Soziale Grammatik

Von dem „Türken“ und dem Narrativ „Bei uns ist das aber so!“

Was macht den ehemaligen Gastarbeiter heute zum Muslim? Was bewirkt der Begriff Integration? Und darf ein Mensch nur bestehen, wenn er nutzt? Sebastian Prothmann über die soziale Grammatik der Diskurse und ihre Folgen.

„Deutsche Kartoffel“, „Opfer“, und, auf der anderen Seite „Ausländer“, „Türke“ oder „Moslem“ sind häufig wiederkehrende Ausrufe an deutschen Schulen. Das sind harte Worte, suggerieren sie doch unter Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft selbst ausgemachte, ja konstruierten Grenzziehungen, obgleich der vielen Gemeinsamkeiten. Abgrenzung, oder aber der vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu verwendete Begriff der Distinktion, also die bewusste Abgrenzung von Angehörigen einer bestimmten sozialen Schicht oder Gruppierung, sei es im Zusammenhang von Klassen, Jugendkulturen oder Religionsgemeinschaften, oder anderen, ist ein wichtiges Merkmal von Jugendlichkeit. Ja anders sein als die Eltern, oder aber: Bitte nicht so wie die „Alten“ werden. Juvenile Lebenswelten konstituieren sich damit oft in der Verletzung tradierter Gesellschaftsregeln, die von den Eltern vermittelt werden.

Bei jungen Deutschen, deren Eltern aus anderen Ländern einst nach Deutschland kamen, ist zumeist eine Mehrfach-Abgrenzung zu beobachten. Bei ihnen kommt neben der Grenzziehung zum Elternhaus häufig noch die Abgrenzung zur „deutsch-deutschen“ Mehrheitsbevölkerung hinzu. Dabei versucht der außenstehende Beobachter gerne die Probleme simplistisch auf Widersprüche zwischen tradierten Vorstellungen einer als kulturfremd, ungebildeten und muslimischen Bevölkerungsschicht zu schieben, die angeblich nicht klarkäme mit den modernen Normen der „tonangebenden“ „indigenen“ Gesellschaft, dessen Einheimische sich als seine Ordnungshüter sehen. Dies führe, folgen wir diesem Argumentationsstrang, dazu, dass innerfamiliäre Generationskonflikte in Migrantenfamilien überhöht werden, Jugendliche aus diesen Familien verstärkt unter Orientierungslosigkeit leiden, dessen Folge abweichendes Verhalten ist. Das klingt fast so, als ob nur der Jugendliche mit diasporischem Bezug ein abweichendes Verhalten an den Tag legen würde, was natürlich in keinerlei Weise der Realität entspricht.

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Das Problem ist wesentlich komplexer gelagert. Es sind aber genau diese stereotypen und kulturalistisch konstruierten Argumentationsmuster, die in die Hände der „Ordnungshüter“ der „indigenen“ Gesellschaft spielen, und es ihnen ermöglichen, jedwede Verantwortung von sich auf die vermeintlich „Anderen“ und deren kulturfremde Elternhäuser zu schieben. Damit wird faktisch die Komplexität des Problemgelages umgangen und verdrängt. Verschwiegen wird nämlich, dass Probleme häufig hausgemacht sind, und auch ganz viel mit deutschen Institutionen zu tun haben. Gerne werden die Langzeit-Folgen eines restriktiven Ausländerrecht und einer jahrzehntelangen Verweigerung von Verantwortung gegenüber Arbeitsmigranten, die mitunter unser Land aufgebaut haben, ignoriert. Es ist das restriktive Ausländerrecht, welches insbesondere einer konsistenten Zukunftsplanung und einer damit verbundenen langfristigen Orientierung von Zuwanderern große Hürden in den Weg legt, was mitunter auch schwerwiegende Folgen für ihre Kinder und deren Identitätsausbildungen mit sich bringt. Besonders schwierig bei Kindern mit diasporischen Bezügen, aber fundamental wichtig, leidet der Erwerb von Sekundärtugenden darunter. Denn in Haushalten, in denen ein Erwerbsleben in niederen, zeitaufwendigen und prekären Arbeiten dominiert, und sich familiäre Kommunikation aufgrund schwieriger Arbeitszeiten auf ein Minimum reduziert, was auch die familiäre Freizeitgestaltung erschwert, ist das Resultat häufig eine emotionale Vernachlässigung des Kindes, was unter anderem dazu führt, dass sich das Kind seine Identitätsangebote woanders holt, als in der Familie.

