Ungleichheit

Das deutsche Rentensystem ist nicht einwandererfreundlich

Männliche Einwanderer verfügen in den meisten westeuropäischen Ländern über deutlich geringere Renteneinkommen als Einheimische. Dabei spielt das Rentensystem eine entscheidende Rolle. Von Jan Paul Heisig

Wer im Ausland geboren ist, hat seltener einen Job als Einheimische. Und wenn er erwerbstätig ist, verdient er weniger – selbst bei vergleichbarer Ausbildung und Berufserfahrung. Diese Benachteiligung von Einwanderern auf dem Arbeitsmarkt ist in vielen Studien dokumentiert. Da die ersten großen Einwanderungswellen der Nachkriegszeit nach Deutschland und in andere europäische Länder inzwischen 40 bis 50 Jahre zurückliegen, stellt sich zunehmend eine weitere Frage: Wie ist es um die finanzielle Lage von Einwanderern nach dem Ende des Erwerbslebens bestellt?

Bisher gibt es hierzu nur wenige Studien. Diese zeigen ausnahmslos, dass Einwanderer auch im Rentenalter finanziell schlechtergestellt sind als Einheimische. Das Ausmaß der Unterschiede fällt aber je nach Land und Studie sehr unterschiedlich aus. Für Deutschland haben Tatjana Mika und Ingrid Tucci ermittelt, dass die Altersrenten von Staatsangehörigen der Türkei und der Nachfolgestaaten Jugoslawiens im Jahr 2003 durchschnittlich knapp 20 Prozent niedriger waren als die deutscher Staatsangehöriger. Für Kanada – ein Land, dessen Einwanderungspolitik oft als Positivbeispiel herangezogen wird – ergaben Analysen von Patrik Marier und Suzanne Skinner für 2004 bei den Männern in der Altersgruppe 65+ einen Einkommensunterschied von beinahe 50 Prozent.

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„Ein erstes klares Ergebnis unserer Studie ist, dass Einwanderer in fast allen der sechzehn untersuchten Länder über deutlich geringere Renteneinkommen verfügen.“

Aufgrund unterschiedlicher Einkommensbegriffe, Altersbegrenzungen und Definitionen der Gruppe der Einwanderer sind diese Ergebnisse kaum miteinander vergleichbar. Damit ist auch schwer zu bestimmen, inwieweit institutionelle Rahmenbedingungen die Einkommensnachteile älterer Migranten beeinflussen. Welche Rolle spielt der Zugang zu Sozialleistungen? Hat die Art des Rentensystems einen Einfluss auf die Renteneinkommen von Einwanderern? Oder ist die Einwanderungspolitik entscheidend?

Um diese Fragen zu untersuchen, habe ich zusammen mit Bram Lancee (Universität Utrecht) und Jonas Radl (Universität Carlos III Madrid) Daten der European Union Statistics on Income and Living Conditions (EU-SILC) für die Jahre 2004 bis 2012 ausgewertet. Unsere Studie legt erstmals international vergleichbare Daten zur finanziellen Lage älterer Einwanderer vor. Dabei konzentrieren wir uns auf Männer, die 65 Jahre oder älter sind und in Ländern geboren wurden, die nicht der EU angehören. Eine weitere Differenzierung nach Herkunftsländern ist aus Gründen des Datenschutzes nicht möglich. Leider können wir im Falle der deutschen Daten aufgrund strenger Datenschutzrichtlinien nicht einmal zwischen Einwanderern aus EU- und Nicht-EU-Ländern unterscheiden. Deutschland gehört deshalb nicht zu den insgesamt 16 westeuropäischen Ländern, die wir betrachten. Im Folgenden wage ich dennoch einige Vermutungen über die Auswirkungen des deutschen Rentensystems.

