Bades Meinung

Sicherheit, Ordnung und Gesellschaftspolitik im Bundesinnenministerium

Der Chef des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), verlangt ein ‚Bundesministerium für Migration, Integration und Flüchtlinge‘. Das ist keine neue Forderung. Aber sie gibt Anlass zu einem Rückblick auf die Rolle des Bundesinnenministeriums und der Persönlichkeiten an seiner Spitze in Sachen Zuwanderung und Integration: Eine kritische Bilanz von Friedrich Zimmermann bis Thomas de Maizière 1982-2015.

Die CDU/CSU rückt als Integrationsfraktion auf und hat nach der Regierungsübernahme von der rot-grünen Koalition zum Teil mit Siebenmeilenstiefeln aufzuholen versucht, was sie selbst vorher lange in defensiver Erkenntnisverweigerung verhindert oder doch verzögert hat: Bis ins späte 20. Jahrhundert hat die Union – von Ausnahmen wie Wolfgang Schäuble (CDU) als Bundesinnenminister und innerparteilich vielkritisierten Einzelgängern wie Rita Süssmuth, Heiner Geißler und Christian Schwarz-Schilling abgesehen – viele zukunftsweisende Innovationen im Feld von Zuwanderungs-und Integrationspolitik abgewiesen oder doch bis zur Unkenntlichkeit verschlimmbessert, aber dann doch mit geradezu notorischer Verspätung in ähnlicher Form in Regierungsverantwortung nachvollzogen.

Info: Dieser Beitrag ist ein aktualisierter Vorabdruck aus: Klaus J. Bade, Von Unworten zu Untaten. Kulturängste, Populismus und politische Feindbilder in der deutschen Migrations- und Asyldiskussion zwischen ‚Gastarbeiterfrage‘ und ‚Flüchtlingskrise‘, in: 25 Jahre Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), IMIS-Beiträge 48/2016, S. 33 – 169. Auf Anmerkungen mit Belegen (ebenda, S. 51-68) wird deshalb hier verzichtet.

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Defensive Erkenntisverweigerung und historische Verspätung

Das galt, um nur einige Beispiele zu nennen, für das von Migrationforschern schon in den 1980er Jahren angeregte und von der „Unabhängigen Kommission Zuwanderung“ (Süssmuth-Kommission) 2000/01 erneut geforderte Punktesystem nach kanadischen Vorbild. Es stand lange unter konservativem Dauerfeuer und wurde erst vor wenigen Jahren in zeitgemäß veränderter Form in Gestalt des (arbeitsmarktbezogenen) „Kleinen Punktesystems“ für Hochqualifizierte nachgeschoben. Es galt für die von dem – deshalb verteufelten – „Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration“ (Zuwanderungsrat) 2003/04 empfohlene „Engpass-Diagnose“ am Arbeitsmarkt, die mit den übelsten Denunziationen bekämpft wurde und die es heute, wie selbstverständlich, in Gestalt der „Positivliste“ für die Zulassung von Arbeitswanderern aus Drittstaaten gibt. Es galt für den ersten Entwurf des von Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) vorgelegten Zuwanderungsgesetzes, das, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt bzw. zu einem „Zuwanderungsverhinderungsgesetz“ deformiert, 2005 als „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern“ Wirklichkeit wurde – und dann doch später mühsam nachgebessert werden musste. Es galt für die schon in den 1980er Jahren von Migrationsforschern vorgetragene Idee eines „Einwanderungsgesetzes“ die durchgängig und zuletzt noch von Bundesinnenminister de Maizière (CDU) brüsk abgelehnt – und doch zum Jahresbeginn 2015 von CDU-Generalsekretär Tauber übernommen wurde. Und es galt für die seit rund drei Jahrzehnten immer wieder geforderte Einrichtung eines Bundesamtes für Migration und Integration. Diese Idee wurde, insbesondere von Seiten des durch Politiker aus den Reihen von CDU oder CSU geführten Bundesinnenministeriums, vehement abgewiesen – und nun zum Jahresbeginn 2016 doch durch den Chef des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU) aufgegriffen mit seinem Vorschlag eines ‚Bundesministeriums für Migration, Integration und Flüchtlinge‘.

„Bei der Verzögerung anstehender Aufgaben auf dem Weg zur Einwanderungsgesell-schaft war und ist das BMI mit seinen Leitperspektiven von Sicherheitspolitik und Gefahrenabwehr aber oft mehr Teil des Problems als Teil seiner Lösung.“

Das von Röttgen geforderte Ministerium ist strukturell nötig; denn die schon seit langem unbestreitbare Bedeutung von Zuwanderungs-, Integrations- und Flüchtlingsfragen ist unter dem zu verstärkter Zuwanderung zwingenden Druck des demographischen Wandels sowie unter dem zunehmenden Andrang von schutzsuchenden Geflüchteten noch stärker gewachsen. Ein solches Ministerium ist aber auch nötig, weil das hier als Zentralressort agierende Bundesinnenministerium (BMI) in entscheidenden Fragen immer wieder versagt hat, zuletzt in der Konfrontation mit der sogenannten Flüchtlingskrise, die in Wahrheit unsere eigene Krise ist.

Zuwanderung, Asyl und Integration sind, mit unterschiedlicher Zuständigkeit, Aufgabenbereiche von Bund und Ländern und begegnen sich insgesamt in der kommunalen Praxis. Integrationsförderung ist dabei vorwiegend Ländersache, von den Zuständigkeiten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) abgesehen. Integration als Sozial- und Kulturprozess vollzieht sich nicht auf der Bundes- oder auf der Länderebene und in den Kommunen.

Und doch werden nicht nur Rahmenbedingungen von Zuwanderung und Integration, sondern auch die Einstellungen dazu wesentlich mitbestimmt durch Entscheidungen und Positionierungen auf der Bundesebene. Es gibt hier heute zwar eine breite Aufgabenteilung zwischen verschiedenen Fachressorts und neuerdings auch dem Bundeskanzleramt. Die zentrale Zuständigkeit aber liegt nach wie vor beim Bundesministerium des Innern.

Bei der Verzögerung anstehender Aufgaben auf dem Weg zur Einwanderungsgesellschaft war und ist das BMI mit seinen – in anderen Bereichen gerade heute zweifelsohne unumgänglichen – Leitperspektiven von Sicherheitspolitik und Gefahrenabwehr aber oft mehr Teil des Problems als Teil seiner Lösung.