Das in linksliberalen gerne postulierte postnationale und multikulturelle Leben hat in vielen Familien mit diasporischen Bezügen nichts mit der Realität zu tun. Zu sehr sind diese Opfer einer Produktion der „Andersartigkeit“, was eine Argumentation darstellt, die aus einer herrschenden gesellschaftlichen Schicht, die in monokulturellen Identitätskonzepten verhaftet ist, kommt. Genau, diese in monokulturellen Kategorien verschränkte Sichtweise, die auf ein ethnisches Singular ausläuft, assoziiert gerne eine bestimmte Herkunft mit einer bestimmten Religion. Dies wirkt sich nicht nur konstituierend auf die deutsche Integrationspolitik aus, sondern vielmehr auch auf die einfache Zivilgesellschaft. Es ist genau dieser Prozess, der den ehemaligen Gastarbeiter zum Muslim macht, und die paar Italiener, die vor dreißig Jahren noch gerne zum „Spaghettifresser“ degradiert wurden, und Griechen auf eine kulinarische Bereicherung eines nach Fremden und doch Bekannten, sprich Pizza, Spaghetti und Gyros, gierenden Gaumen reduziert. Schnell transformiert sich die Integrationsdebatte zu einer Islamdebatte, teils sogar zu einer Kopftuchdebatte. Geht es um Integration, geht es um Moscheen, Zwangsheirat und das Kopftuch. Der deutsche Diskurs versucht in das Leben der muslimischen Frau einzugreifen, als ob sie sich nicht selber artikulieren könnte. Was sie natürlich kann! Doch soll ihre Stimme im Diskurs gehört werden? Lieber nicht… Es ist ein Diskurs, der in Deutschland Türken und Araber automatisch zu Muslimen macht, was in den Niederlanden mit den Marokkaner und Türken in ganz ähnlicher Weise geschieht, in Großbritannien die Pakistaner betrifft, und in Frankreich die Algerier. Es wird eine Grenzziehung zwischen einer angeblich christlich-abendländisch und säkularisierten Kultur und einer muslimisch-okzidentalen Kultur konstruiert, und jeder Mensch mit diasporischem Bezug wird geandert und islamisiert. Letztere sind die, die anders, ja fremdländisch, aussehen, eine andere Sprache sprechen, sich vielleicht auch anders verhalten. Darunter fallen aber dann auch Menschen, die über perfekte deutsche Sprachkenntnisse verfügen, eben weil sie „anders aussehen“.

Die beliebte Frage nach der Herkunft der „Geanderteten“ dient dem Bedürfnis der Klärung der Beziehung, der Einordnung, und ist damit Ausdruck von Hierarchie-Denken einer alteingesessenen Schicht, die man vielleicht als die „alten“ Deutschen bezeichnen könnte. Der Terminus „Ausländer“ ist nach der Soziologin Annette Treibel-Illian demnach ein Beziehungsbegriff. Gerne werden die angeblich „Anderen“ auch einfach mal pauschal unter Verdacht gestellt sich von der Mehrheitsgesellschaft zu separieren. Aber grenzen sich nicht einfach beide Seiten voneinander ab, und nur die eine Seite wird beschuldigt?

