Nach Köln-Übergriffen

Bundesregierung prüft Wohnsitzauflage für Flüchtlinge

Nach den Kölner Silvester-Übergriffen erwägt die Bundesregierung, Flüchtlingen den Wohnsitz vorzuschreiben. Verfassungsrechtler beurteilen die Pläne kritisch. Da werde mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Opposition spricht von Stammtischpopulismus.

Nach den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln erwägt die Bundesregierung, anerkannten Flüchtlingen den Wohnsitz vorzuschreiben. Die Koalition habe eine große Chance, eine derartige Regelung in den nächsten Wochen zu vereinbaren, sagte Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU). Laut Regierungssprecher Steffen Seibert wird derzeit „intensiv geprüft“, ob Wohnsitzauflagen für anerkannte und subsidiär geschützte Flüchtlinge ausgedehnt werden sollten. Vize-Kanzler Sigmar Gabriel (SPD) argumentierte, die Wohnsitzauflage werde gebraucht, sonst zögen alle in die Großstädte „und wir kriegen richtige Ghetto-Probleme“. Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte bereits für solch eine Auflage plädiert.

Bislang können Flüchtlinge in Deutschland ihren Wohnsitz frei wählen. Eine Begrenzung dieser freien Wahl und der Bewegung gibt es derzeit nur für Asylbewerber und Geduldete. So legt die Residenzpflicht den Bewegungsradius für Asylbewerber fest. Nach der seit 1. Januar geltenden Regelung dürfen sie in den ersten drei Monaten in Deutschland nicht den Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde verlassen, in den sie über das Verteilsystem der Länder zugewiesen wurden. Nach Ablauf der drei Monate legen jeweils die Landesregelungen den Bewegungsradius fest.

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Regel: Flüchtlinge können sich (fast) frei bewegen

In der Regel können sich Flüchtlinge im Verfahren dann innerhalb der Landesgrenzen frei bewegen, bei einigen auch darüber hinaus. Eine Begrenzung des Bewegungsradius auf den Landkreis ist inzwischen die Ausnahme. Für Asylbewerber in Erstaufnahmeeinrichtungen gilt seit vergangenem Jahr allerdings eine Residenzpflicht von bis zu sechs Monaten. Bei Antragstellern aus sicheren Herkunftsstaaten, die bis zum Ablauf des Verfahrens in diesen Einrichtungen bleiben sollen, gilt sie sogar unbegrenzt.

Wohnsitzauflagen gelten derzeit für Asylbewerber und Geduldete, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst sichern können. Damit soll gewährleistet werden, dass die Kosten für Sozialleistungen fair unter den Bundesländern verteilt werden. Für eine Wohnsitzauflage anerkannter Flüchtlinge gibt es eine hohe Hürde. Die Genfer Flüchtlingskonvention schreibt vor, dass Vertragsstaaten Flüchtlingen das Recht gewähren müssen, ihren Aufenthalt frei zu wählen und sich frei zu bewegen.

Pro Asyl: Rechter Stimmung nicht hinterherlaufen

Oppositionsvertreter kommen daher zu dem Schluss, dass eine Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge unzulässig wäre. Wohnsitzauflagen für anerkannte Flüchtlinge seien völker- und europarechtlich unzulässig, sagte der Grünen-Innenpolitiker Volker Beck den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Die Linken-Politikerin Ulla Jelpke bezeichnete die Forderungen als „Stammtischpopulismus“.

Kritik kam auch von der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl. Asylbewerber in Gegenden zu zwingen, in denen die Bevölkerung aus guten Gründen abnehme, lehne er ab, sagte Geschäftsführer Günter Burkhardt der Neuen Osnabrücker Zeitung. „Ein junger Flüchtling hat nicht überall gleich gute Chancen auf einen Ausbildungsplatz.“ Asylbewerber in die Fläche zu schicken, würde bedeuten, dass sie vermehrt auf staatliche Sozialleistungen angewiesen wären. „Das sind integrationspolitische Fehlmaßnahmen.“ Burkhard habe den Eindruck, dass die Kölner Vorfälle von der Politik benutzt würden, um schärfere Gesetze politisch zu legitimieren. „Es besteht die Gefahr, dass sich Parteien nun bei restriktiven Maßnahmen überbieten.“ So würden rechtsextreme Standpunkte verstärkt und salonfähig gemacht. „Die Politik darf der rechten Stimmung nicht hinterherlaufen.“

Jura-Porfessor: Nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen

Auch aus Sicht von Rechtsexperten verstoßen die Regierungspläne gegen das Grundgesetz. Wer anerkannten Asylbewerbern den Wohnsitz vorschreiben wolle, müsse einen tiefen Eingriff in die Verfassung vornehmen, sagte der Oldenburger Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler dem Evangelischen Pressedienst. Dies sei nur unter strengen Bedingungen möglich. „Ich habe meine Zweifel, dass solche Umstände hier gegeben sind“, so der Jura-Professor.

Boehme-Neßler betonte, Artikel 2 des Grundgesetzes schütze die Freiheit aller Menschen – also auch die der anerkannten Flüchtlinge. Ein Grundrecht dürfe nur geändert werden, wenn dies legitim, geeignet und erforderlich sei. Wenn eine mildere Maßnahme das gleiche Ziel erreichen könne, dürfe nicht in die Grundrechte eingegriffen werden: „Das bedeutet, es darf nicht mit Kanonen auf Spatzen geschossen werden.“ Im konkreten Fall gehe es letztlich um die Frage, ob Übergriffe wie in der Kölner Silvesternacht nur mit einer Residenzpflicht für alle Flüchtlinge verhindert werden könnten, sagte der Verfassungsrechtler. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies nicht mit anderen Mitteln möglich ist.“ Dies sei eine Frage der Integration und der Polizeiarbeit.

Bei noch nicht anerkannten Flüchtlingen sei die Situation jedoch eine andere. In diesem Fall sei eine Einschränkung der Freizügigkeit nachvollziehbar, weil es darum gehe, überhaupt einen Überblick zu erhalten, sagte Boehme-Neßler. (epd/mig)