Zeitzeugin Trude Simonsohn

„Wer geglaubt hat, dass die Nazi-Doktrin aus den Köpfen heraus ist, der irrt.“

Trude Simonsohn durchlebte in der NS-Zeit unvorstellbares Leid. Heute streitet als Zeitzeugin für Demokratie und Menschenrechte. „Manchmal versagt mir die Stimme und ich muss weinen“, sagt sie. „Aber ich werde solange weitermachen, wie es geht.“

Kleine Kämpferin mit großer Ausstrahlung: Trude Simonsohn ist im Rhein-Main-Gebiet eine Institution. Seit Jahrzehnten berichtet die Überlebende der Schoah in Schulen, Akademien und Begegnungsstätten über ihre Erlebnisse in der NS-Zeit und die Ermordung der Eltern in Buchenwald und Auschwitz. Ihr gelang es, nicht in Düsternis zu versinken. „Ich hatte Glück, trotz allem“, sagt Simonsohn, die am 25. März ihren 95. Geburtstag feierte.

Trude Simonsohn wird 1921 in Olomouc (Olmütz) in der Tschechoslowakei als einzige Tochter eines Getreide-Kommissionärs und einer Hutmacherin geboren. Sie wächst in einem liberalen Elternhaus auf. „Wir waren nicht sehr religiös, aber die jüdischen Feiertage hielten wir ein. Katholiken, Hussiten und Juden lebten im barocken Olmütz friedlich miteinander“, erinnert sie sich. Sie besucht die tschechische Grundschule und das deutsche Gymnasium. Am meisten Freude bereiten ihr die Sprachen, zunächst Tschechisch und Deutsch, später Latein und Englisch. Und natürlich der Sport, Schwimmen und Tennis.

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Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht und der Annexion der Tschechoslowakei wird ihr Vater verhaftet. Trude kann weder Abitur machen noch wie geplant Medizin studieren. Stattdessen engagiert sie sich in der zionistischen Jugendbewegung. Nach dem Attentat auf NS-Reichsprotektor Reinhard Heydrich im Mai 1942 wird sie wegen Hochverrats angeklagt und für ein halbes Jahr eingesperrt, davon vier Wochen in einer Einzelzelle. „Diese Zeit ohne Bücher und Gespräche gehört zu meinen schlimmsten Erlebnissen. Ich wollte nicht mehr leben“, erinnert sich Trude Simonsohn.

Im November 1942 wird sie mit ihrer Mutter ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Dort lernt sie ihren späteren Ehemann kennen, den Sozialpädagogen und Juristen Berthold Simonsohn. Im Oktober 1944 wird das Paar nach Auschwitz verschleppt. Trude Simonsohn erinnert sich, wie der berüchtigte Lagerarzt Josef Mengele sie an der Rampe voneinander trennte und verschiedenen Arbeitskommandos zuteilte. Danach knipst sie ihr Erinnerungsvermögen aus und fällt, wie sie sagt, in eine „Ohnmacht der Seele“.

Zu sich kommt sie erst wieder im Arbeitslager Kurzbach, wo sie in bitterster Kälte Panzergräben ausheben muss und fast an einer schweren Durchfallerkrankung stirbt. Am 9. Mai wird sie schließlich im KZ Merzdorf bei Groß-Rosen von Soldaten der Roten Armee befreit. Berthold Simonsohn erlebt das Kriegsende im Lager Kaufering, einer Außenstelle des KZ Dachau.

„Dass wir überlebt haben, ist ein Wunder“, sagt Simonsohn. Aber es hatte auch seinen Preis, denn beide sind von dem Lagerterror und der Zwangsarbeit körperlich und psychisch schwer gezeichnet. „Man geht nicht ungestraft durch so eine Hölle. Mein Mann hat deswegen gesagt: Wir müssen darüber reden, sonst schaffen wir das nicht.“

Was Trude Simonsohn dann auch zu ihrem Lebensthema macht. Nach 1945 arbeitet sie für die jüdische Flüchtlingshilfe in der Schweiz, macht eine Ausbildung zur Krankenpflegerin und betreut tuberkulosekranke und traumatisierte jüdische Kinder. 1950 folgt sie ihrem Mann nach Hamburg, ein Jahr später kommt dort Sohn Mischa zur Welt. 1955 zieht es die junge Familie nach Frankfurt am Main, wo Berthold Simonsohn die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland aufbaut. Sie selbst übernimmt in der jüdischen Gemeinde die Stelle für Sozialarbeit und Erziehungsberatung. Von 1989 bis 2001 ist sie Gemeinderatsvorsitzende.

Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes 1978 wird Trude von einem seiner Freunde, dem Direktor der Evangelischen Akademie Arnoldshain, Martin Stöhr, zu einer Tagung nach Schmitten im Taunus eingeladen, um über ihre Erlebnisse in der NS-Zeit zu berichten. Das ist die Initialzündung für ihre neue Rolle als Zeitzeugin. Denn Trude Simonsohn versteht es, ihre Zuhörer mit Herzenswärme und Humor in den Bann zu ziehen. „Manchmal versagt mir die Stimme und ich muss weinen. Dennoch bin ich froh und dankbar, dass ich die Menschen erreiche und werde solange weitermachen, wie es geht.“

Die bekennende Sozialistin und Zionistin lebt seit 1972 im zweiten Stock eines Mietshauses im Frankfurter Westend und fühlt sich dort heimisch, wie sie sagt. Nach dem Aufstehen legt sie eine Patience, „das absorbiert mich völlig“. Danach liest sie in aller Ruhe die Frankfurter Allgemeine Zeitung und hört im Deutschlandfunk die Pressestimmen.

Obwohl sie ein wenig wackelig auf den Beinen ist, schnappt sie sich anschließend ihre Nordic-Walking-Stöcke, um eine Stunde spazieren zu gehen. Auch die Mahlzeiten bereitet sie sich selbst zu. „Langweilig wird mir nie“, sagt sie augenzwinkernd. „Ich habe eine prächtige Familie und einen großen Freundeskreis.“

Trude Simonsohn ist nach wie vor politisch hellwach. Sie freut sich über die humane Flüchtlingspolitik der Kanzlerin und kritisiert Staaten, die ihre Grenzen dichtmachen. Einsilbig und nachdenklich wird Simonsohn allerdings, wenn die Sprache auf die Untaten des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), die „Pegida“-Demonstrationen oder die jüngsten Wahlerfolge von NPD und AfD kommt. „Wer geglaubt hat, dass die Nazi-Doktrin aus den Köpfen heraus ist, der irrt.“