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Schule © shinealight auf flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

In der Flüchtlingsklasse

Ich fragte meine Schüler, ob sie über Sexualität reden möchten. Sie bejahten eifrig.

Seit zwölf Monaten ist Janosch Freuding Lehrer in einer Flüchtlings-Alphabetisierungsklasse. Die Jugendlichen, junge Männer zwischen 16 – 18 Jahren, besuchen eine Berufsschule in Bayern. Unterrichtsthema ist seit der Kölner Silvesternacht auch Sexualität.

Von Montag, 01.02.2016, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 04.02.2016, 21:53 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Einerseits integrieren sich Flüchtlinge immer weiter in unsere Gesellschaft, anderseits jedoch steht die Gesellschaft ihnen immer ablehnender gegenüber, ihre Fortschritte bei der Integration werden immer weniger würdigt. Alle Flüchtlinge in meiner Klasse können von rassistischen Äußerungen berichten, von ausgestreckten Mittelfingern, von Beschimpfungen wie „Scheiß Flüchtling!“ oder „Fuck you!“.

Im Kleinen bin ich ebenfalls Zeuge dieser Entwicklung geworden. Mit einem halben Jahr Abstand habe ich 2015 zweimal dieselbe Unterrichtsstunde gemacht: Meine Schüler sollten Passanten nach dem Weg fragen und die Antwort verstehen. Es war bemerkenswert zu sehen, wie sich die erste Reaktion der Passanten verändert hatte: Von hilfsbereiter Neugier im Februar zu skeptischer Distanz im November. Zwar ist die Stichprobe klein, doch an Zufall mag man auch nicht glauben.

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Sex, Flüchtlinge und die Frauen – wie sieht es da aus, nach Köln, oder wie Spiegel Online so schön schreibt, in der Zeit des Postcolognalismus? Mein Plan, zu diesem Thema einen Artikel zu schreiben, wurde vom Medienecho auf jene Silvesternacht weit überholt. Nun, vielleicht lässt sich dazu ja trotzdem etwas sagen, auch wenn ich in meiner Klasse keine Nordafrikaner oder Scheinsyrer habe.

Eines Tages im letzten Sommer malte der Eritreer Abraham (Name geändert) eine nackte Frau an die Tafel. Folgendermaßen sah sie aus: für das Gesicht ein kleiner Kreis mit Augen, Nase, Mund, Haaren. Für den Körper ein großes Oval nebst Armen und Beinen. An der Stelle, an der die Beine mit dem Körperoval zusammenliefen, malte er ein kaffeeschotiges, großes Etwas in der Draufsicht – in seiner Mitte ein breiter Strich, beinahe vom unteren Ende zum oberen reichend, dazu einige Querstriche, die Haare andeuteten. Auf die Darstellung der Brüste oder weiterer Details verzichtete der Künstler. Die Zeichnung war einerseits in ihrem Fokus so eindeutig, anderseits in ihrer anatomischen Ausführung so mangelhaft, dass ich mir vornahm, dem Gegenstand Sexualität und verwandten Themen ein paar Stunden zu widmen – zweifellos ein wichtiges Wortschatzfeld.

Ich fragte meine Schüler (in der damaligen Alphabetisierungsklasse waren wir nur zu siebt), ob sie damit einverstanden wären. Sie bejahten eifrig. Am nächsten Morgen war an die Tafel ein großer Penis gemalt und die Schülerschaft verschanzte sich kichernd hinter ihren Tischen. Ich nutzte die Gelegenheit gleich, um die verschiedenen Teile des Penis begrifflich zu klären. So kamen wir ins Gespräch. Die Jungs notierten emsig mit. Vom rein Anatomischen zum rein Praktischen bis hinein in das intimste Gefühlsinnere von Mann und Frau – ich antwortete (soweit möglich) auf jede Frage. Tabus gab es keine und es entspann sich eine wirklich nette Stunde.

