Plädoyer

Für eine offene und freiheitliche Gesellschaft

Wir haben eine der besten Verfassungen der Welt. Unser Grundgesetz wurde auf Grund der schlimmen Erfahrungen im Nationalsozialismus verfasst. Gerade deshalb werden darin die Menschenwürde festgeschrieben. Von Jeannette Ersoy

Die anfänglich positive Stimmung im Sommer 2015 ist der Sorge um die eigene Existenz und der Angst, von den Regierungsverantwortlichen vergessen zu werden, gewichen. Es vergeht kein Tag, an dem medial nicht über Schwierigkeiten berichtet wird, die der hohen Anzahl flüchtender Menschen zugeschrieben wird. Ärger und Aggression machen sich breit, rechtspopulistische und rassistische Äußerungen sowie tätliche Übergriffe gehören zunehmend zum Alltag in Deutschland. Auch binationale / bikulturelle Familien berichten verstärkt von verbalen Attacken und Pöbeleien auf der Straße und in ihrem sozialen Umfeld. Was vielen Angst macht, ist die Einseitigkeit wie Themen hochkochen. So schlimm und furchtbar Köln und die Folgen sind, über den Überfall auf einen ganzen Stadtteil in Leipzig durch Neonazis und über die verheerenden Folgen wird bundesweit kaum ein Wort verloren; v.a. nicht von der Politik.

Deutschland muss mutig sein. Das heißt, auftretende Probleme sehen, ansprechen, und offen legen, um wirkliche menschenrechtskonforme Lösungen zu finden. Mutig sein, heißt auch, diejenigen, die Recht brechen, in die gesetzlichen Schranken zu verweisen, und von der großen Gruppe, die geltendes Recht respektieren und befolgen, zu differenzieren. Mutig sein bedeutet auch, eine Zukunft zu denken, die man nicht bis zu Ende voraussagen kann, die mit Veränderung zu tun hat und die als ein Entwicklungsprozess anzusehen ist. Mutig sein bedeutet, Strukturen zu schaffen, in denen die Menschen in diesem Land sich wiederfinden und ein erfolgreiches Zusammenleben möglich wird. Mutig sein heißt politisch auch, ein Einwanderungsgesetz neben dem Recht auf Asyl zu formulieren, das menschenrechtskonforme Antworten gibt.

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Wir stehen an einem historischen Wendepunkt

Die aktuelle schwierige Situation hat auch eine positive Kehrseite. Sie bietet die einmalige Chance für Deutschland, sich als wirkliches Einwanderungsland zu verstehen und entsprechend zu agieren. Die neue Einwanderung führt uns die Versäumnisse der letzten Jahre und Jahrzehnte deutlich vor Augen. Wo sind bezahlbare Wohnungen vor allem in den Ballungsgebieten? Die einheimische Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund forderte diese bereits seit langem ein. Wie steht es mit der interkulturellen Öffnung von Einrichtungen, Behörden und Verwaltung? Sie ist teilweise stecken geblieben und auch dieser Umstand wird sichtbar. Insofern ist es sehr zu begrüßen, dass aktuell in den unterschiedlichsten Bereichen versucht wird, rasch aufzuholen bzw. die bisherige Arbeit gezielt fortzusetzen.

„Brückenbauer“ und „Übersetzer“ finden wir in binationalen/bikulturellen Familien. Hier wird das im Kleinen gelebt, was wir in einer veränderten Gesellschaft in diesem Land benötigen: das Verständnis füreinander und die Sprachkompetenz, um gemeinsam erfolgreich miteinander leben und arbeiten zu können. Umso wichtiger also, Binationale in den Prozess der Veränderung unserer Gesellschaft mit einzubinden und ihre Erfahrungen zu nutzen.