Im Mittelpunkt unserer Analysen steht die „Renteneinkommenslücke“ zwischen Einwanderern und Einheimischen, also der relative Unterschied im Alterseinkommen, das Rentenzahlungen aus staatlicher und betrieblicher Altersvorsorge beinhaltet (die Ergebnisse fallen ähnlich aus, wenn wir zusätzlich Leistungen aus der privaten Altersvorsorge, Kapitaleinkommen und bedarfsgeprüfte Leistungen berücksichtigen).

Ein erstes klares Ergebnis unserer Studie ist, dass Einwanderer in fast allen der sechzehn untersuchten Länder über deutlich geringere Renteneinkommen verfügen. Das Renteneinkommen der Einwanderer ist im Mittel um 20 Prozent niedriger als das der Einheimischen. Wenn sie um Unterschiede im Bildungsniveau und im sozioökonomischen Status der letzten beruflichen Tätigkeit bereinigt wird, fällt die Renteneinkommenslücke tendenziell noch größer aus: Im Durchschnitt liegt sie dann bei circa 26 Prozent. Dies liegt daran, dass ältere Einwanderer in vielen Ländern tendenziell besser ausgebildet sind als die einheimischen Männer.

„Das deutsche Rentensystem erscheint vor diesem Hintergrund als vergleichsweise wenig einwandererfreundlich.“

Besonders ausgeprägt ist dieses Muster in den südeuropäischen Ländern, wo das Ausbildungsniveau der Einheimischen in der betrachteten Altersgruppe wegen der spät erfolgten Bildungsexpansion oft noch sehr niedrig ist. So haben in Portugal über 80 Prozent der einheimischen Männer über 65 keinen höheren Sekundarabschluss (was in Deutschland dem Abitur oder einer abgeschlossenen Berufsausbildung entspricht). Ein weiterer möglicher Grund ist, dass Einwanderer mit geringen Qualifikationen im Alter eher in ihr Herkunftsland zurückkehren.

Abbildung: Unterschiede im Renteneinkommen zwischen Einwanderern und Einheimischen © WZB

Die Abbildung zeigt, wie sich die Renteneinkommenslücke zwischen den 16 Ländern unterscheidet. Sogenannte 90-Prozent-Konfidenzintervalle verdeutlichen die statistische Unsicherheit. Zwar ist diese wegen der begrenzten Fallzahlen teilweise recht hoch. Dennoch gibt es offenbar klare Länderunterschiede in der Größe der Einkommensnachteile. Am größten ist die Einkommenslücke in Finnland, Belgien, Luxemburg und Spanien. Hier liegt sie vor und nach der Bereinigung um Unterschiede in Bildungsniveau und sozioökonomischem Status bei über 30 Prozent. Am kleinsten ist sie in Portugal, Irland, Dänemark und Frankreich, wo sie unseren Berechnungen zufolge (teils deutlich) unter 16 Prozent liegt.

In einem zweiten Schritt untersuchen wir, inwieweit diese Unterschiede mit sozialpolitischen und anderen institutionellen Faktoren zusammenhängen. Als wichtigster Faktor stellt sich dabei das Rentensystem heraus. In Ländern mit Rentensystemen, die stärker umverteilen – also höhere Ersatzraten für Personen mit niedrigem Lebenseinkommen vorsehen – ist die Renteneinkommenslücke tendenziell kleiner. Die niedrigeren Einkommen von Einwanderern während des Erwerbslebens wirken sich in progressiven (umverteilenden) Rentensystemen weniger nachteilig auf das Renteneinkommen aus.

Ein weiterer Faktor sind Regelungen, die kurze und diskontinuierliche Erwerbsbiografien „bestrafen“. Beispiele für solche Regelungen sind lange Mindestbeitragszeiten oder Klauseln, die die Rentenhöhe teilweise an die Länge der Beitragszeiten (und nicht ausschließlich an die Höhe der gezahlten Beiträge) knüpfen. Da Einwanderer den Arbeitsmarkt des Ziellands oft erst im Erwachsenenalter betreten, das Zielland teils zwischenzeitlich wieder verlassen und zudem einem höheren Arbeitslosigkeitsrisiko ausgesetzt sind, wirken sich derartige Regelungen tendenziell zu ihrem Nachteil aus.