Die folgende kritische Bilanz der Rolle des BMI und der Persönlichkeiten an seiner Spitze seit Beginn der ‚Ära Kohl‘ (1982) zeigt in Sachen Migration und Integration viele Schatten- und wenige Lichtseiten: Bei Zuwanderung, Asyl und Integration schwankten Aktivitäten und Positionierungen des Bundesinnenministeriums in den vergangenen Jahrzehnten zwischen Sicherheitspolitik und Gefahrenabwehr, rechtspositivistischer Ordnungspolitik und vorausdenkender Gesellschaftspolitik.

Das hat mit dem Zusammentreffen der Denktraditionen des Ressorts mit den politischen Persönlichkeiten an seiner Spitze zu tun. Ihnen gilt diese Skizze über die Rolle von Bundesministern des Innern 1 in der öffentlichen Diskussion seit den frühen 1980er Jahren. Damals war der Weg zu Einwanderungsland und Einwanderungsgesellschaft nach Maßgabe aller verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse unbestreitbare gesellschaftliche Realität geworden. Das aber wurde gerade aus dem BMI immer wieder in defensiver Erkenntnisverweigerung bestritten, nach dem Motto, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.

Die Bundesinnenminister waren und sind bei ihren Entscheidungsvorbereitungen und bei ihrer Öffentlichkeitsarbeit in dem riesigen Zuständigkeitsbereich des BMI oft abhängig von diesem gewaltigen Apparat und seiner mitunter auch meinungsbildenden Zuarbeit. Die ministerialen Denktraditionen haben deshalb, wenn der Ressortleiter nicht eine besonders starke politische Persönlichkeit war, mitunter auch einschlägige Spuren in den Aufgabenfeldern Migration und Integration hinterlassen – nach dem bekannten Motto: ‚Die Minister wechseln, die Ministerialräte bleiben‘.

Das Spannungsverhältnis zwischen den Denkstrukturen im BMI und den politischen Persönlichkeiten an seiner Spitze war je und je ganz unterschiedlich geprägt. Es gab Ressortleiter wie die Bundesinnenminister Zimmermann (CSU), Kanther (CDU) und Seiters (CDU), deren politisches Weltbild ohnehin diesen Denkstrukturen zu entsprechen schien. Es gab aber auch Bundesinnenminister, die sich auch als Gesellschaftspolitiker zu engagieren suchten, wie Wolfgang Schäuble (CDU) und Otto Schily (SPD).

Das BMI unter Friedrich Zimmermann, Rudolf Seiters und Manfred Kanther

Der aus vielen, auch persönlichen Gründen umstrittene politische Haudegen Friedrich Zimmermann (CSU) regierte 1982–1989 im BMI. Bestimmend für seine Politik in den Bereichen Migration und Integration war das realitätsfremde Tabu-Dogma, die Bundesrepublik sei ‚kein Einwanderungsland‘. Damit verbunden waren sein Unvermögen, Einwanderung als Gestaltungsaufgabe, geschweige denn als zentrales gesellschaftspolitisches Thema zu begreifen und sein aggressives Desinteresse gegenüber entsprechenden gesellschaftspolitischen Konzepten.

Vor dem Hintergrund neuerlichen Streits um das kommunale Wahlrecht und der Kritik am langen Ausbleiben des immer wieder folgenlos angekündigten Gesetzesentwurfs zur Novellierung des Ausländerrechts wurde 1988 im Bundesinnenministerium ein rund 200 Seiten langer zweiteiliger Gesetzentwurf ausgefertigt, der durch eine Indiskretion an die mediale Öffentlichkeit geriet.

Der erste Teil, das ‚Ausländerintegrationsgesetz (AIG)‘ enthielt Integrationsangebote und -forderungen. Der zweite Teil, das ‚Ausländeraufenthaltsgesetz (AAG)‘ umfasste vor allem Abwehrinstrumentarien mit weiten Ermessensspielräumen für die Behörden. Normativer Anker des Gesetzes aus dem Hause Zimmermann war die Gleichsetzung von Zuwanderung und Integration mit einem „Verzicht auf die Homogenität der Gesellschaft“. Das meinte konkret: „Die gemeinsame deutsche Geschichte, Tradition, Sprache und Kultur verlören ihre einigende und prägende Kraft. Die Bundesrepublik Deutschland würde sich nach und nach zu einem multinationalen und multikulturellen Gemeinwesen entwickeln.“

Der Umgang mit der Indiskretion war seitens des BMI hochnotpeinlich und blamabel: Zunächst wurde die Existenz des Entwurfs vom Ministerium wahrheitswidrig bestritten. Dann wurde seine Existenz bestätigt, aber seine Bedeutung als ‚Referentenentwurf‘ heruntergespielt. Schließlich wurde der Gesetzentwurf nach schärfsten Protesten aus der Öffentlichkeit ganz zurückgezogen. Nach der Kabinettsumbildung spielten die hochpolitisierten Themen Zuwanderung und Integration dann abermals eine zentrale Rolle beim Wechsel an der Spitze des Bundesinnenministeriums von Friedrich Zimmermann (CSU) zu Wolfgang Schäuble (CDU), der vordem Chef des Bundeskanzleramtes gewesen war.

Regierungsamtliche defensive Erkenntnisverweigerung und gesellschaftspolitische Konzeptlosigkeit, die Einschätzung von Zuwanderung als Gefahr von außen und von Integration als Gefahr im Inneren hatten als Faktorenbündel nachhaltige Folgen:

„Die Haltung der Bundesregierung und insbesondere diejenige des BMI zu Fragen von Zuwanderung und Integration förderte aber auch Abwehrhaltungen in weiten Kreisen der Bevölkerung.“

Sie trugen entscheidend dazu bei, dass die 1980er Jahre in der Gestaltung des Weges zu Einwanderungsland und Einwanderungsgesellschaft auf der Bundesebene und damit auch in der Bundesgesetzgebung ein verlorenes Jahrzehnt blieben – im Gegensatz zur kommunalen Ebene, auf der Integration, allen abgehobenen Grundsatzdebatten zum Trotz, von Beginn an pragmatisch begleitet bzw. verwaltet wurde.