Auch Mehrfachidentitäten sind diesem Diskurs fremd. Deutsch und Türkischsein funktioniert nicht, es wird als Gegensatzpaar betrachtet, und im allerbesten Falle sollte eine Identität aufgegeben werden. Das führt unter anderem dazu, dass ein Teil der als „Ausländer“ gesehenen jungen Deutsche sich übermäßig mit der Herkunft ihrer Eltern identifizieren, die sie jedoch nur aus Urlauben kennen. Der Rückgriff auf die Religion ist dabei keine Seltenheit. Denn für viele Jugendliche bietet der Islam eine Art Heimat, die Würde und Identität beinhaltet, und Jugendliche mit Werten positivem Menschentum ausstattet, auch wenn sie gesellschaftlich desintegriert sind oder aber in keiner guten beruflichen Position sind oder nur über eine mangelnde Ausbildung verfügen. Es sind auch diese Jugendlichen, die sich durch ein hohes Maß an Eigeninterinterpretation von Religion auszeichnen, eben Abgrenzung, ganz im Sinne juveniler Distinktion und Rebellion. Durch die Abgrenzung zur traditionellen Herkunftsgesellschaft, verbunden mit einer Entfremdung zur Aufnahmegesellschaft, kommt es zu einer Heterogenisierung des Islams, welche manch einen Jugendlichen dazu verleitet, sich über neue religiöse Diskursgemeinschaften zu definieren. Dabei stößt das Gefühl der Ablehnung, und ihre angebliche Andersartigkeit, insbesondere durch die Religion, dazu, dass ein Teil von ihnen sich exklusivistischen und utopischen Weltanschauungen widmen, einer Religiosität also, die mitunter stark verbunden sein kann mit Heilserwartungen.

Wo die Leute herkamen, weiß indes niemand so wirklich. Denn hinter dem Türken, der für die Türkei steht, oder dem Italiener, der für Italien steht, stehen ja Einwanderer aus ganz bestimmten Regionen ihrer Herkunftsländer. Kamen die Griechen zumeist aus dem agrarischen Norden Griechenlands und Zentralgriechenland, so kamen die Türken aus Zentralanatolien und Ostanatolien, die Spanier aus Südspanien (Andalusien) und Nordwestspanien (Galicien), die Portugiesen aus Nordportugal (insbesondere Trás-os-Montes e Alto Douro), die Marokkaner aus den Bergbaugebieten im Norden Marokkos, die Tunesier aus allen Teilen, viele aber auch aus dem „armen“ Norden Tunesiens, und die Jugoslawen zu großen Teilen aus Serbien. Gerade vor diesem Hintergrund wirkt das angenommene Postulat des typischen Türken oder Griechen ziemlich merkwürdig. Was kann mir denn ein Deutscher ostanatolischer Herkunft über die Marmararegion im Nordwesten der Türkei erzählen, oder ein Deutscher sizilianischer Herkunft über die Lombardei in Norditalien?

Die Zuschreibung religiöser Identität ist die Lieblingsspielart der Kulturalisierung. Letztere heißt, in einer ganz vereinfachten Version, dass eine kausale Beziehung zwischen Herkunft einer als homogen gedachten sozialen Gruppe und ihrem Handeln besteht. Kultur als Zwangskorsett sozusagen. Die „Anderen“ werden ihrer Heterogenität entzogen, entindividualisert und bekommen allzu häufig damit auch ein negatives Label aufgedrückt. Das negative Label wird zumeist so konstruiert, dass es konfliktuell auf die vorherrschenden Normen der Aufnahmegesellschaft trifft, ja, aufstoßen muss. Damit einher geht eine Infantilisierung und Entmündigung von Menschen mit Herkunftsgeschichte. Diese Kulturalisierung ist genaugenommen die Grundlage, bestimmte Gruppen anders zu behandeln. Sie ist den „Ordnungshütern“ einer angeblich von Fremden bedrohten deutschen Gesellschaft hilfreich, weil sie die Lebenswelten und Einstellungen von Einwanderern und deren Kinder, die viel zu heterogen und komplex sind, als dass sie ein einfacher „Deutscher“ ohne diasporischen Bezug auch nur im Ansatz verstehen könnte, aus einer Außenperspektive zu einer stimmigen Einheit formiert. In der Regel ist dies eine Einheit kollektiver Negativzuschreibungen, die Menschen migrantischer Herkunft vorab verurteilt ohne sie zu kennen, und ohne auf ihre tatsächlichen Alltagspraxen Rücksicht zu nehmen. Sie werden damit unberechtigt fundamentalistischer, sexistischer und autoritärer Grundhaltungen verdächtigt.

