die Städte, die jedoch aufgrund des starken Zuzugs vielfach keine ausreichende Infrastruktur bieten können. Die mangelnde Versorgung belastet zudem die ohnehin fragile politische Stabilität vieler afrikanischer Regionen. Es folgen Migrationsprozesse, vor allem Richtung Libyen.

Jedoch bietet Libyen als Zielland auch keine Perspektive mehr. Die Situation für schon länger in Libyen Verweilende und neuankommende MigrantInnen verschlechtert sich seit der Revolution im Jahr 2011 zunehmend. Es ist eine zunehmende Diskriminierung und gesellschaftliche Marginalisierung dieser Gruppierung zu beobachten. Laut einem Statusbericht von OCHA haben bis zu 250.000 von geschätzten 1.000.000 MigrantInnen in Libyen keinen Zugang zum Gesundheits- und Bildungswesen. Der Amnesty International Report 2014/15 berichtet zudem von gewalttätigen und sexuellen Übergriffen, Folter sowie Menschenhandel.

Aufgrund der beschriebenen Situation kann angenommen werden, dass sich eine wachsende Zahl der MigrantInnen in Libyen für eine weitere Migration nach Europa entscheidet. Legale Migrationsmöglichkeiten in die EU sind den allermeisten Menschen nicht gegeben. Irreguläre Einwanderung stellt somit den einzigen Weg in die EU dar. Die libysche Küste ist wegen seiner Nähe zu europäischem Territorium und aufgrund meist fehlender Kontrolle durch die lybische Küstenwache ein geeigneter Startpunkt für die Überfahrt über das Mittelmeer.  Im Jahr 2015 überquerten ca. 150.000 Menschen, vor allem aus dem subsaharischen und ostafrikanischen Raum, das Mittelmeer von der libyschen Küste in Richtung der italienischen Inseln sowie des Festlandes.

Der exterritoriale Ausbau des europäischen Grenzregimes

Um diese Migrationsbewegungen zu kontrollieren und einzuschränken setzt die EU zunehmend auf exterritoriale Maßnahmen, mittels derer die Migrationsbewegungen überwacht und selektiv gesteuert werden können. Die Maßnahmen sind also nicht auf dem Territorium der EU, sondern in Herkunfts- und Transitstaaten zu verorten. Daraus folgt eine fortlaufende Transformation des Grenzregimes, welches die Funktionen der EU-Außengrenzen vorverlagert. Die Gestalt der Grenze wandelt sich von einer linearen Form hin zu einem über das Territorium der EU hinausreichenden Grenzraum.

Die Schaffung dieses Grenzraumes wird vor allem durch politische Vereinbarungen zwischen der EU und relevanten Transitländern in der direkten Nachbarschaft geschaffen. Dies erfolgt teilweise bilateral, wie im Falle der Verhandlungen der deutschen Bundesregierung mit Marokko und Tunesien, in anderen Fällen tritt die EU als Verhandlungspartnerin auf. Die Vereinbarungen beinhalten zumeist eine Rücknahme der aus diesen Transitländern in die EU immigrierten Personen, als Gegenleistung werden wirtschaftliche oder politische Kooperationen verhandelt. Als Blaupause in aktuellen Verhandlungen dient das Rücknahmeabkommen der EU mit der Türkei, welches am 20.03.2016 in Kraft getreten ist.

Beim Ausbau des Grenzregimes in Nordafrika hat Libyen in zweierlei Hinsicht eine herausragende Relevanz. Einerseits ist Libyen das vorrangige Transitland für irreguläre Migration aus Afrika und Teilen Asiens in die EU, im Jahr 2016 erreichten bis Ende Mai knapp 50.000 Menschen Italien über die zentrale Mittelmeerroute. Andererseits stellt die instabile politische Situation nach den revolutionären Umbrüchen 2011 die Umsetzung von Abkommen vor enorme Schwierigkeiten.

Europäische Migrationspolitik in Libyen

Die Vorverlagerung des europäischen Grenzregimes ist abhängig von politischen Verhandlungen mit den beteiligten Staatsregierungen. Ein Zugewinn des Einflusses der EU auf die Steuerung von Migrationsprozessen außerhalb der eigenen Grenzen ist mit der Notwendigkeit verbunden, in Kooperation mit staatlichen oder privaten Akteuren zu treten.

