Idomeni

Normalität des Elends

Seit zwei Monaten ist der Grenzübergang bei Idomeni geschlossen – die Wartenden haben sich eingerichtet und Europa hat sich an die Bilder von dort gewöhnt. Bericht aus einer normal gewordenen Katastrophe, die sich in den offiziellen Camps nicht bessert. Von Tim Lüddemann

Vor einigen Wochen veränderten sich die Behausungen in Idomeni. Die hunderte Campingzelte sind zu kleinen Hütten ausgebaut worden, teilweise sogar mit eingebauten Öfen. Die Menschen haben sie zu kleinen Gruppen zusammengestellt, mit großen Planen überdacht. Die Bewohner haben sich in dem Camp bei Idomeni eingerichtet.

Auf der zentralen Straße bieten Händler ihre Waren und Barbiere ihre Dienste an. Es gibt Falafel- und Brotstände, die Angebote der Hilfsorganisationen spielen sich in einem zeitlichen Takt ab. Seit Mitte April gibt es sogar eine von Volunteers aufgebaute Schule, das Idomeni Cultural Center. In einem Hinterhof wird Volleyball gespielt, auf einem Feld treten zwei Fußballmannschaften an. Regelmäßig besuchen Clowns die Bewohner und unterhalten die Kinder, Bands spielen für die Erwachsenen. Wenn man an einem sonnigen Tag durch Idomeni läuft, kann man leicht den Eindruck bekommen, es würde sich um ein friedliches und gemütliches Camp handeln.

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Die Versorung mit warmen Essen wird weiterhin ausschließlich von privaten Inititativen und NGOs übernommen. © Tim Lüddemann

Täuschende Normalität

Die scheinbare Normalität täuscht über die tragischen Schicksale der Menschen und den Ausnahmezustand hinweg. Die Familie Nabi lebt seit zwei Monaten in dem Camp. Ursprünglich kommen sie aus dem syrischem Kobani. Mehrere Jahre haben sie im syrisch-türkischen Grenzgebiet gelebt. Rita, das jüngste der Kinder, hat seit vier Jahren keine Schule mehr besucht, es gab keine Arbeit, die Versorgung war schlecht. Deshalb entschieden sie sich, die Region Richtung Europa zu verlassen, auf der Suche nach einer Perspektive.

Hunderte campieren auf den Gleisen, die durch das Camp Idomeni führen. Die griechische Regierung versucht sie freizuräumen. © Tim Lüddemann

Die Familie lebt nun in Idomeni in einem Bretterverschlag und in zwei Zelten. Neun Personen auf zwölf Quadratmeter. Sie versuchen über das Relocation Program in ein europäisches Land weitervermittelt zu werden, raus aus Idomeni. Aber die Formalitäten werden über Skype abgewickelt und es gibt nur fünf Bearbeiter für 50.000 Geflüchtete in Griechenland.

Immer wieder kommt es in Idomeni zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um Essen oder begehrte Kleidung oder zwischen den Volksgruppen. Sobald es regnet, stehen die Zelte und Hütten unter Wasser, das Essen und die medizinische Versorgung sind äußerst schlecht.

Calais als Warnung

Regelmäßig kommen Gerüchte auf, die griechische Regierung wolle das Camp räumen lassen. Diese Gerüchte und die Proteste, die dann aufflammen, unterbrechen den alltäglichen Rhythmus – und sind doch wiederkehrender Bestandteil davon. Genauso wie die sich gleichenden Bilder und Berichte aus Idomeni. Europa stumpft damit ab und gewöhnt sich an die Bedingungen, unter denen Menschen im Katastrophengebiet leben. Es droht eine Entwicklung wie im französischen Calais. Dort leben tausende Menschen seit Jahren unter gefährlichen und unzureichenden Umständen. Ohne staatliche Unterstützung und ohne ein ausgeprägtes öffentliches Interesse.

Normal leben 350 Menschen in dem kleinen griechischen Dorf Idomeni. Aktuell kommen bis zu 15.000 Geflüchtete hinzu. © Tim Lüddemann

Die griechische Regierung will die Geflüchteten in Idomeni nun bis Ende Mai vollständig in umliegenden Lagern unterbringen. Die Lebensbedingungen für die Menschen sind dort aber nicht besser. Eher schlechter, da Freiwillige und Journalisten keinen Zugang und damit keinen Einblick mehr haben. In den Lagern wären die Menschen noch weniger wahrnehmbar, das Elend wäre noch weniger offensichtlich und Europa könnte die Situation noch leichter als gewohnte Normalität abtun. Es bleibt aber eine Katastrophe. Es bleibt ein Unrecht und es bleibt Europas Verantwortung, die Menschen dort in elendigen Bedingungen leben zu lassen. Wir müssen es weiter daran erinnern und dem Kontinent die Augen öffnen.