Die Haltung der Bundesregierung und insbesondere diejenige des BMI zu Fragen von Zuwanderung und Integration förderte aber auch Abwehrhaltungen in weiten Kreisen der Bevölkerung. Sie wurden emsig geschürt durch Sensationsmedien und durch rechtsradikale bzw. rechtsextremistische Bewegungen, die sich immer mehr an den Themen Zuwanderung und (‚gescheiterter‘) Integration hochhangelten, wobei ihnen populistische Redensarten opportunistischer Politiker als Steigeisen dienten. Verstärkt wurden diese Abwehrhaltungen durch ein fatales Zusammentreffen verschiedener Faktoren Anfang der 1990er Jahre:

Das galt einerseits für die scharf ansteigenden Zuwanderungen: Aussiedler, Umsiedler im Vereinigungsprozess, Geflüchtete aus Krieg und Bürgerkrieg in der zerfallenden Vielvölkerrepublik Jugoslawien, unter ihnen auch rund eine Viertelmillion Roma, jüdische Geflüchtete aus der GUS und Asylsuchende aus aller Welt;

Es galt andererseits für die eklatante politische Rat-, Konzeptlosigkeit und Handlungsunfähigkeit gegenüber diesen gewaltigen gesellschaftspolitischen Herausforderungen auf der Regierungsebene, besonders im hier zentral zuständigen Innenressort. Und es galt im Bundestag für den ‚Asylstreit‘ mit wechselseitigen Denunziationen, die schließlich zu gegenseitiger Lähmung und Handlungsunfähigkeit führten, was die Sensationspresse begierig aufgriff und Bundeskanzler Kohl davon reden ließ, das das Land auf Grund des Asylstreits nicht mehr „regierbar“ sei.

Das war die Voraussetzung dafür, dass das medial forcierte Zusammentreffen von Bürgerangst und Bürgerwut von ‚unten‘ mit politischer Rat- und Konzeptlosigkeit von ‚oben‘ („Bürger fragen – Politiker schweigen“) eine Hochspannung erzeugte. Sie war kleinen gewaltbereiten Minderheiten, die sich als Vertreter der schweigenden Mehrheit verstanden, Anlass, an den verschiedensten Orten im Osten und Westen des Landes mit weltweit Aufsehen erregenden blutigen Exzessen loszuschlagen. Diese Ereignisse wurden vom Bundesinnenministerium nicht als gesellschaftspolitische Warnsignale, sondern nur ordnungspolitisch als Folgeprobleme des ‚Asylmissbrauchs‘ verstanden wurden, weshalb die Opfer als Verursacher ihres Schicksals erscheinen konnten.

Das zeigte sich auch in der Reaktion des Bundesinnenministers Rudolf Seiters (CDU), der 1991 bis 1993 auf Wolfgang Schäubles erste Amtszeit (1989–1991) gefolgt war, von der gleich die Rede sein wird. Seiters war als Bundesinnenminister eine vergleichsweise blasse Erscheinung. Seine Antwort auf die anhaltenden Gewaltakte und aktuell auf den Pogrom von Rostock-Lichtenhagen aber war klar und lautete in unmissverständlicher Täter/Opfer-Umkehr: „Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts, der dazu geführt hat, dass wir einen unkontrollierten Zustrom in unser Land bekommen haben.“

Ganz in diesem Sinne hatten sich der seinerzeitige Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern Berndt Seite (CDU) und sein Innenminister Lothar Kupfer (CDU) zu dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen geäußert. Kupfer erklärte nach den Ereignissen von Rostock-Lichtenhagen mit semantisch verkorkstem Dank an die Adresse der rechten Gewalttäter: „Die Rechten haben bewirkt, die Politiker dafür zu sensibilisieren, dass das Asylrecht eingeschränkt wird und dass das Sicherheitsgefühl an erster Stelle steht – nicht nur in Ostdeutschland!“.

1993–1998 stand an der Spitze des BMI der streng konservative und hochmoralisch auftretende, später über submoralische Parteispendensünden tief fallende Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU). Auch er war auf dem Weg zur Einwanderungsgesellschaft ein retardierendes Element par excellence und deklamierte noch Jahre nach dem Dresdner Parteitag der CDU von 1992, auf dem dieses Motto von seiner Partei fallen gelassen worden war: „Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland und soll auch keines werden!“ Am Ende seiner Amtszeit wurde ein – erfreulicherweise in den Schubladen gebliebener – an denjenigen von Zimmermann erinnernder Gesetzentwurf fertig, in dem Einwanderung vorwiegend als Störung der gesellschaftlichen „Homogenität“ und „nationalen Kultur“ erschien.

Das BMI unter Wolfgang Schäuble und Otto Schily

Die Amtsperioden des liberal-konservativen Bundesinnenministers Schäuble (CDU), der zweimal das BMI leitete, und des konservativ-sozialdemokratischen Bundesinnenministers Otto Schily zeigten, dass an der Spitze dieses Ressorts auch pragmatische Gesellschaftspolitik möglich war.

Das reichte bei Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble von der Reform des Ausländerrechts bis zur Islamintegration. In seiner ersten Amtsperiode (1989–1991) erledigte Schäuble zunächst im Handstreich unter seinem Vorgänger Zimmermann liegen gebliebene Hausaufgaben.

Weil bei den bevorstehenden Landtagswahlen ein Verlust der Unionsmehrheit im Bundesrat möglich war, betrieb er ab Herbst 1989 in einem nicht nur für seine Mitarbeiter atemberaubendem Tempo die Reform des Ausländerrechts. Sie wurde am 26. April 1990 vom Bundestag und am 11. Mai 1990 vom Bundesrat angenommen (Gesetzeswirkung ab 1. Januar 1991) – zwei Tage bevor mit dem Ergebnis der Niedersachsenwahl vom 13. Mai 1990 die Bundesratsmehrheit tatsächlich verloren ging, womit die umstrittene Gesetzesreform viel schwieriger geworden wäre. Die Debatte über ihre gesellschaftspolitischen Komponenten ging im Trubel der Vereinigungsdiskussion unter.

In seiner zweiten Amtszeit (2005–2009) begründete Schäuble 2006 die ‚Deutsche Islamkonferenz‘ mit der gesellschaftspolitisch mutigen Botschaft, dass der Islam zu Deutschland gehöre, die noch Jahre später, vor dem Hintergrund der sogenannten Sarrazin-Debatte, dem Bundespräsidenten Christian Wulff zum Verhängnis werden sollte.

In der Mitte zwischen dröhnender Gefahrenabwehr und reformorientierter Gesellschaftspolitik positionierte sich, als Kanthers Nachfolger, 1998–2005 der Bundesinnenminister der rot-grünen Koalition, Otto Schily (SPD). Er wurde wegen seiner Raubeinigkeit auch ‚roter Sheriff‘ genannt, war aber, insbesondere gegenüber Kritik an seiner Amtsführung, sehr empfindsam.