Diese Tatsache stellt die Vereinbarung eines Abkommens mit einer libyschen Regierung vor enorme Schwierigkeiten. Bis April 2016 konkurrierten zwei Regierungen um Einfluss und Macht, bis von den Vereinten Nationen im April 2016 eine sogenannte Einheitsregierung unter Ministerpräsident Fajis Sarradsch eingesetzt wurde, die seitens der EU anerkannt wurde und seitdem als Verhandlungspartnerin fungiert. Allerdings wird diese Regierung von bisherigen Machteliten innerhalb Libyens nicht anerkannt oder massiv unter Druck gesetzt. Um ihren Einfluss dennoch auszuweiten, versucht die EU in Zusammenarbeit mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen mittels finanzieller Unterstützung die Einheitsregierung zu stärken und weiter zu etablieren. Den Abschluss eines Rücknahmeabkommens schloss der libysche Ministerpräsident in einer Erklärung jedoch aus. Die Implementierung eines Abkommens erscheint daher zumindest fraglich und abhängig vom politischen Angebot seitens der EU. Gleichzeitig verhandelt die EU mit weiteren afrikanischen Staaten, darunter Eritrea, Somalia, Äthiopien und der Sudan.

Um ihren Einfluss auf die Migrationsbewegungen in der Region dennoch zu steigern, hat die EU eine Ausweitung der seit Sommer 2015 laufenden EU-Marinemission EUNAVFOR MED beschlossen. Die Schiffe, die zur Aufklärung von Schleusernetzwerken beitragen sollen, agieren bisweilen auf hoher See. Eine geplante Ausdehnung des Einsatzgebietes in libysche Gewässer steht noch aus, da hierfür ein offizielles Hilfegesuch der libyschen Regierung notwendig ist. Die Mission wurde Ende Mai 2016 um ein Jahr verlängert. Ebenfalls wurde eine Ausweitung des Mandats auf die Ausbildung von libyschen Grenzschutzbeamten beschlossen.

Aus einem internen Papier des Europäischen Auswärtigen Dienstes geht laut Spiegel hervor, dass innerhalb der EU über die Schaffung und Unterhaltung von Auffanglagern und Inhaftierungseinrichtungen für Migrierende auf libyschem Territorium verhandelt wird. Schon vor dem Verlassen des libyschen Territoriums würden MigrantInnen auf ihren Status und ihr Anrecht auf Asyl oder Einwanderung geprüft werden.

Fragile Territorialität – Diffuse Verantwortlichkeiten

Solche Entwicklungen zeigen die weitergehende Implementierung von Instrumenten, deren Zweck die Kontrolle und Steuerung von Migrationsbewegungen schon außerhalb des Territoriums der EU ist. Dabei reicht die Palette der Instrumente von wirtschaftlichen und politischen Zugeständnissen, über militärische Missionen bis hin zur Externalisierung exekutiver Funktionen im Interesse europäischer Migrationspolitik. Die Implementierung exterritorialer Instrumente durch externe Akteure bietet der EU die Möglichkeit, Einfluss auf Migrationsbewegungen zu nehmen, ohne selbst als Akteurin in Erscheinung zu treten. Diese Territorialität, als räumliche Strategie zur Kontrolle von Migration, ist dadurch nicht mehr von der eigenen Souveränität über ein Hoheitsgebiet abhängig, sondern vom politischen Vermögen, die eigenen Interessen durchzusetzen. Damit ist die EU beim Ausbau der Grenzsicherung und Migrationsabwehr auf die Mitwirkung unterschiedlicher Akteure angewiesen. Dies hat Auswirkungen auf die Stabilität und Kontinuität der auf exterritorialen Instrumenten basierenden Strategie der Grenzsicherung, da Abkommen und Vereinbarungen aufgeweicht, geändert oder schlicht nicht eingehalten werden können. Aktuell zeichnet sich diese Fragilität im Kontext des Rücknahmeabkommens mit der Türkei ab.

Gleichzeitig verursachen die Vereinbarungen und die Externalisierung von Grenzsicherungsmaßnahmen an staatliche und private Akteure eine diffuse Zuschreibung von Verantwortlichkeiten. Die Verantwortung für die Ausführung und die Wirkung von Maßnahmen liegen nicht bei der EU selber, sondern bei von Ihr beauftragten externen Akteurs-Konstellationen. Die exterritorialen Instrumente und multilateralen Konstellationen europäischer Grenzpolitik können zu Vereinbarungen und Handlungen führen, die Fragen bezüglich Humanität und Ethik sowie der Verantwortung für die Einhaltung von Menschenrechten praktisch nachrangig werden lassen.