„Wir finden empirische Belege dafür, dass die Einkommensnachteile von Einwanderern in den Ländern kleiner sind, die das langfristige Aufenthaltsrecht stärker von der Erfüllung sprachlicher und ökonomischer Kriterien abhängig machen.“

Das deutsche Rentensystem erscheint vor diesem Hintergrund als vergleichsweise wenig einwandererfreundlich. Die starke Orientierung am sogenannten Äquivalenzprinzip – jeder eingezahlte Euro soll prinzipiell einen gleich hohen zusätzlichen Rentenanspruch begründen – bedeutet, dass innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung nur sehr begrenzt umverteilt wird. Auch bei der (impliziten) Bestrafung kurzer und unterbrochener Erwerbsverläufe gibt es Regelungen, die sich für Einwanderer nachteilig auswirken dürften. Zwar sind die Mindestbeitragszeiten für den Erwerb von Ansprüchen aus der gesetzlichen Rentenversicherung vergleichsweise gering (fünf Jahre für die Regelaltersrente). Es gab und gibt aber besondere Rentenarten, die Personen mit langen Erwerbsbiografien begünstigen, zum Beispiel die Renten für langjährig und besonders langjährig Versicherte. Viele Einwanderer dürften von diesen Regelungen faktisch ausgeschlossen sein.

Zumindest für einen weiteren Faktor lässt sich ein Zusammenhang zur Renteneinkommenslücke nachweisen: Wir finden empirische Belege dafür, dass die Einkommensnachteile von Einwanderern in den Ländern kleiner sind, die das langfristige Aufenthaltsrecht stärker von der Erfüllung sprachlicher und ökonomischer Kriterien abhängig machen. Dies ist insofern wenig überraschend, als das Ziel solcher strikten Einwanderungspolitik ja explizit darin besteht, Einwanderer mit besseren Arbeitsmarktchancen anzuziehen und auszuwählen. Der Befund zeigt, dass die Einwanderungspolitik langfristige Effekte hat, die bei internationalen Vergleichen unbedingt berücksichtigt werden sollten. Es sollte aber nicht vorschnell gefolgert werden, dass eine strikte Einwanderungspolitik der Schlüssel zur Verringerung ethnischer Ungleichheiten im Erwerbs- und Rentenalter ist: Zwar erzielen Einwanderer in Ländern mit liberaler Einwanderungspolitik im Vergleich zu Einheimischen häufiger geringe Arbeits- und Renteneinkommen. In ihren Herkunftsländern wären sie aber wahrscheinlich oft noch schlechtergestellt gewesen.

Umgekehrt bewirkt eine strikte Einwanderungspolitik, dass vor allem Personen mit guten Arbeitsmarktchancen Zugang zum Zielland erhalten; die Einkommenslücke wird so begrenzt. Offensichtlich werden die Schwierigkeiten von Personen mit schlechteren Arbeitsmarktchancen dadurch jedoch nicht gelöst: Ihre Benachteiligung wird nur an anderer Stelle sichtbar – in den jeweiligen Herkunftsländern oder in anderen Zielländern mit liberalerer Einwanderungspolitik.

Weniger klar sind unsere Befunde zu anderen möglichen Einflussfaktoren. Die sozialwissenschaftliche Literatur argumentiert zum Beispiel, dass eine strikte Arbeitsmarktregulierung und insbesondere ein starker Kündigungsschutz die Erwerbschancen von Einwanderern mindern. Arbeitgeber seien unter solchen Bedingungen weniger bereit, Risiken bei der Personalrekrutierung einzugehen; die Einstellung von Einwanderern werde oft als riskant wahrgenommen. Wir finden jedoch keine Hinweise darauf, dass Unterschiede in der Stärke des Kündigungsschutzes in den 1980er Jahren einen Einfluss auf die Größe der Renteneinkommenslücke in den 2000er Jahren hatten. Ebensowenig finden wir Belege für die Vermutung, dass großzügige soziale Transfers an Haushalte im Kernerwerbsalter die Anreize zur Integration in den Arbeitsmarkt des Ziellands verringern und so dazu führen, dass Einwanderer bei den Erwerbs- und langfristig auch bei den Renteneinkommen abgehängt werden.