Schily agierte in Ausländerrecht, Migrations- und Integrationsverwaltung sowie im Staatsangehörigkeitsrecht sehr reformfreudig und gesellschaftspolitisch vorausblickend. Zur ‚Ära Schily‘ gehörten verfassungsrechtliche und gesellschaftspolitische Reformen von historischer Bedeutung. Das galt für das neue Staatsangehörigkeitsgesetz (1990), in das die konservative Opposition unter anderem das turkophobe, später wieder revidierte ‚Optionsmodell‘ hineinzwang.

Und es galt ebenso für das – im Entwurf von 2001 – in Europa modernste ‚Zuwanderungsgesetz‘ mit seiner die Zuständigkeit der Bundesländer für Integration ergänzenden bundesweiten Integrationsverwaltung im ‚Bundesamt für Migration und Flüchtlinge‘ (BAMF). Daraus wurde, wie erwähnt, durch von der Opposition erzwungene rechtsdrehende Verschlimmbesserungen 2005 bereichsweise ein ‚Zuwanderungs-Verhinderungsgesetz‘ mit schweren und folgenreichen programmatischen Opfern:

Dazu gehörte legislativ die Streichung des im Bericht der ‚Unabhängigen Kommission Zuwanderung‘ unter Leitung von Bundestagspräsidentin a.D. Rita Süssmuth (‚Süssmuth-Kommission‘) 2001 vorgeschlagenen flexiblen Punktesystems zur Migrationssteuerung – von dem in episodischem Nachvollzug später einige Rudimente, insbesondere bei der Zulassung von Hochqualifizierten, nachgebessert wurden, die zu Recht als ‚Kleines Punktesystem‘ bezeichnet werden.

Dazu gehörte institutionell die Abschaffung des erst 2003 von Otto Schily zur beratenden Politikbegleitung auf der Bundesebene eingesetzten ‚Sachverständigenrates für Zuwanderung und Integration‘ (Zuwanderungsrat), der den leitenden Beamten im BMI von Beginn an ein Dorn im Auge war, weil er auch die Ergebnisse ihre Arbeit hätte begutachten sollen. Der Zuwanderungsrat hatte 2004 seinen reformorientierten ersten und einzigen Jahresbericht vorgelegt, in dem er anstelle des gefürchteten Punktesystems eine ‚Engpassdiagnose‘ am Arbeitsmarkt als Steuerungsinstrument vorschlug. Auch Sie wurde von der oppositionellen CDU/CSU, wie das Punktesystem, als migrationspolitisches Monster verteufelt. Und doch versuchte man auch in diesem Fall, die ‚Engpassdiagnose‘ des Zuwanderungsrates wenig später als ‚Fachkräfteallianz‘ nachzuspielen, was zunächst vergeblich blieb. Heute ist sie, wie erwähnt, als ‚Positivliste‘ für die weitgehend barrierefreie Zuwanderung von passgerechten Arbeitskräften ebenfalls ein Kernstück der vielgerühmten ‚modernen‘, in Wahrheit unnötig verspäteten Zuwanderungspolitik.

Kontraproduktiv war ferner die von CDU/CSU betriebene Festlegung von grotesk übersteigerten Anforderungen für die Zuwanderung von hochqualifizierten Beschäftigten und von Selbstständigen aus Drittstaaten. Das führte dazu, dass unter Berufung auf die damit eröffneten, genauer gesagt verbauten Möglichkeiten aus diesen beiden Gruppen zunächst fast niemand nach Deutschland zuwanderte, was den sogar wirtschafts- und arbeitsmarktfremden Zuwanderungsphobien vieler Politiker von CDU/CSU offenbar durchaus entsprach.

Hätte Schilys ursprünglicher Gesetzentwurf die parlamentarischen Hürden genommen, dann wären dem Land mancherlei unnötige Probleme und politische Kämpfe um Nachbesserungen erspart geblieben. Das reicht bis zu dem neuerlichen Tauziehen um ein klares und zugleich flexibles ‚Einwanderungsgesetz‘, das damit im Kern seinerzeit schon geschaffen worden wäre, von CDU/CSU jahrzehntelang verbissen abgelehnt und nun, wie erwähnt, von der CDU als separates Gesetzesvorhaben neu ins Spiel gebracht wurde. Und die politischen Verantwortungsträger von damals pflegen Kritik an ihrem furchtsamen Versagen oder demjenigen ihrer Parteien mit dem notorischen Hinweis zu begegnen, dass die Umstände eben seinerzeit nicht so waren, will unausgesprochen sagen, dass sie sich selbst im Wege standen.

Schilys Amtsführung hatte aber auch folgenreiche Schattenseiten: Das galt für autoritativ und barsch formulierte, aber voreilige und nachhaltige Fehleinschätzungen, zum Beispiel bei der durch sein forsches Dementi eines ‚ausländerfeindlichen‘ Hintergrundes erschwerten Früherkennung der Anschläge des ‚Nationalsozialistischen Untergrunds‘ (NSU). Es galt für die Förderung der seines Erachtens vorwiegend emanzipatorischen sogenannten ‚Islamkritik‘ zum Beispiel in Gestalt einer Aufsehen erregenden großen Jubelrezension des bald in Massenauflage verbreiteten Buches ‚Die fremde Braut‘ der selbsternannten Islamexpertin Necla Kelek, die in BMI und BAMF als Beraterin ein- und ausging. Und es galt ebenso für frühe populistische Äußerungen über eine angeblich durch Zuwanderung überschrittene ‚Grenze der Belastbarkeit‘ sowie über Asylsuchende als ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ in Deutschland.

Das BMI unter Hans-Peter Friedrich

„Friedrich trat im BMI immer wieder mit islamophoben Positionierungen, Indiskretionen, Warnungen und übel missglückten Aktionen hervor, an denen die Behördenspitze gelegentlich nicht ganz unschuldig gewesen zu sein scheint“

Auf die ‚Ära Schily‘ folgte in der anschließenden CDU/CSU-FDP-Koalition im BMI zunächst die schon erwähnte zweite Amtszeit von Wolfgang Schäuble. Sie endete 2009, weil Schäuble in der zweiten schwarz-gelben Koalition das Bundesfinanzministerium übernahm.

Schäubles Nachfolger mit ebenfalls doppelter Amtszeit als Bundesinnenminister (2009–2011 und ab 2013) wurde der vormalige Chef des Bundeskanzleramtes und enge Vertraute der Bundeskanzlerin Thomas de Maizière. Seine erste Amtszeit endete schon nach zwei Jahren, weil de Maizière auf Drängen der Bundeskanzlerin den weltgewandten, allseits beliebten und scheinbar politisch zukunftssicheren, dann aber über die Plagiatsaffäre in Sachen seiner Dissertation gestürzten Freiherrn von und zu Guttenberg (CSU) als Bundesverteidigungsminister ersetzen musste.