Bis sich Mohammad meldete: „Warum haben manche Menschen Analsex?“ Puh… Ich kratzte mich am Kopf, und war noch dabei eine Antwort zu finden, als sich Abraham meldete und forderte, alle Menschen, die Analsex haben, zu erschießen. Unser vorher so tolles Gespräch war augenblicklich zerstört. Natürlich stieß Abrahams Äußerung auf erheblichen Widerstand, durch mich, aber auch durch die Klasse: Wie er so etwas sagen könne?! „Mann liebt Frau, Mann liebt Mann, egal!“ Doch je mehr wir in die unselige Diskussion abglitten, ob Homosexualität gottverdammt oder eben nicht sei, desto merklich unwohler fühlten sich die Afghanen. Nach kurzer Zeit hatten drei von vier Afghanen ihre Köpfe auf den Tischen. Farid fragte, ob er auf die Toilette dürfe. Nach fünf Minuten kam er wieder, religiöse Musik auf seinem Handy hörend. Ich fragte, ob alles in Ordnung sei. Er antwortete: „Bisschen gut, aber auch bisschen schlecht.“ Die Stunde war deutlich gescheitert.

Wie diese eigentlich gelingende Stunde dermaßen aus der Bahn laufen konnte, beschäftigte mich noch eine Weile. Mit dem Eritreer Gideon im Schulbus sitzend erfuhr ich nach den Sommerferien einen möglichen Hintergrund des Ganzen. In einem der Wohnheime hatte es einen homosexuellen Skandal gegeben, in den mindestens ein Afghane verwickelt war. Zwei der Jungs hatten miteinander geschlafen. Gideon erzählt, wie er davon erfahren hat: „Ich habe sehr gelacht. Ich denke, er macht ein Witz.“ Erst dann schwant ihm, dass es seinem Mitbewohner ernst ist mit seiner Beichte. Gideon fällt sein Urteil: „Das macht nur der Teufel“ „Ja, ich weiß. Ich war schwach“, antwortete angeblich der Mitbewohner. Der Skandal hat sich übrigens zu einem ausgewachsenen Liebesdrama entwickelt, weil einer der Jungs mehr wollte als der andere. Nicht ungewöhnlich, sagen die Betreuer. Die Flüchtlinge (fast alle junge Männer) kommen oft in Zweigrüppchen nach Deutschland. Besuchen sich schon in der Erstaufnahmeeinrichtung in ihren Zimmern. Kuscheln sich zusammen, um nicht ganz allein im fremden Land zu sein. Einige entdecken dabei Gefühle, die in ihren Herkunftsländern meist sehr verpönt sind. „Sehr schlecht!“, sagt Gideon.

Mit Abraham verbindet mich eine ganz eigene Beziehung. Er war schon in meiner alten Alphabetisierungsklasse, ein Jahr lang habe ich ihn durch viele Höhen und Tiefen begleitet. Irgendwann hat er sogar mal Papa zu mir gesagt. Gleichzeitig ist er einer meiner schwierigsten Schüler. Thema des Aufsatzes war: „Was mache ich an einem Regentag?“ Abraham beginnt sphärisch und in beinahe tadellosem Deutsch: „1. Es regnet laut. 2. Ich trinke heißen Tee. 3. Ich gehe ins Schwimmbad. 4. Im Schwimmbad sehe ich viele Mädchen. 5. Die Mädchen sind nass am Muschi.“

Es wurde lange vor Köln immer deutlicher, dass wir mit den Flüchtlingen an ihrem Frauen-, aber auch an ihrem Männerbild arbeiten mussten. Ich holte mir Rat bei einem Freund, der sich schon viel mit Gendertheorie auseinandergesetzt hat. Er schlug mir Anita Sarkeesian vor, die sich mit Sexismus in Videospielen beschäftigt. Warum eigentlich nicht, das ist anschaulich und auch sehr an der Lebenswelt der Jungs. Anita Sarkeesian musste übrigens einen beispiellosen sexistischen Shitstorm über sich ergehen lassen, als sie ihre Thesen im Internet veröffentlichte. Ich zitiere einen der schlimmsten Kommentare: „Ich trinke dein Blut aus deiner Fotze, nachdem ich sie aufgerissen habe.“

Auch wenn Hass und Gewalt gegen Frauen in unserer Gesellschaft auch aus anderen Kontexten kennen, wurden die zotigen Sprüche der Flüchtlinge zwei meiner Kolleginnen zu viel. Sie haben gekündigt, weil sie die ständigen Chauvinismen nicht mehr ertragen mochten – nicht unter diesen Bedingungen, betonen sie: mit 20 Schülern in einer Klasse und so schlecht bezahlt.

