Paris 13/11

Jetzt – Eine große Chance?

Gerade in diesem Moment, da das Entsetzen nach dem blutigen Freitag den 13. in Paris noch groß ist, die Emotionen noch nicht abgestumpft sind, liegt unsere Chance, Globalität in ihrer ganzen Dimension zu erfassen. Von Dr. Maria Alexopoulou

Trotz des Schocks, der Trauer, der Angst nach dem blutigen Freitag den 13. in Paris, trotz der Abscheu vor dem apokalyptischen Monster „IS“, trotz der Tatsache, dass es Einwandererkinder oder als Flüchtlinge getarnte Terroristen waren, die dieses Unheil ausführten, trotz der Tatsache, dass Rechte und Nazis jetzt Europaweit jubilieren, Pegida und Co sich bei diesen neuen willkommenen Pseudoargumenten die Hände reiben, trotz der Tatsache, dass Polizisten, Grenzbeamte, Geheimdienstler und Soldaten die europäischen Real- und virtuellen Räumen im Moment in bislang ungekanntem Maße durchforsten und durchleuchten: Das „Jetzt“ könnte eigentlich eine große Chance sein.

Wir erleben eine Zäsur, eine Zeit des Umbruchs, in der das akademische Sinnieren über die Globalität unserer Lebensverhältnisse auf vielfache Weise auch für die Privilegierten dieser Welt, uns, die wir im Paradies Europa und Deutschland leben, am eigenen Leibe erfahrbar wird. Bisher konsumieren wir hauptsächlich die positiven Seiten dieser Globalität: Reisen, Nachrichten, Kulinarik, Kultur, billige Massenwaren. Die Bankenkrise, eine erste globale Kettenreaktion, ließ Deutschland eher erstarken. Der Fukushima-Schock wurde durch sofortige radikale politische Maßnahmen und spätere, weniger stark wahrgenommene Rückzugsmanöver, schnell in seinen lokalen Lehren zumindest in Deutschland abgefangen. Die Griechenlandkrise am Rande Europas hat das Machtzentrum in Berlin ebenfalls eher gestärkt.

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Die ersten ernsthaften Sorgenfalten brachten die Flüchtlinge hervor, welche Deutschland, Europa und all seine Einwohner zwangen, auf die Kriege zu schauen, auf die 60 Millionen Geflüchteten weltweit zu schauen, auf die Flüchtlingslager in der Türkei zu schauen, auf die Ertrinkenden im Mittelmeer zu schauen, auf ihre eigenen Gesellschaften und das eigene Demokratie-, Pluralismus- und Identitätsverständnis zu schauen. Es kam dabei viel Positives, aber ebenso viel Negatives zum Vorschein: Faschistoide Praktiken in Ungarn, Rechtsruck in Polen, insulare Abschottung in Großbritannien, Brandanschläge und dumpfer Populismus in Deutschland und anderswo. Gleichzeitig der Wunsch vieler Menschen in Europa und Deutschland, nicht mehr mit dem alten Muff von Rassismus, Chauvinismus und Herrenmenschen-Attitüde assoziiert zu werden, zu helfen, aktiv zu werden, sich mit den „Anderen“ zu solidarisieren.

Und jetzt der 13. November in Paris. Es wurden keine Botschaften oder Armeen, keine staatlichen Symbole oder westliche Wirtschafts- oder Finanzakteure, sondern die (junge) westliche urbane Bevölkerung angegriffen. Wir, die (junge) urbane Bevölkerung des globalen Westens realisieren jetzt noch einmal mehr schmerzlich, dass unsere heile Welt ganz leicht zu zerstören ist, dass wir, selbst wenn wir nicht bewusst in den Krieg ziehen oder gegen ihn sind, Opfer dieses Krieges werden können, dass wir, ob wir wollen oder nicht, Teil dieses schon seit langem währenden Krieges sind.

Gerade in diesem Moment, da das Entsetzen noch groß ist, die Emotionen noch nicht abgestumpft sind, liegt unsere Chance, Globalität in ihrer ganzen Dimension zu erfassen: Etwa um nun eine vage Idee davon zu bekommen, wie sich das alltägliche Leben der jungen urbanen Bevölkerung in Israel/Palästina, in der Türkei, in Syrien oder in Beirut wohl anfühlen mag. Dort und anderswo gehört diese Gefahr, die wir nun verspüren, schon länger zur Normalität. Dass es „uns“ Europäer trifft, schockiert uns besonders. Als hätte Europa und der globale Westen mit seiner kolonialen Geschichte, seinen postkolonialen und neoliberalen Politiken und Praktiken nichts mit den Zuständen im globalen Süden oder mit dem Zusammenbrauen dieses materialisierten Bösen, des „IS“, und all seinen dunklen Helfern zu tun. In Europa, dem vermeintlichen Hort der Freiheit und Demokratie, wollen wir die Infragestellung „unserer“ Werte nicht akzeptieren.

Aber wie steht es um die Prinzipien Freiheit und Demokratie global betrachtet? Kann Europa seine Werte glaubwürdig nach außen und innen proklamieren, wenn es nicht mal all seinen Bewohnern und Bürgern die gleichen Rechte – Egalité, Fraternité, Liberté – gewährt? Sind wir, die (junge) urbane Bevölkerung des globalen Westens, bereit, unsere Privilegien, die uns das globale Unrechtsregime beschert hat und die unseren nationalen Migrationsregime für uns (abgestuft, je nachdem wo unsere Eltern oder Großeltern geboren wurden) gegen die „Anderen“ verteidigen, gerade mit diesen „Anderen“ lokal und global zu teilen, um auch ihnen mehr Demokratie und Freiheit zu ermöglichen? Sind „wir“ bereit für alle Menschen lokal und global die gleichen Maßstäbe anzusetzen?

Denn für die Opfer in Ankara oder für all die Toten in Syrien und anderswo gab es keine Schweigemärsche oder Kondolenzbücher in Deutschland. Jetzt wäre die Chance, auch die Solidarität zu globalisieren und sich lautstark auch für Demokratie und Freiheit für die „Anderen“ in Europa und anderswo einzusetzen und sich nicht nur auf Paris zu fokussieren. Aber so lange wird der Schock wohl dann doch nicht anhalten.