Sein Nachfolger als Bundesinnenminister, Hans-Peter Friedrich, war ein mehr oder minder hilfloses Opfer der im BMI vorgefundenen Strukturen. Der persönlich freundlich-umgängliche Friedrich hatte unter dem massiven Druck des CSU-Vorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer nur widerwillig das BMI übernommen. Er wirkte mit diesem schwergewichtigen Amt politisch überfordert und wurde deshalb, im Gegensatz zum ‚roten Sheriff Schily‘, mitunter als ’schwarzer Sheriff von der traurigen Gestalt‘ tituliert.

Friedrich trat im BMI immer wieder mit islamophoben Positionierungen, Indiskretionen, Warnungen und übel missglückten Aktionen hervor, an denen die Behördenspitze gelegentlich nicht ganz unschuldig gewesen zu sein scheint, für die er als Ressortleiter aber die politische Verantwortung übernehmen musste.

Das galt, um nur zwei Beispiele zu nennen, einerseits für seinen in den Medien stark beachteten, scheinbar manipulativen Umgang mit den Ergebnissen einer aus sicherheitspolitischen Erwägungen veranlassten Islam-Studie. Es ging dabei um eine zuerst vehement bestrittene, dann schrittweise eingeräumte und schließlich offen eingestandene verdeckte Kooperation seiner Presseabteilung mit der Bild-Zeitung. Dabei war nicht zureichend erkennbar, ob der scharf attackierte Minister davon tatsächlich oder nur angeblich nichts wusste.

Es galt andererseits für die aufklärerisch intendierte, aber islamophob angelegte oder doch wirkende und deshalb nach massiven öffentlichen Protesten abgebrochene Plakatkampagne unter der Schlagzeile „Vermisst“. Friedrich betrieb auf diese Weise, ganz in den Traditionen des Amtes, Integrationspolitik als Sicherheitspolitik. Er sorgte damit für schweren Vertrauensverlust bei Vertretern der Einwandererbevölkerung, brachte selbst Schäubles Deutsche Islamkonferenz an den Rand des Zusammenbruchs und stürzte schließlich über sein Mitteilungsbedürfnis in der Edathy-Affäre.

Zum Ersatz von Friedrich an der Spitze des BMI wurde im Dezember 2013 der bis heute amtierende Bundesinnenminister de Maizière aus dem Bundesverteidigungsministerium zurückgeholt, wo er wegen seines Taktierens zur Begründung von Informationsdefiziten in der Drohnen-Affäre (‚Euro-Hawk‘) in die Kritik geraten war.

Das BMI unter Thomas de Maizière

Der immens fleißige, oft bis zur sichtbaren Erschöpfung arbeitende, stets aktenkundige neue/alte Bundesinnenminister brachte ein persönliches Handicap mit: Er ist ein hervorragender Verwaltungsjurist, loyaler Umsetzer vorgegebener rechtspolitischer Richtlinien, aber kein gesellschaftspolitischer Visionär. Der Bundesinnenminister und seine Kanzlerin, die er intern nur ‚die Chefin‘ nennt und mit der er eng befreundet ist, passen deshalb zwar trotz aller Unterschiede im Naturell perfekt zusammen, können sich hier aber kaum produktiv ergänzen, weil Merkel als erfolgreiche Pragmatikerin ohne gesellschaftspolitische Visionen das gleiche Manko hat.

De Maizière wurde zwar wegen seiner Klarheit und Sachlichkeit gerühmt, ging aber dennoch schon in seiner ersten Amtsperiode in die Geschichte der integrationskritischen Schandwortpolemik ein. Dafür sorgte seine aus der Luft, möglicherweise aus der BMI-Luft, gegriffene, sogar mit fiktiven Prozentangaben (vorgeblich ca. 15 Prozent) geschmückte Rede von angeblichen ‚Integrationsverweigerern‘.

Er schuf damit ein Klischee, das 2010 bei der Entscheidung über das Unwort des Jahres auf dem zweiten Platz landete. Die populistisch-denunziative Desinformation war trotz aller nachholenden Bemühungen des BMI auf Bundes- und Länderebene um eine statistische Rechtfertigung der polemischen Unterstellungen des Ministers nirgends zu belegen. Das galt sogar für das unter der Fachaufsicht des BMI stehende Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, bei dessen Integrationskursverwaltung ebenfalls vergeblich nach ‚Verweigerern‘ gesucht wurde, schon deshalb, weil der enorme Andrang von freiwilligen Kursbesuchern mit den regulären Angeboten gar nicht zu bewältigen war. Dennoch legte de Maizière sogar noch nach und regte eine Bestrafung der ‚Integrationsverweigerer‘ an. Eine entschuldigende Korrektur dieses minderheitenfeindlichen denunziativen Fehlverhaltens durch das Bundesinnenministerium oder seinen Ressortleiter ist nicht bekannt geworden.

Das sollte kein Einzelfall bleiben: In seiner zweiten, anhaltenden Amtsperiode verkündete de Maizière, 30 Prozent der Asyl suchenden Syrer stammten in Wahrheit gar nicht aus dem Kriegs- und Bürgerkriegsland und hätten sich falsche Pässe besorgt, um in den Genuss der Vorzugsbehandlung für Geflüchtete aus Syrien zu gelangen. Die Information war im Kern nicht ganz abwegig, weil es tatsächlich einen Passhandel gab und gibt, aber vor allem deswegen, weil in den Herkunftsregionen heute kaum mehr Möglichkeiten bestehen, einen Pass zu erhalten, erst recht nicht für Ausreise- bzw. Auswanderungswillige. Und die zweifelsohne bei weitem überzogene Prozentangabe war abermals schlicht aus der Luft gegriffen.

Wieder gab es keine Belege. Wieder speiste die von Zuwanderungs- und ‚Asylkritikern‘ gern zitierte Fehlinformation Abwehrhaltungen gegenüber ‚Asylbetrügern‘, bis Anfang Dezember 2015 Stichproben ergaben, dass nur 8 Prozent der syrischen Pässe „bemängelt“ (also nicht einmal für gefälscht erklärt) worden seien. Wieder blieb eine entschuldigende selbstkritische Korrektur aus, stattdessen war nunmehr davon die Rede, dass die Aufsehen erregende vorherige Fehlangabe ja nur ein ‚Schätzwert‘ gewesen sei.