Es sind diese konstruierten Feindbilder, mit denen die Debatte zu arbeiten versteht, welche den Eigensinn von Menschen mit diasporischen Bezügen negiert. Die Handlungen dieser Menschen werden in einem solchen imaginierten funktional-kulturalistischen Zusammenhang gesehen, dass Normenabweichungen ständig auffallen. Da der Kulturalisierungsansatz ihre Sonderstellung kontinuierlich unterstreicht, wird bei Menschen mit Zuwanderergeschichte jede Normenabweichung kritisch beäugt. Aus diesem kulturalisierenden Blick wird beispielsweise dem Türken, als muslimisches Objekt per se konstruiert, jeglicher Genuss von Hopfen vergönnt. Dieser Blick leistet aber auch Legitimation, einer ganzen Nation mangelnde Leistungs- oder Arbeitsbereitschaft vorzuwerfen. Diesen Menschen wird also jegliches politisches und kulturelles Selbstbestimmungsrecht genommen. Damit etablieren sich kulturalistisch vorgestellte Rangordnungsgrenzen in der Aufnahmegesellschaft. Erst in dieser Rangordnung haben dann auch Ausdrücke wie „Leitkultur“ ihren berechtigten Platz. Denn in einer solchen Konstellation ist es dann auch möglich, von einer leitenden Kultur zu sprechen, die sozusagen andere Kulturen, die als defizitär bewertet werden, an die Hand nimmt.

Jugendliche werden häufig mit einem Konglomerat von Zuschreibungen „beworfen“. Sie, die in Deutschland geboren und sozialisiert sind, werden oft von der Mehrheitsgesellschaft als „die Türken“ gesehen. Dies veranlasst manch Einen sie als Experten für die Türkei oder die türkische Kultur, die es logischerweise nicht gibt, zu sehen. Daraus resultiert häufig die Reaktion, die sich unter dem Begriff der Selbstethnisiernung zusammenfassen lässt, und eine Konsequenz aus Zusammenspiel von Zuschreibung, Anerkennung und Selbstverortung darstellt. Das heißt für Jugendliche, dass sie an sie herangetragene Zuschreibungen mit vermeintlichen türkischen Elementen aufzufüllen versuchen und dann sagen „Bei uns ist das aber so!“. Doch da diese jungen Leute in den meisten Fällen die Herkunftsgesellschaft ihrer Eltern nur schlecht oder in begrenztem Maße kennen, helfen sie sich mit der Konstruktion kultureller Elemente aus. Sie bilden damit eine dritte Kultur. Diese dritte Kultur sehen sie als ihre ethnische Identität, die neben der Religiosität, enorm wichtig ist für eine Person, die in ständiger Auseinandersetzung mit kulturalisierenden Bildern konfrontiert wird, und wichtige soziale Funktionen und ihnen eine symbolische Zugehörigkeit anbietet.

Den Ihnen entgegengebrachten Bildern und Zuschreibungen wollen Jugendliche nicht entsprechen. In materiell prekären Lebensbedingungen definieren sich einige Jugendliche über symbolische Statusevidenzen, Kleidung, Handy, oder auch im jungen erwachsenen Alter über ein entsprechendes Auto. Einige Jugendliche deuten Bildungsdistanz um in Coolness. In ihren prekären Milieus geht es um ein spektakuläres Leben, schnelles Geld, und den Wunsch nach sozialer Größe. Das kann eine „normale“ Schullaufbahn ihnen nicht bieten. Auch wollen sie nicht wie ihre Eltern einen alten Ford oder Opel fahren, sondern prestigeträchtige „deutsche“ Marken wie BMW oder Mercedes besitzen, einige streben aber auch nach Wohnungseigentum. Gerade das ist wohl auch das, womit die „Indigenen“ nicht gerechnet haben, ja, sich vielleicht bedroht fühlt. Damit verbunden, ist die Anerkennung von deutschen Jugendlichen mit diasporischen Bezügen und deren Ressourcen wie Bilingualität (in manchen Fällen auch Trilingualität oder gar Multilingualität), familienzentrierten Werte, eine hohe physische Robustheit, hohe Flexibilität durch eine Kompetenz situativer Verortung von Zugehörigkeiten, Frustrationstoleranz und eine erhöhte Ambiguitätstoleranz, vielleicht auch ein eher schwieriges Unterfangen. Wahrscheinlich eben weil die bisher „tonangebende“ einheimische Gesellschaft eine Verschiebung von alt eingesessenen Machtdifferenzialen befürchtet.

