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Eine Momentaufnahme aus der Dresdener Zeltstadt für Flüchtlinge (Symbolfoto)

Willkommen in der Flüchtlingsstadt

Sich in die Lage der Flüchtlinge hineinversetzen

Das westfälische Espelkamp wurde nach dem Krieg für Vertriebene aus dem Osten gebaut, später kamen Spätaussiedler und Gastarbeiter. Heute nehmen die Espelkämper Syrer, Afghanen und Iraker auf. Viele wissen, wie die Flüchtlinge sich fühlen.

Von Thomas Krüger Mittwoch, 13.04.2016, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 25.04.2016, 18:02 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

„Ich esse Eis, du isst Brot, er isst Käse.“ Fedaye schreibt die Sätze von der Tafel ab, versucht, sie nachzusprechen. Gemeinsam mit zwölf anderen Flüchtlingen drückt der 20-jährige Afghane die Schulbank im westfälischen Espelkamp. Den Deutschkurs leitet eine Dozentin der Volkshochschule in ihrer Freizeit, unterstützt von einigen Landfrauen, die in Kleingruppen mit den Teilnehmern üben. 500 Flüchtlinge, vor allem aus Syrien, dem Irak und Afghanistan leben in der 25.000-Einwohner-Stadt, deren Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg eng mit Flucht und Vertreibung verbunden ist.

Denn die heutige Kernstadt von Espelkamp wurde für und von Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten auf dem Gelände einer früheren Munitionsfabrik gebaut. Das Land Nordrhein-Westfalen und die Evangelische Kirche von Westfalen gründeten damals die „Aufbaugemeinschaft Espelkamp“, die als Wohnungsbauunternehmen bis heute das Stadtbild prägt.

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„Nach den Vertriebenen kamen ab 1970 erst die Gastarbeiter und später die russlanddeutschen Aussiedler“, berichtet Pfarrer Falk Becker von der evangelischen Martins-Gemeinde. Viele seiner 4.000 Gemeindeglieder haben ihre familiären Wurzeln zum Beispiel in Ostpreußen oder Pommern. Die Russlanddeutschen gehören zumeist einer der Mennonitengemeinden an. Menschen aus über 60 Nationen leben in Espelkamp.

„Die Kernstadt ist eine Flüchtlingsstadt“, sagt Pfarrer Becker. „Die meisten Bürger erinnern sich jetzt an ihre eigene Migrationsgeschichte und heißen die neuen Zuwanderer willkommen.“ In der Nachbarschaft würden Kontakte geknüpft und Hilfen angeboten. Diese Willkommenskultur werde vielfach im Stillen gelebt, berichtet der Pfarrer. Im Gegensatz dazu stehe die „lautstarke Minderheit“ der Kritiker der Flüchtlingspolitik, die es auch gibt in Espelkamp.

Freiwillige Flüchtlingshelfer haben sich bereits im vergangenen Jahr in den Arbeitsgruppen „Alltagshilfen“ und „Deutsch-Unterricht“ organisiert. Die Deutsch-Kurse koordiniert Wolfgang Mandtler, vor 20 Jahren aus Uruguay eingewandert, im Hauptberuf Kaufmann bei einem großen Unternehmen der Stadt. Neun Kurse laufen zurzeit mit 70 Teilnehmern und mehr als 30 freiwilligen Helfern.

„Es macht den Lehrkräften Spaß“, sagt Mandtler. Allerdings sei die Arbeit schon herausfordernd: „Viele Flüchtlinge bringen eine andere Kultur mit, was Pünktlichkeit und Verbindlichkeit angeht.“ Auch an Englisch-Kenntnisse könne man kaum anknüpfen.

Da ist Fedaye, der junge Afghane, eine Ausnahme. Im November kam er über die Türkei und die Balkanländer nach Deutschland. In der Heimat fühlte er sich als Student durch die Taliban bedroht. „Die Menschen in Espelkamp sind sehr gastfreundlich“, sagt Fedaye. Sein „großer Plan“: erst richtig Deutsch lernen, dann Jura studieren und Anwalt werden.

Auch der Stadtverwaltung von Espelkamp kommt bei der Bewältigung des Flüchtlingszuzugs ihre langjährige Erfahrung zugute. Schon im August bildete sie eine Stabsstelle Asyl. „Auf keinen Fall wollten wir der Situation hinterherlaufen und wie früher bei den Spätaussiedlern Menschen notdürftig in Dorfgemeinschaftshäusern oder Turnhallen unterbringen“, sagt Matthias Tegeler, Allgemeiner Vertreter des Bürgermeisters.

Für mehrere Hundert Flüchtlinge mietete die Stadt leerstehende Wohnungen der Aufbaugemeinschaft an, belegte eigene Objekte, errichtete ein Containerdorf, als Notlösung wurde dann doch noch eine ehemalige Grundschule benötigt. Im Rathaus plant man schon weiter: Drei Wohnheime sollen entstehen für 260 Menschen – jeweils 90 Quadratmeter für acht Personen inklusive Wohnküche.

Die Stadt will sich, wie Tegeler sagt, im Zusammenspiel mit Kirchen, Vereinen, Schulen und Wirtschaft an der Integration der Zuwanderer beteiligen. Deshalb regte sie die Gründung des Vereins „MitMenschen“ an. „Er soll die Ehrenamtlichen von Organisations- und Verwaltungsaufgaben entlasten“, sagt Wolfgang Mandtler, stellvertretender Vorsitzender des Vereins. Als erstes werden Räume für einen festen Treffpunkt von Helfern und Flüchtlingen gesucht.

Auch die Martins-Kirchengemeinde wolle sich „MitMenschen“ anschließen und einen eigenen „Arbeitskreis Flüchtlingshilfe“ gründen, sagt Pfarrer Becker. Ganz praktische Integrationsarbeit leistet schon seit langem der Kindergarten „Brummkreisel“ in Beckers Pfarrbezirk. Die Kita in der Siedlung Gabelhorst betreut 64 Mädchen und Jungen aus mehr als zehn Nationen.

In den vergangenen Monaten sind drei Kinder aus dem Irak, Nigeria und Albanien dazu gekommen. „Wir möchten den Familien vermitteln, dass ihre Kinder hier sicher sind“, sagt die Leiterin Lilia Gildenstern, die vor fast 40 Jahren mit ihren Eltern aus der Sowjetunion nach Espelkamp umsiedelte. In die Lage der Flüchtlinge kann sie sich gut hineinversetzen: „Auch für mich war damals alles hier total neu.“ Gildenstern freut sich, dass das albanische Mädchen schon richtig gut Deutsch spricht. Und der Junge aus dem Irak zeigt nach nur wenigen Tagen im Kindergarten ein strahlendes Gesicht. (epd/mig) Aktuell Gesellschaft

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