Ähnliches galt für de Maizières Sozialneid stimulierende Polemik gegenüber sozial besser gestellten Geflüchteten, von denen einige – was vor Beginn eines Asylverfahrens durchaus nicht verboten ist – die ihnen zugewiesene, möglicherweise als unerträglich empfundene Erstaufnahmeeinrichtung verließen und sich auf den Weg zum Beispiel zu Verwandten in Deutschland oder ins Ausland machten.

Bei de Maizière klang das im Oktober 2015 in einem empörten Fernsehkommentar über Ordnungsstörungen so: Früher hätten Flüchtlinge sich bestenfalls bei den Behörden erkundigt, wohin sie zugewiesen werden würden. Heutzutage glaubten manche von ihnen offenbar, sie könnten sich selbst irgendwohin zuweisen. „Sie gehen aus Einrichtungen raus, sie bestellen sich ein Taxi, sie haben erstaunlicherweise das Geld, um Hunderte Kilometer durch Deutschland zu fahren.“ Das nährte die ebenso abschätzige wie lebensfremde Vorstellung, Geflüchtete, die zum Beispiel in Syrien oft gut situierte Angestellte, Selbständige oder erfolgreiche Gewerbetreibende waren, müssten immer arm, demütig und dankbar sein.

„De Maizière wurde zwar wegen seiner Klarheit und Sachlichkeit gerühmt, ging aber dennoch schon in seiner ersten Amtsperiode in die Geschichte der integrationskritischen Schandwortpolemik ein.“

Daneben standen andere, ‚Asylkritik‘ an angeblichem ‚Asylmissbrauch‘ durch ‚Sozialschmarotzer‘ sowie diffuse Flüchtlings- und Fremdenfeindlichkeit schürende Angaben des Bundesinnenministers wie zum Beispiel sein Hinweis auf das angeblich verbreitete, in der Öffentlichkeit ‚Simulantentum‘ genannte Verhalten von mitunter traumatisierten Ausreisepflichtigen bzw. Abzuschiebenden: „Viele simulieren eine Krankheit, um nicht abgeschoben zu werden, sind aber gar nicht krank.“ Wieder blieb jeder Beleg für die Nachricht aus, die unversehens wie eine Argumentationshilfe für asylfeindliche rechtsextreme Kreise wirkte.

2015 irritierte der Bundesinnenminister mit seiner – im Kontext der von der Bundesregierung getroffenen Neuregelungen für forcierte Abschiebungen stehenden – Ankündigung, mehr Geflüchtete aus Afghanistan in „sichere Landesteile“ ihrer Heimat zurückzuschicken und ihnen die Teilnahme an Integrationskursen zu verweigern. Das stand in schroffem Gegensatz zu dem Festhalten der Bundesregierung am eingeschränkten und zuletzt sogar wieder verstärkten Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr und zur Nachricht der deutschen Botschaft in Kabul, dass das Leben in Afghanistan im Zeichen des neuerlichen Vorrückens der Taliban immer gefährlicher werde, weshalb Abschiebungen derzeit kaum möglich seien.

Das Land „versinkt in einem Chaos aus Korruption und Gewalt“, kritisierte die Hilfsorganisation Pro Asyl: „Auf sichere Landesteile zu verweisen, wie de Maizière dies getan hat, stellt eine Verhöhnung der vielen afghanischen Binnenflüchtlinge dar.“

Der Minister aber hatte seine Abschiebungsinitiative für Afghanen, die im Herbst 2015 die zweitgrößte Gruppe der eintreffenden Flüchtlinge stellten, mit einer Begründung versehen, aus der eine für einen Ressortchef mit Leitungskompetenz in migrations- und asylpolitischen Fragen erstauliche Inkompetenz im Blick auf Migrationsprozesse zu sprechen schien: „Millionen Euro an Entwicklungshilfe“ seien nach Afghanistan geflossen, erklärte de Maizière. Ergebnis dieser Bemühungen könne dann doch „nicht sein, dass verstärkt Menschen das Land verlassen“.

Abgesehen von seiner mangelnden Kenntnis über die konkrete Lage in Afghanistan hatte der Minister offenbar auch noch nie etwas von dem in der internationalen Migrationsforschung gängigen Topos des nur scheinbar paradoxen ‚Migrationsbuckels‘ im Wanderungsverhalten gehört. Dieses Paradox dürfte aber auch wenig in sein oft binär wirkendes Denken passen, in dem nicht sein kann, was ordnungspolitisch nicht vorgesehen ist:

Zugewinne bzw. Einkommenssteigerungen, zum Beispiel durch oft konventionelle ‚Entwicklungshilfe‘, werden in ‚Entwicklungsländern‘ oft zuerst in Migration investiert, um an den Quellen des Reichtums selbst zu teilzuhaben. Dieses Paradox nennt man in der wirtschafts- und politikwissenschaftlichen Entwicklungsforschung einen ‚Migrationsbuckel‘. Er nimmt erst ab, wenn das Durchschnittseinkommen auf ein anhaltend hohes Niveau steigt und es Perspektiven für eine weitere Besserung der wirtschaftlichen Lage im Ausgangsraum gibt.

Nicht minder auffällig, zumindest ungewöhnlich ungeschickt, waren in der ersten und blieben auch in der zweiten Amtsperiode des Bundesinnenministers gelegentlich Verlautbarungen gegenüber den Medien: Ein Beispiel dafür war die Presseinformation am 13. September 2015, mit der er, erstaunlicherweise ohne Nachfragen von Journalisten zuzulassen, einen ebenso abrupten wie grundlegenden, später wieder relativierten Kurswechsel in der Asyl- und Grenzpolitik verkündete, was ihm als angeblichem ‚Problemfall‘ der Bundesregierung sogar Rücktrittsforderungen des Koalitionspartners SPD eintrug.

Ein anderes Beispiel war seine Unruhe stiftende, ausdrückliche Nicht-Begründung der Absage des Fußball-Länderspiels Deutschland/Niederlande in Hannover unmittelbar vor Spielbeginn am 17. November 2015 im Schatten der Pariser Terroranschläge vom 13. November 2015: Bei der Verweigerung jedweder Auskunft über die offenbar akute Gefahrenlage stellte er nicht etwa die oft üblichen kriminaltechnischen Erwägungen in den Vordergrund; er überbrachte vielmehr die Aufsehen erregende Information, dass ein Hinweis auf die Informationsquelle „die Sicherheit des Landes“ gefährden würde, verbunden mit der im Gegensatz zur bekundeten Absicht umso mehr Besorgnis erregenden Befürchtung: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung beunruhigen.“

Derlei diffuse Gefahren- und Feindbildbeschwörungen entsprangen zum einen vielleicht dem Mangel an Gespür für die gesellschaftspolitische ‚Sprengkraft‘ solcher Botschaften vor dem Hintergrund der in den Medien omnipräsenten Bedrohungskulissen. Sie waren zum anderen aber wohl auch ein ungewöhnlich vordergründiger Versuch, weiter geplante ‚Sicherheitsmaßnahmen‘ und Gesetzesänderungen zur Aufrechterhaltung der ‚Ordnung‘ medial vorzubereiten.