Auf die Kulturalisierung folgt gerne der inflationär und meist ohne nähere Erklärung verwendete Begriff der Integration. Die Integrationsfloskel, darunter verbirgt sich insgeheim ein einseitiger regulativer Terminus. Er ist ideologisiert, mit Macht und Hierarchien aufgeladen, und Kampfbegriff in öffentlichen Debatten. Integration ist kein Angebot auf freiwilliger Basis, sondern ist vielmehr ein nationalpädagogisches Machtinstrument für eine kulturelle „Neu“-Sozialisierung von den als zu integrierenden Objekten deklassierten Migranten außereuropäischer Herkunft. Denn EU-Bürger sind davon nicht betroffen. Letzter gehören sozusagen zu den „kulturnahen“ Bürgern. Worum geht es?

In erster Linie kann ein solcher Begriff der bestmöglichen kapitalistische Verwertung der „Anderen“, also der nationalen Interessen- und Bedürfnisbefriedigung, Vorschub leisten. Integration ist darin eine Art fordernder Appell, ein kategorischer Imperativ wenn man so will, dass sich bestimmte Menschen so zu integrieren haben, damit ihr ökonomisches Potenzial bestmöglich ausgeschöpft werden kann, dass sie sich also ohne langes Zetern in eine kapitalistische Wertschöpfungskette eingliedern. Denn, sonst munkelt man, könne der Mensch mit diasporischem Bezug zu einem von Sozialleistungen lebenden Objekt werden, für den der deutsche Steuerzahler herhalten muss, und dem man mit repressiven Sanktionsinstrumenten Einhalt gewähren muss. Dieses marktförmige Denken in kulturalisierenden Kategorien geht so weit, dass Deutsche mit Herkunftsgeschichte ständig Nachweise über ihren wirtschaftlichen Nutzen erbringen müssten, um ihre Präsenz zu legitimieren. Darf denn ein Mensch nur unter marktwirtschaftlichen Prinzipien bestehen? Junge Menschen mit migrantischer Abstammung sollten also besser eine Erfolgsbiografie vorweisen, um einer Stigmatisierung zu entgehen. Die Idee der Integration macht einen Unterschied zwischen angeblich integrationswilligen und integrationsunwilligen Menschen. Er stellt die einheimischen Deutschen als Kollektiv der Leistungsträger, in ein fleißiges „Wir“ dar, dass diese auch nicht zu beweisen haben, und diejenigen, die sich diesem Kollektiv nicht unterwerfen, als Leistungsverweigerer, denen man jegliche Selbstverantwortung abspricht, als die faulen „Anderen“. Kulturelle Anpassungsfähigkeit wird auf diese Weise zu einem Kriterium zur Vergabe von Aufenthaltstitel und Bleibeperspektiven, mitunter auch zu einem entscheidendem Kriterium für eine Abschiebung. Aber dieses „Wir“ wird auch nicht weiter definiert, bleibt also sehr vage. Ist es vielleicht die fränkisch-germanische Bevölkerung des Mittelalters? Keiner weiß das so genau. Hauptsache ist jedoch, dass die „Neuen“, die da kommen, oder bereits seit langem hier leben, so werden soll wie dieses undefinierte „Wir“.