Wir diskutieren über Frauen. Die Meinungen sind geteilt. Einige würden gerne eine deutsche Freundin finden, einige nicht, aufgrund zweifelhaften Charakters. 80 % der Frauen sind schlecht, vermeldet Abraham ganz grundsätzlich. Ich sage ihm, dass er von Glück sagen kann, dass Angela Merkel Kanzlerin ist und nicht Horst Seehofer. Ja, räumt er ein, Angela Merkel gut, aber… Farid ist ganz anderer Meinung als Abraham. Er würde gerne eine deutsche Frau finden. Er zeigt auf seine Augen und sagt ernst: „Ich habe geschaut. Sie haben eine gute Herz.“

Die Jungs diktieren mir an die Tafel: „Wir finden keine Frauen. Sie haben Angst.“ Nun meldet sich Joel: „Wir haben auch Angst. Ich habe große Angst von deutsche Frauen!“ Ich schreibe es an die Tafel. Als er das liest, lacht Abraham ertappt. Klar hat auch er Angst vor Frauen.

Als Frauenexperte würde ich mich selbst nicht bezeichnen. Trotzdem hängt die Klasse an meinen Lippen, wenn ich von mir selbst erzähle. Wo lernt man Frauen kennen? Wie spricht man sie am besten an? Wie funktioniert das in Deutschland? Alles hochspannend! Die jungen Männer kichern wie die Lausbuben, als plötzlich die Sozialpädagogin in die Klasse kommt. Nun sind plötzlich nicht nur lauter 17-18jährige Jungs in der Klasse, sondern auch eine Frau, wie peinlich. Fragen wir sie doch gleich: Was läuft nicht so gut zwischen Männern und Frauen in Deutschland? – Dass die Unterschiede in der Bezahlung immer noch so groß sind und es so wenige Möglichkeiten der Kinderbetreuung gibt. Die Jungs schauen nachdenklich. In der Pubertät bleiben sie natürlich trotzdem: „Hey Ali Reza, was denkst du?“, ruft Farid durch die Klasse. „Kos“, ist die Antwort. Ich übersetze, dafür reicht mein Dari, für die ganze Klasse: „Muschi.“ – „Hey, nein“, weist mich Farid zurecht, „das ist keine Respekt! Da ist eine Frau in die Klasse!“

Wir diskutieren sehr angeregt, was respektloser ist: Anwesende Frauen mit so schlechten Wörtern wie Muschi zu belasten. Oder aber anwesende Frauen in Unkenntnis über die ganzen schmutzigen Wörter zu lassen, indem man sie einfach in einer anderen Sprache sagt. Wieder zeigt sich: Wo, wenn nicht in der Schule, kann man über solche Dinge sprechen? Kann man überhaupt eine andere Antwort geben auf Köln als Schule? Es ist Stundenende. Die Jungs verlassen freudestrahlend die Klasse. Abraham sagt: „Heute war sehr gut. Nächste Woche immer so sprechen.“

Als im Sommer in unserer Stadt eine Frau von einem dunkelhäutigen Mann angegrapscht wurde, verfolgte die Polizei folgende Strategie: Alle minderjährigen Flüchtlinge in der Stadt, egal ob Afghanen, Syrer oder Eritreer, mussten zur Befragung in die örtliche Polizeiinspektion und dort Speichelprobe und Fingerabdrücke abgeben – es gibt ja verschiedene Abstufungen von Dunkelhäutigkeit. Ob sich diese Strategie am Ende ausgezahlt hat, weiß ich nicht. Seit Köln aber merken alle Flüchtlinge, dass sich der Wind in Deutschland merklich ins Eisige gedreht hat. Aziz sagt: „Wann ich schaue Nachrichten, jeden Tag: Fluchtlinge, Fluchtlinge.“ In der Klasse eines Kollegen berichtet ein Flüchtling, dass er von einem Passanten beinahe vom Fahrrad gestoßen worden wäre, einfach so, ohne Grund. Joel sagt: „Wir sind Flüchtlinge. Flüchtlinge bekommen kein Respekt. In keine Land!“