In seiner zweiten Amtszeit als Bundesinnenminister trat de Maizière zuletzt erneut und noch stärker als in seiner ersten Amtsperiode, mit auffällig mäandernden sicherheitspolitischen Argumentationslinien, widersprüchlichen und defensiven Positionswechseln in Sachen deutscher und europäischer Flüchtlings- und Asylpolitik hervor.

Die ‚Flüchtlingskrise‘ als Krise von BAMF, BMI und de Maizière

Wechselhaft oder widersprüchlich wirkende Positionierungen des Bundesinnenministers de Maizière in der Asyl- und Flüchtlingspolitik erregten vielfach Irritationen und führten zu immer wieder anschwellender Kritik an seiner Amtsführung. Den Höhepunkt erreichte diese Krise in de Maizières zweiter Amtsperiode vor dem Hintergrund der zunehmenden politischen und öffentlichen Kritik an dem monströsen Asylverfahrensstau im Nürnberger Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das dem BMI und damit de Maizière untersteht.

Die Kritik am BAMF verschärfte die Kritik an der Asylpolitik der Bundesregierung insgesamt. Die Bundeskanzlerin sah sich genötigt, dem Bundesministerium des Innern die Koordination der Flüchtlingspolitik zu entziehen und damit den Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes, Peter Altmaier, zu betrauen. Diese überraschende, hastig und – zum Beispiel im Blick auf das Verbleiben des für die Flüchtlingsverwaltung zentralen BAMF beim BMI – inkonsequent wirkende Verschiebung zentraler Zuständigkeiten wurde in den Medien vor allem als ‚Entmachtung‘ de Maizières diskutiert, der weiter unter öffentlichem und auch politischem Druck blieb.

Es wirkte deshalb weniger wie ein personaler Zufall und eher wie ein personalpolitischer Schachzug, dass der erst vor wenigen Jahren berufene, aus dem BMI selbst stammende zweite Präsident des BAMF, Manfred Schmidt, angeblich „aus persönlichen Gründen“ zurücktrat. Kritiker der Opposition aber auch aus den Reihen der Union und des Koalitionspartners SPD vermuteten dahinter einen „Winkelzug des Innenministers“ zu seiner Entlastung in der Krise und damit ein neuerliches „klassisches Bauernopfer“ (Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Grüne).

Manche Beobachter fühlten sich offenbar erinnert an den Fall des Staatssekretärs Stéphane Beemelmans in der für den damaligen Bundesverteidigungsminister de Maizière am Ende seiner Amtszeit in diesem Ressort sehr gefährlich gewordenen Krise um Wissen oder Nichtwissen über die milliardenschweren Fehlinvestitionen in der ‚Euro-Hawk-Affäre‘: Die Folgen trafen nicht den zurück ins BMI wechselnden de Maizière, sondern seinen im Bundesverteidigungsministerium zurückbleibenden Staatssekretär Beemelmans, der von de Maizières Nachfolgerin Ursula von der Leyen bald in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurde.

Anstelle des zurückgetretenen BAMF-Präsidenten Manfred Schmidt setzte die Bundeskanzlerin als neuen BAMF-Leiter in Doppelfunktion den Präsidenten der Bundesagentur für Arbeit Frank-Jürgen Weise ein. Auch das hinderte de Maizière nicht daran, weiterhin mit Statements oder Entscheidungen hervorzutreten, die weder mit dem Flüchtlingskoordinator Altmaier noch mit dem neuen BAMF-Leiter Weise oder der Kanzlerin selbst abgestimmt waren, die gleichwohl demonstrativ an ihm festhielt („Ich brauche ihn mehr denn je!“).

Dazu gehörten, um nur drei Beispiele zu nennen, die im November 2015 bekannt gewordenen Entscheidungen des Bundesinnenministers vom 21.10.2015, bei Geflüchteten aus Syrien auf zwei Jahre den Familiennachzug auszusetzen, auch bei Ihnen zum Dublin-Verfahren (Rückverweis an die Erstzugangsländer) und anstelle ihrer bisher praktizierten, mehr oder minder pauschalen Anerkennung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zur Einzelfallprüfung zurückzukehren. Das wirkte wie ein Gegenentwurf zu den ansonsten vielbeschworenen Bemühungen um eine möglichst zügige Integration der Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien und war überdies gleichbedeutend mit einer schweren Zusatzbelastung des ohnehin extrem eingespannten und auch unter seiner neuen Leitung weiter in der Kritik stehenden Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge.

Umso mehr war im Bundestag und in den Medien von de Maizières „Zickzack-Kurs in der Flüchtlingspolitik“ und über ein vom Bundesministerium des Inneren ausgelöstes „Kommunikationsdesaster“ die Rede. Die ansonsten sehr pragmatische, eher für zurückhaltende Urteile bekannte Integrationsbeauftragte der Bundesregierung und stellvertretende SPD-Vorsitzende Aydan Özoguz, die Staatsministerin im Bundeskanzleramt ist, sprach sogar davon, dass durch de Maizière „die Abläufe fast täglich chaotisiert“ würden.

Während über die „Chaos-Tage“ der CDU/CSU in Berlin diskutiert wurde, wies die parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, Christine Lambrecht, darauf hin, dass mit der Rückkehr zur Einzelfallprüfung bei den aus Syrien Geflüchteten „das Bundesamt für Migration lahmgelegt“ werde. Und im Blick auf die Wiederaufnahme des Dublin-Reglements werde zugleich eine irritierende „Phantomdiskussion“ geführt, weil auch Wochen nach der neuen Anordnung de Maizières gerade einmal vier Geflüchtete in ein anderes EU-Land zurückgeschickt worden seien. Das alles sei „sehr ärgerlich“ und lasse nicht erkennen, wer in der Union derzeit „die Zügel in der Hand hält“, weshalb sich die Bundeskanzlerin „Fragen nach der Richtlinienkompetenz“ gefallen lassen müsse.