Wir benötigen Rahmenbedingungen für Integration und Inklusion

Die Bundesebene ist gefordert, strukturelle Rahmenbedingungen zu schaffen. Es reicht nicht aus, sich verbal für eine Willkommenskultur auszusprechen. Es gilt, ein Konzept für Deutschland als wirkliches Einwanderungsland zu denken und aktiv zu entwickeln. Das fehlt bislang. Auch wenn Deutschland international ein gutes Zeugnis für die Integrationsarbeit ausgestellt wird, ist eine strategische Ausrichtung wenig spürbar. Bestehende strukturelle Rahmenbedingungen für Einwanderung werden nicht auf ihre Zukunftsfähigkeit überprüft. Sie unterliegen aktuell dem sicherheits- und ordnungspolitischen Denken, das sehr häufig einem inklusiven Gedanken der politischen und gesellschaftlichen Teilhabe entgegensteht. Letzteres ist jedoch notwendig, um soziale Gerechtigkeit neu zu denken und aktiv zu gestalten. Wenn wir uns alle gemeinsam anschauen, was wir bisher seit 1956, als die ersten „Gastarbeiter“ nach Deutschland kamen, erreicht haben und unser deutsches Selbstverständnis zu einer Einwanderungsgesellschaft unter großen Mühen auf allen Seiten nach Jahrzehnten entwickelt haben, können wir darauf stolz sein. Das wichtigste Mittel einer jeden wehrhaften Demokratie ist eine aktive und lebendige Zivilgesellschaft, die bemüht ist Aufklärungsarbeit auf gewinnende Weise gegen Vorurteile und Diskriminierung zu leisten.

Für eine offene und freiheitliche Gesellschaft!

Binationale /Bikulturelle Paare und Familien kennen die alltäglichen Herausforderungen des interkulturellen Zusammenlebens besser als andere. Sie wissen um die Schwierigkeiten und die Konflikte. Genauso kennen sie aber auch die Möglichkeiten und die Chancen eines friedlichen und zukunftsfähigen Miteinanders. Und binationale Familien haben anderen tatsächlich etwas voraus: ein echtes Interesse am anderen Menschen; die Stärke, Unterschiede auszuhalten und eine Kommunikationsfähigkeit, die dringend gebraucht wird, um den anderen zu verstehen und einen gemeinsamen Weg zu bauen.

Interkulturell lebenden Paare und Familien werden an den Grundpfeilern dieser Gesellschaft festhalten und ihre Grundwerte verteidigen. Es ist wichtig, in einer offenen und freiheitlichen Gesellschaft zu leben. Sie wissen, dass dies Voraussetzungen sind für ein funktionierendes interkulturelles Zusammenleben. Sie wissen aber auch, dass es nicht zum Null-Tarif zu bekommen ist. Auch wenn aktuell in unserem Land große Herausforderungen zu meistern sind, so ist dies kein Grund, demokratische Werte, Grund- und Menschenrechte anzutasten, diese sogar aufzukündigen bzw. bestimmten Personengruppen vorzuenthalten.

Nach wie vor gibt es eine hohe Anzahl von Befürwortern und Unterstützer der neuen Einwanderung, die hierin Chancen und Möglichkeiten für Deutschland und Europa sehen und sich für ein Zusammenleben verschiedener Kulturen und Ethnien aussprechen. Diese Offenheit und große zivile Hilfsbereitschaft darf von politischer Seite nicht mit altbekannten Reflexen der Abwehr und Begrenzung begegnet werden. Und wie so oft sind die Familien dabei die Leidtragenden. So sollen subsidiär Schutzberechtigte zwei Jahre warten, ehe sie den Nachzug engster Familienangehörige beantragen können.

Wir haben eine der besten Verfassungen der Welt und unser Grundgesetz ist nach und auf Grund der schlimmen Erfahrungen im Nationalsozialismus verfasst und verabschiedet worden. Gerade deshalb werden darin der Schutz der Menschenwürde und die Hilfe von in Not geratenen Menschen festgeschrieben. Warum ist also die Devise „Wir schaffen es“ nicht als Motivation und Verpflichtung gegenüber unserer Verfassung und Geschichte zu verstehen, um die unbestreitbar großen Herausforderungen anzugehen? Fast scheint es, dass die Politik t es offenbar nicht mehr schafft, die eigenen Ziele durchzusetzen. Stattdessen führt der Gegenwind einer selbsternannten vermeintlichen Volksbewegung wie Pegida dazu, dass das Grundgesetz untergraben wird und Politiker*innen vor der Straße zurückweichen!

Trotz alledem: Die Zivilgesellschaft ist stark und gefestigt. Viele Menschen engagieren sich in ihr ob mit oder ohne Migrationshintergrund. Sie setzen ihr Engagement der Angst der Anderen vor Einwanderung entgegen. Der Gewinn aus dieser Haltung?: Ein zukunftsfähiges Miteinander, ein Verschmelzen der Potenziale Aller und ein Miteinander von lokalen und globalen Interessen. Und: die Überwindung einer Angst, die die Handlungsfähigkeit und das Denken der Menschen in Deutschland hemmt.