Kein sicheres Land

Exodus Homosexueller aus Marokko

Noch nie waren so viele Homosexuelle aus Marokko im Erstaufnahmezentrum für Migranten in der spanischen Nordafrika-Enklave Melilla untergebracht. Wegen der Verfolgung und Gewalt gegen sie im Maghreb-Königreich suchten sie um Asyl an. Dass sie es erhalten, ist unwahrscheinlich. Auch Deutschland würde sie gerne schnell zurückschicken.

Es mag paradox erscheinen. Knapp 3.000 syrische Flüchtlinge, darunter mehrheitlich Familien mit Kindern sind es, die vor den Grenzbefestigungen der spanischen Nordafrika-Enklaven Ceuta und Melilla auf marokkanischer Seite, vergessen von der Weltöffentlichkeit auf Hilfe warten. Doch zugleich entpuppt sich das Auffanglager CETI (span. Centro de Estancia Temporal de Inmigrantes) in Melilla als Refugium für in Marokko verfolgte Homosexuelle, wie NGOs berichten. Das vor nicht einmal einem Jahr mit mehr als 1.400 Internierten restlos überfüllte Erstaufnahmezentrum ist mittlerweile fast verwaist. Dort stellen nun schwule und lesbische Marokkaner das größte Kollektiv.

Wie Hassan (25) aus dem nahen Alhucemas. Er kam erst vor wenigen Tagen an. Andere, wie Fati (28) aus Nador, leben bereits sechs Monate im Lager. Aus Angst verweigern alle die Angabe ihres vollen Namens. Alle außer Driss El Arkoubi. Er war bereits neun Monate zwischen 2013 und 2014 in Melilla. Nachdem ihn vier Männer am Grenzübergang Farhana vergewaltigt hatten suchte er Schutz, und war in medizinischer Behandlung. Asyl wurde El Arkoubi verwehrt. Spanien schob ihn in sein Ursprungsland ab. Also versuchte er es eben auf ein Neues.

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Derzeit sind es in Summe 73 Homosexuelle, die in Melilla um Aysl in Spanien ansuchen. Ein Rekord, der bereits im Erstquartal 2016 die Gesamtzahl der Anträge des Vorjahres übertraf. Ob sie es auch erhalten, darf angezweifelt werden. Ganz gleich welches Schicksal sie in ihrer Heimat erfahren haben. Die Mehrheit wurde zeitlebens misshandelt, als Kinder oder Jugendliche bereits, von Familienmitgliedern, Nachbarn, oder gar Lehrern. Wie im Falle Fatis, dessen Martyrium bereits mit sieben Jahren in der Schule begann. Ab dem elften Lebensjahr schminkte er sich, und kleidete sich gerne mit Frauengewändern. Fati wechselte die Schule, brach seine Ausbildung ab. Jahre lang arbeitete als Friseur, bis eine Gruppe Männer den Salon überfiel, und ihn bei lebendigen Leibe verbrennen wollte.

„Mein Traum ist es nicht, nach Europa zu gelangen“, sagt er: „Ich will nur raus aus Marokko.“ Dort sei er weniger als Nichts. Er wolle frei sein. Nur das. Um der sein zu können, der er ist, sagt er unter Tränen. Anders als die internierten Migranten aus dem südlicheren Afrika, wagen sich die Homosexuellen kaum hinaus aus den sicheren Wänden des CETI-Lagers. Erlebte Traumata wiegen schwer. Ohnehin ist der Gebäudekomplex fern des Stadtzentrums. Und die marokkanische Bevölkerung Melillas ist groß. Stellt sie doch knapp 40 Prozent. Hassan betont, dass man sie nicht akzeptiert. Zudem betrieben auch die „Barträger“, wie er die Islamisten nennt Geschäfte, aus denen man sie auch mit Gewalt hinauswerfe. Allen hat man mehrmals die Handys gestohlen, sie verprügelt, von omnipräsenten Beschimpfungen oder dem Bespucken einmal ganz abgesehen. Darum fordern sie mehr Polizeipatrouillen vor dem CETI. „Wir sind auf keiner Seite der Grenze sicher.“

Eine mit Hiyab traditionell-marokkanische gekleidete Passantin ruft Fati und Hassan zu, sie wären schamlose Perverse. „Kawm lot!“, murmelt sie. Ein arabischer, redensartlicher Bezug auf Lot, einen Verwandten Abrahams der im biblischen Sodom wohnte – und Beleidigung wie Sodomit im westlichen Sinne. Doch steht mehr dahinter. In gewisser Weise glaubt man, dass Homosexualität oder eben Transsexualität, nicht nur den Menschen solcher Neigung die Strafe Gottes droht. Sondern ihren Familien, Heimatdörfern und Städten ganz generell. Was mittelalterlich in Sachen Weltanschauung wirkt, bestätigt Hassan. „Sie werfen uns vor, dass die jüngsten, häufigen Erdbeben, die Nador und Alhucemas trafen, unsere Schuld seien.“ Ganz gleich welch Unheil eintritt, man trage dafür die Verantwortung. Wir sind es, die Gottes Zorn schüren. Dieser Aberglaube sei im Rif-Gebirge und im armen, stockkonservativen Norden Marokkos noch weit verbreitet.