Obwohl Abraham seit Beginn in meiner Klasse war, weiß ich über ihn persönlich nicht sehr viel. Ich weiß, dass sein Bruder auch in Deutschland lebt und sein Vater in Eritrea vier Frauen hat. Trotz seines Frauenbilds: von den Schülern war er mir einer der liebsten. Vor vier Tagen ist er mit zwei anderen Eritreern verschwunden, angeblich nach Schweden. Nach 48 Stunden Vermisstmeldung ist die Frist abgelaufen: „Die Inobhutnahme wurde beendet“, wie es behördendeutsch heißt. Seinen Wohnheimplatz hat er so bereits verloren, die Schulen werden bald informiert, auch diesen Platz wird ein anderer besetzen. Wird er irgendwo von der Polizei aufgegriffen, kommt er in das seit Oktober bestehende „Umverteilungsprogramm“ und muss im besten Falle von vorne beginnen. Feuilleton Leitartikel

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  1. Gülay sagt:

    Vielen Dank für diesen Beitrag. Ich finde es sehr … ja durchaus mutig und gewagt dieses Thema in so einem Setting inmitten der aktuellen Diskurse anzusprechen. Ich finde es aber auch umso wichtiger, denn sie ist eine Begegnung auf Augenhöhe. Und das beeindruckt mich. Leider fehlt genau diese Art der Begegnung, nicht nur mit Schüler*innen im Allgemeinen, sondern insbesondere mit benachteiligten Schüler*innen, in diesem Fall sind es geflüchtete Männer mit Pigmentierungsabstufungen jenseits von schweinchenrosa. Das muss man können. Man muss anerkennen können, Empathie zeigen können, Verständnis aufbauen können, aber auch Unverständnis kommunizieren können, man muss diskutieren können. Man muss auch sich eingestehen können, wenn mal eine Stunde nicht so gut läuft. Ich bin sehr beeindruckt von deiner Arbeit Janosch, und der Beziehung, die du zu deinen Schülern pflegst.

  2. Wiebke sagt:

    Danke, Herr Freuding, für diesen aufschlussreichen Artikel.
    Würde mich freuen, wenn sich hier mehr Leute melden würden, die direkt aus der Praxis berichten, sei es Betreuung oder Unterricht. Wo wenn nicht hier, sollte man offen darüber berichten und auch debattieren können, hoffe ich?

  3. C.Bokou sagt:

    Auch ich finde es sehr mutig und lobenswert von Ihnen, dass Sie über den „business as usual“ als Deutschlehrer hinausgehen und so ein Thema behandeln. Das können selbstverständlich nur männliche Lehrer. Ich bin weiblich und habe von Berufs wegen auch schon sehr viele (muslimische) Flüchtlinge kennengelernt. Fast 100 % begegnen einer Frau sehr respektvoll, beihahe schüchtern, je nach dem manchmal auch verklemmt.
    Ich stimme der ersten Kommentatorin zu, dass man mit diesen jungen Männern nicht nur über Frauen hier und in der Heimat, sondern auch über Männer hier und in der Heimat reden soll.

  4. Ruth sagt:

    Sehr mutig, aber auch sehr notwendig, dieses Thema im Unterricht anzusprechen, Herr Freuding. Es müsste noch viele solche Lehrenden geben! Viel Erfolg weiterhin.

  5. T.Freitag sagt:

    Danke für Ihre Arbeit
    und danke für diesen Bericht.

  6. Ozelott sagt:

    Chapeau! Lassen Sie sich nciht unterkriegen, Sie sind auf einem guten Weg! Mehr Infos gibt es übrigens z.B. in verschiedenen Institutionen der Sexualpädagogik. Sicher wäre auch eine Kooperation mit der Hochschule Merseburg, Fachbereich Sexualwissenschaften möglich.