Der hessische SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel erklärte, der Bundesinnenminister trage allein die politische Verantwortung für die aktuellen Zustände, vor deren Hintergrund nun auch der neue Leiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge unter Druck geraten sei: De Maizière könne „sich nicht hinter Herrn Weise verstecken.“

Der Bundesinnenminister parierte mit einem von der Kritik an seiner Amtsführung ablenkenden Ausbruch nach vorn, hielt als oberster Dienstherr demonstrativ seine schützende Hand über das BAMF, über dessen neuen Chef Weise und seine Mitarbeiter. Er nahm die Behörde in Schutz und mahnte zur Geduld, nachdem er vorab seine allenthalben kritisierte „Rolle rückwärts“ scheinbar gelassen mit dem ordnungspolitischen Hinweis kommuniziert hatte, man habe die Entscheidungen von Oktober nicht weiter kommuniziert, weil es nur darum gegangen sei, „zu geordneten Verfahren zurückzukehren“.

Ein neues Zentralressort für Migration und Integration?

In summa hatten die Bundesminister des Innern und ihr Ressort nach langen, schwerwiegenden und folgenreichen Erkenntnis- und Handlungsblockaden zwar wesentlichen Anteil an den neueren migrations-, ausländer- und aufenthaltsrechtlichen sowie staatsangehörigkeitsrechtlichen Reformschritten, für die insbesondere die Namen Wolfgang Schäuble und Otto Schily stehen. Integrationspolitisch und im Blick auf die Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa aber wirkte das BMI oft polarisierend und retardierend durch seine einseitige Orientierung an den Leitperspektiven von Sicherheitspolitik bzw. Gefahrenabwehr.

Das galt auch für das jenseits von Schäubles Deutscher Islam-Konferenz immer wieder beschworene Feindbild ‚Islam‘. „Brandsätze bestehen aus Salpeter, Schwefel oder Phosphor, aus Benzin, Heizöl und Schwefelsäure; wenn das Zeug in Flaschen abgefüllt ist, nennt man es Molotowcocktail“, schrieb Heribert Prantl Mitte Dezember 2014 im Blick auf einen Brandanschlag in Mittelfranken, auf islamophobe Agitation im „Pegida-Fieber“ (S. Teune) und politische Verstehensbekundungen gegenüber in Angst und Wut geratenen Bürgern.

„Es gibt auch noch andere brandgefährliche Cocktails, die nicht aus Benzin hergestellt werden, sondern, und dies in aller Öffentlichkeit, aus hetzerischen Reden, aus Reden gegen Muslime, gegen Flüchtlinge und Asylbewerber. Solche Brandsätze werden in der ganzen Republik gemischt, auch auf den Demonstrationen, in denen gegen die ‚Islamisierung‘ agitiert wird. Die Agitationscocktails sind noch gefährlicher als Molotowcocktails, weil sie an vielen Stellen gleichzeitig hochgehen können.“

Als sich die verschreckten Innenminister des Bundes und der Länder nach Überwindung der ersten Schockstarre im Dezember 2014 trafen, um über den Umgang mit der von Dresden weiter ausgreifenden Bewegung der ‚Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes‘ (Pegida) und über die Zunahme fremdenfeindlicher und insbesondere ‚asylkritischer‘ Emotionen und Attacken zu beraten, konnte darüber nicht zu Unrecht unter der Schlagzeile berichtet werden: „Innenminister tagen über die Geister, die sie riefen“.

Die Konzentration der Aufgaben in den Bereichen Migration und Integration, Flucht und Asyl im Bundesministerium des Innern hat dazu geführt, dass die hier meist dominierenden Perspektiven von Sicherheitspolitik und Gefahrenabwehr auch in diesen Gestaltungsbereichen in den Vordergrund rückten, während, von Ausnahmen abgesehen, die wichtigen Dimensionen von Integrations- bzw. Inklusionspolitik als teilhabeorientierter Gesellschaftspolitik durchaus zweitrangig erschienen. Strategische Konzepte für die Zukunft der Migrations- und Einwanderungsgesellschaft unter den – auf Grund von zahlreichen wissenschaftlichen Studien mit fortgeschriebenen Trendbeobachtungen und alternativen Modellrechnungen – erwartbaren Rahmenbedingungen blieben aus.

Das gleiche galt für die in der weiteren Öffentlichkeit, aber auch von Sachkennern immer wieder eingeforderten Gestaltungskonzepte für die sogenannte Flüchtlingskrise. Stattdessen dominierte auch hier ein ordnungspolitisches Denken, das in eine Art geistige Parallelwelt eingesponnen schien, der als befriedigend galt, was in geordneten Bahnen verlief, was indes gerade im Blick auf die Massenzuwanderung von Flüchtenden immer weniger der Fall war.

All das sollte Anlass sein, dem Bundesministerium des Innern zwar nicht die notwendige weitere Mitwirkung, aber doch die zentrale Zuständigkeit für die Bereiche Zuwanderung und Integration zu entziehen. Sie könnten, wenn kein neues Ministerium für Migrations-, Integrations- und Flüchtlingsfragen eröffnet kann, zum Beispiel auch dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales übertragen werden, wo sie im Blick auf die hier besonders wichtigen Arbeitsmarkt- und Gesellschaftsbezüge sicher besser aufgehoben wären als im BMI.

Das BMI hätte, zum Beispiel in Grenzschutzfragen, dann immer noch genug mit Migrationsfragen zu tun, nun aber wohl weniger als Teil des Problems und mehr als Teil seiner Lösung. Insoweit bleibt zu hoffen, dass die im Herbst 2015 geschaffene, wenn auch noch unvollkommene Bündelung zentraler Aufgaben im Bereich der Aufnahme und Integration von Geflüchteten im Bundeskanzleramt nur ein Zwischenschritt auf diesem Weg sein möge.

  1. Bundesinnenminister waren in der Amtsfolge: Friedrich Zimmermann (CSU) 4.10.1982–21.4.1989; Wolfgang Schäuble (CDU) 21.4.1989–26.11.1991; Rudolf Seiters (CDU) 26.11.1991–7.7.1993; Manfred Kanther (CDU) 7.7.1993–26.10.1998; Otto Schily (SPD) 27.10.1998–22.11.2005; Wolfgang Schäuble (CDU) 22.11.2005–27.10.2009; Thomas de Maizière (CDU) 28.10.2009–3.3.2011; Hans-Peter Friedrich (CDU) 3.3.2011–17.3.2013; Thomas de Maizière (CDU) 17.3.2013 (amtierend).