Doch Hassan, Fati und den anderen blüht wohl ähnliches Schicksal wie abertausenden Syrern: die Abschiebung. Bekanntermaßen ist Madrid in Sachen Asylvergabe sehr restriktiv, und auch in punkto Flüchtlingsaufnahme sträubt sich die geschäftsführende Rechtsregierung unter Premier Mariano Rajoy (Partido Popular, PP) unter dem Deckmantel der hohen Arbeitslosigkeit beträchtlich gegen Brüsseler Quoten.

Dabei ist Homophobie und Gewalt gegen sexuelle Minderheiten in Marokko weit verbreitet, und auch strafrechtlich trotz Kritik der EU, der UNO und Menschenrechtsorganisationen nach wie vor fest verankert. Es ist der umstrittene Paragraf 489 des Strafgesetzbuches, der Homosexualität straft. Und auch oftmals angewandt wird. Seit 1972 sind für „Delikte der Perversion“ zwischen sechs Monaten und drei Jahren Strafrahmen Usus, neben begleitender Geldstrafen.

Auf der anderen Seite ist Prostitution von Homo- und Transsexuellen keine Seltenheit. Ganz im Gegenteil, wie man selbst bei nächtlichen Spaziergängen etwa in Tanger mehr oder wenig offen sieht. So erzählen auch im CETI Internierte, die sich prostituiert hatten davon, dass nicht selten dieselben Männer, die sie mittags noch angespuckt hatten, nachts ihre Dienstleistungen wollten. Paradox und eine Hypokrisie.

Freilich sind auch homosexuelle Marokkanerinnen in Melilla um Asyl zu erhalten. Wie Houria (21); sie wurde von ihrer Familie und Bekannten veprügelt und misshandelt, nachdem sie ihre Beziehung zu Fadma (25) bekannt machte. Beide flohen nach Melilla, wo sie sich zwar trennten, aber gemeinsam weiterhin von ihre Rechte gemeinsam kämpfen. „Es kann nicht sein, dass wir aufgrund unserer sexuellen Orientierung als Verbrecher gelten. Und dass man uns zwingt, unsere Familien zu verlassen.“ Nur weil man anders wäre.

Ende März erst verurteilte das Gericht von Beni Melal in Zentralmarokko zwei Homosexuelle zu zwei Jahren Haft. Die Verurteilten wurden am 9. März entdeckt, aus dem Bett gezerrt, und von einem wütenden Mob auf das Schwerste verprügelt, beleidigt und nackt durch die Straßen gehetzt. Um ein Haar hätte man sie gelyncht. Kürzlich erst hat Rabat auch Femen-Aktivistinnen ausgewiesen, die eine Protestaktion beim Prozessauftakt gegen einen Homosexuellen organisierten.

Die marokkanische Organisation für Menschenrechte (AMDH) und die Homosexuellen-NGO Kif-Kif, was neben vieler Bedeutungen auch „Gleich zu gleich“ bedeutet, klagen über institutionelle Verfolgung von gleichgeschlechtlichen Paaren, und Schwulen wie Lesben generell, nebst eine starken gesellschaftlichen Stigmatisierung. Die Regierungsbeteiligung der moderat-islamischen Partei für Justiz und Entwicklung (PJD) mit ihrem religiösen Diskurs hat die Radikalisierung und die Macht der Sittenwächter gestärkt. Stets härter wird gegen das LGBT-Kollektiv vorgegangen. Für die Partei unter Regierungschef Abdelilah Benkirane sei Homosexualität Fehlverhalten und eine Provokation. Eine, die die Werte der marokkanischen Gesellschaft ignoriere.

Seitens Kif-Kif ist man alarmiert. Denn selektiv startet die Polizei Razzien in der Szene, und „Lektionen zu erteilen“ und „Angst zu schüren“. Und die EU-Staaten zeigen sich diesbezüglich auf beiden Augen blind, gilt doch Marokko für das Gros als sicherer Drittstaat und Herkunftsland. Auch deutsche Regierung lässt in diesen Tagen nichts unversucht, damit Algerien, Tunesien und Marokko als sichere Herkunftsländer eingestuft werden.