„Die Größe der Renteneinkommenslücke hängt mit der Umverteilung und der „Bestrafung“ von kurzen und atypischen Erwerbskarrieren im Rentensystem zusammen.“

Immerhin ergeben unsere Analysen gewisse – in der Summe aber nicht zwingende – Hinweise, dass Regelungen, die den Zugang von Einwanderern zu Sozialleistungen beschränken, mit einer größeren Einkommenslücke einhergehen. Insbesondere für den Zugang zum Rentensystem ist ein derartiger Zusammenhang ohne Frage höchst plausibel. Vieles spricht dafür, dass wir nur deshalb keine klareren Ergebnisse erzielen, weil die verfügbaren Datenquellen keine hinreichende Differenzierung nach verschiedenen Leistungstypen und der Stärke der Zugangsbarrieren erlauben.

Unsere Studie ist ein erster Schritt, um die materielle Lage älterer Einwanderer besser zu verstehen. Als Hauptergebnisse können wir zwei Punkte festhalten: Einwanderer sind im Rentenalter in fast allen westeuropäischen Ländern finanziell schlechtergestellt als Einheimische. Die Größe der Renteneinkommenslücke hängt mit der Umverteilung und der „Bestrafung“ von kurzen und atypischen Erwerbskarrieren im Rentensystem zusammen.

Offensichtlich bedarf es weiterer Forschungsanstrengungen. Ein wichtiger Faktor, über den wir vergleichsweise wenig wissen, ist die Rückkehrmigration älterer Einwanderer. Bisherige Studien deuten darauf hin, dass in Westeuropa die Rückkehrneigung unter Einwanderern mit niedriger Bildung und niedrigem Einkommen am höchsten ist. Die Einkommenslücke würde daher wahrscheinlich noch größer ausfallen, wenn wir auch die Renteneinkommen von Einwanderern berücksichtigen könnten, die nach dem Ende des Erwerbslebens in ihr Herkunftsland zurückkehren. Auch ist wenig darüber bekannt, ob sich Spar- und Vorsorgeentscheidungen von Einwanderern und Einheimischen systematisch unterscheiden und in welchem Umfang ältere Einwanderer auf Vermögen zurückgreifen können. Schließlich fehlen uns systematische Informationen zu relevanten sozial- und einwanderungspolitischen Faktoren. Neben den angesprochenen Barrieren beim Zugang zu Sozialleistungen gilt dies insbesondere auch für etwaige bi- oder multilaterale Abkommen zur gegenseitigen Anerkennung und Portabilität von Rentenansprüchen. In vielen europäischen Ländern sind ältere Einwanderer eine wachsende Bevölkerungsgruppe. Die Notwendigkeit, diese Forschungslücken zu füllen, ist daher offensichtlich.

Literatur

Heisig, Jan P. / Lancee, Bram / Radl, Jonas: „Ethnic Inequality in Retirement Income. A Comparative Analysis of Immigrant-Native Gaps in Western Europe“. In Begutachtung, Manuskript kann beim Erstautor angefragt werden.

Marier, Patrik / Skinner, Suzanne: „The Impact of Gender and Immigration on Pension Outcomes in Canada“. In: Canadian Public Policy, 2008, Vol. 34, No. 4, pp. 59-78.

Mika, Tatjana / Tucci, Ingrid: „Alterseinkommen bei Zuwanderern. Gesetzliche Rente und Haushaltseinkommen bei Aussiedlern und Zuwanderern aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien im Vergleich zur deutschen Bevölkerung“. DIW Research Notes 18. Berlin: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung 2006.