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Sevim Dagdelen, migrations- und integrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag

Wahrlich ein "Meilenstein"

Integrationsgesetz befördert Spaltung und bedient Vorurteile

Die Bundesregierung bejubelt das sogenannte Integrationsgesetz als einen großen Wurf. Sevim Dağdelen (Die Linke) ist anderer Meinung. Das neue Gesetz fördere nicht, sondern behindere Integration - aus mehreren Gründen. Ein Gastbeitrag

Von Freitag, 27.05.2016, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 30.05.2016, 15:55 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Das Bundeskabinett hat auf seiner Klausurtagung in Meseberg ein „Integrationsgesetz“ auf den Weg gebracht und sich dafür erst einmal selbst auf die Schulter geklopft. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verkündete am Mittwoch, zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik gebe es ein Bundesgesetz zur Integration. Es sei ein Fortschritt und „Meilenstein“, dass der Bund dies als seine Aufgabe ansehe. Das Gesetzespaket enthalte ein „gutes Angebot“ an Flüchtlinge. Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) bezeichnete das Regelungspaket als „Einwanderungsgesetz 1.0“. und „echten Paradigmenwechsel“. Die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoğuz (SPD), jubelte: „Es ist zum ersten Mal ein Gesetz, auf dem wirklich Integra­tion steht.“

Mag auch „Integration“ auf dem Gesetz stehen, Desintegration wird es befördern. Das sieht nicht nur Die Linke so, auch Verbände wie Pro Asyl und Diakonie schlagen Alarm. Merkels „Fördern und Fordern“-Gesetz wird entgegen den propagandistischen Ausführungen der Bundesregierung die „neu Angekommenen“ eben nicht „zu guten Nachbarn und Bürgern werden“ lassen und „den gesellschaftlichen Zusammenhalt (…) stärken und Parallelgesellschaften in unserem Land (…) verhindern“.

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CDU/CSU und SPD schaffen einen neuen Billigstsektor. 100.000 Flüchtlinge sollen zu 80-Cent-Jobbern werden – um damit noch die mies bezahlten Ein-Euro-Jobs zu unterbieten. Begründung für den 20prozentigen Abzug: Flüchtlingen entstünden ja keine Mehraufwendungen für Arbeitskleidung oder Fahrtkosten, wenn sie in Sammelunterkünften tätig würden. Sicher werden sich viele über das Ende der Beschäftigungslosigkeit freuen. Vor allem aber werden Ängste vor einer Lohnspirale nach unten befördert und rassistische Ressentiments bedient. Wer Integration will, muss sozial­versicherungspflichtige und rechtlich abgesicherte Arbeitsverträge garantieren. Eine Vergütung unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns ist indiskutabel. Prekäre Beschäftigung kommt weder deutschen Arbeitnehmern noch Flüchtlingen zugute, sondern allein der Arbeitgeberseite.

Damit nicht genug. Flüchtlingen werden beim Ankommen in der Gesellschaft weitere Steine in den Weg gelegt. Über die sogenannte Wohnsitzauflage sollen sie auch in Gegenden gezwungen werden, in denen sie keine Perspektive haben, weil Arbeitsplätze und Infrastruktur fehlen. Diese Residenzpflicht ist das Gegenteil von Integration. Sie führt zu Ausgrenzung und sozialer Ghettoisierung – und sie offenbart das Staatsversagen bei der Arbeitsmarkt- als auch Wohnraumpolitik.

Merkels „Integrationsgesetz“ soll vor allem von den realen gezielten Versäumnissen der Bundesregierung in der Integrations- und Flüchtlingspolitik ablenken. Was etwa sollen weitere Sanktionsregelungen im Zusammenhang mit Integrationskursen? Einen realen Bedarf für solche Verschärfungen wegen „Integrationsverweigerung“ kann Merkels Kabinett nicht darlegen. Es geht ausschließlich um Stimmungsmache. Auch wird so getan, als gebe es nicht schon genügend Sanktionsmöglichkeiten. Schon heute kann die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abgelehnt werden, wenn er einen Integrationskurs nicht wie vorgeschrieben besucht. Beziehern von Arbeitslosengeld II („Hartz IV“) wird zudem der Regelsatz um zehn Prozent gekürzt, wenn sie einen verordneten Integrationskurs nicht besuchen. Bei wiederholter Pflichtverletzung werden 60 Prozent gekürzt, beim dritten Mal alles. Schon, dass diese Strafmaßnahmen nicht bzw. kaum umgesetzt werden müssen, zeigt, dass es keinen Grund für sie gibt.

Von der Notwendigkeit, Deutsch zu lernen, muss niemand überzeugt werden. Es gibt keine mangelnde Motivation von Migranten, entsprechende Kurse zu besuchen, sondern vor allem mangelnde Möglichkeiten, entsprechende Angebote wahrzunehmen. Zwischen Kursnachfrage und -angebot klafft weiter eine große Lücke. Das ist Merkels Versagen. Ihr Integrationsgesetz aber stellt Flüchtlinge als „Drückeberger“ dar und spaltet die Gesellschaft weiter. Notwendig ist eine soziale Offensive für mehr Beschäftigungsmöglichkeiten und sozialen Wohnraum, zur Stärkung der Kommunen und Städte. Insbesondere strukturschwache Gebiete müssen gefördert werden. Das käme allen hier lebenden Menschen zugute. Aktuell Politik

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  1. Der fragende sagt:

    Was mir in dieser diskussion fehlt ist die frage nach der rolle von bürgern mit migrationshinergrund, die seit über 60 jahren schon hier leben. Welche rolle haben sie in dieser gesellschaft? Müssen sie noch integriert werden, sind sie schon integriert. Stehen sie unter oder über dem ossi/wessi? Sind sie gleichberechtigt? Sollen sie es sein? Was ist die rolle die ihr zugestanden wird?

  2. Musso sagt:

    Jetzt gilt es sozialen Wohnungsbau voranzutreiben, natürlich wo die Jobs sind: Also in westdeutschen Ballungsgebieten, aber in guten Wohnlagen, schließlich
    ist die Integration dort nachgewiesenermaßen am Besten. Dazu noch muslimische Kindergärten und Moscheen,
    nach einem festgelegten Schlüssel um Willkür zu vermeiden. In diesen Gebäuden könnten dann Abends auch die Sprach- und Integrationskurse stattfinden, deren
    Inhalt konsequent auf strukturellen Rassismus zu prüfen ist. Die Integrationslehrer_innen leisten genauso wichtige Arbeit wie an der Schule und
    müssen folglich auch verbeamtet werden, alles andere ist eine Ungleichbehandlung. Parallel muss der Staat über eine Flüchtlingsquote in der Verwaltung und bei Unternehmen nachdenken,
    falls sich die Unternehmen weigern der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe nachzukommen. Die so integrierten Neubürger schließen dann die demographische Lücke und alle haben gewonnen.

  3. Matthias sagt:

    Frau Dagdelen,

    Ghettos werden nicht vermieden durch Streichung der Wohnsitzauflagen. Das haben wir doch jetzt ne Zeitlang probiert.

    Ich bin dankbar dafür, dass sie auf Bundesebene keine Rolle spielen!