Irgendwann Ende der 1970er Jahre kam dann auch das Wort Multikulturalismus auf. Fortan wurde es als Zauberwort in Migrations- und Integrationsdebatten gehandelt. Doch das Nebeneinander von als homogen imaginierter Kulturen wurde in der Zivilgesellschaft eher ambivalent aufgenommen. Für die Einen Feindbild, die Angst haben, etwas Eigenes verlieren, eine vermeintlich deutsche Kultur, für die Anderen eine Bereicherung. Aber auch der Gedankengang der Bereicherung folgt vielmehr einem reduzierten kulturalisierenden Denkmuster, in den meisten Fällen in Form einer gustatorisch-kulinarischen Bereicherung, beschränkt auf den Speisezettel kulinarischer Diversität. Die verengende monokulturalistische deutsche Denkweise basiert auf einem preußisch-wilhelminischen kolonialen Verständnis von Deutschlands als einem Nicht-Einwanderungsland, die jede Kultur als „anders“ sieht, und zwischen kulturnahen und kulturfremden Zivilisationen unterscheidet. Damit gibt sie den Medien den fertilen Grund, den Begriff des Multikulturalismus, relativ problemlos, mit medialen Inszenierungen von Parallelwelten, jugendlichen Kriminellen mit Migrationshintergrund und Ghettos zu unterwandern. Konstruierte Repräsentationen also, um die ein negatives semantisches Feld aufgebaut und definiert wird, das von Vielen, obgleich es nur fetzenhafte Realitätsausschnitte sind, auf ganze Gemeinschaften übertragen wird. Stadtviertel werden so einfach zu Problemzonen und Brennpunkten ernannt, als defizitäre Orte verklärt, die von der Mehrheitsgesellschaft abweichen. Raumideologisch gesehen werden so panische Orte geschaffen, Orte der Unordnung, der Regellosigkeit und Zügellosigkeit, die vom normalen Standard abweichen. Ein Standard, der schwer zu fassen ist, wenn man ohnehin in einer metropolitanen Gesellschaft lebt, die per se eine Differenzgesellschaft mit Mehrfach-Identitäten ist. Ganz zu schweigen davon, dass die Politik viel zu spät reagiert hat, und bis heute nur sehr zaghaft auf die Verfestigung von Sozialspaltungen auf Quartiersebene eingeht.

In der heutigen pluralistischen Gesellschaft ist die Begegnung mit dem „Fremden“, und „Anderen“ aber auch ein Stück weit banalisiert, ist Alltag geworden. Der Alltag, dass sind sich widersprechende Normen und Werte. Damit einher ist aber auch die Neugierde, zu fragen wer dieser „Andere“ ist, verschwunden. Wir fragen uns heute nicht mehr, woher jemand kommt, und verlassen uns gerne auf das, was andere sagen. Wir trauen den verallgemeinerten Meinungen von Dritten und Medien, um uns selber nicht mit dem Thema zu befassen. Vergessen werden dann schnell, wieviel Gemeinsamkeiten wir mit den „Anderen“ eigentlich haben.

Zum Schluss…

Ist es nicht äußerst befremdlich, ja, extrem problematisch, in der hybriden Gesellschaft von heute mit essentialistischen Kulturverständnissen zu hantieren, die zwischen einem ordnungshüterischen „Wir“ und einem zu integrierenden „Anderen“ unterscheiden, dabei beide Kollektive bis aufs äußerste homogenisiert, sie auf ganz bestimmte Eigenschaften fixiert und reduziert, und schlichtweg die banalen aber allgegenwärtig stattfindenden Durchmischungs- und Durchkreuzungsproesse ignoriert? Schon allein, dass die Integrationsdebatte an einer Nation festhält, entspricht schon lange nicht mehr der transnationalen Realität unserer Lebenswelten, und spiegelt vielmehr eine veraltete eurozentrierte Wissensordnung. Es hat sich also in der Zivilgesellschaft ein hochproblematisch popularisierter Kulturbegriff durchgesetzt, der eine nicht zu unterschätzende normative und normierende Funktion hat, und gesellschaftliche Fragmentierungs- und Ausfranzungsprozesse schlichtweg übersieht. Die Gleichzeitigkeit von Referenzsystemen, die für viele Jugendliche Normalität ist, und das Changieren zwischen diesen für sie eigentlich kein Problem bereitet, wird aus einer monokulturellen „deutschen“ Perspektive als antagonistisch angesehen, weil sie nicht ihrem Geltungsanspruch entspricht. Man kann sich ja fragen, ob beispielsweise der Vorwurf von wechselnden Loyalitäten zwischen Herkunftsland der Eltern und Deutschland, wie es der Fall eben ist bei Jugendlichen mit diasporischen Bezügen, noch seinen Platz in der metropolitanen Differenzgesellschaft von heute hat?

Und das angebliche als Allheilmittel gepreiste Zauberwort, von welchem angenommen wird dass es alle gesellschaftlichen Probleme lösen kann, wird fast nie aus der Perspektive der Betroffenen beleuchtet. Die soziale Grammatik der Diskurse sieht Integration als „Bringschuld“ der Migranten und ignoriert damit den strukturierten Rassismus der Gesellschaft.