Hallo Deutschland!

Wir, die 60 Prozent, sind auch noch da

Die Türkei hat gewählt und die Meinungsspalten in deutschen Medien sind voll mit Kommentaren zum Wahlausgang. Sie alle kritisieren den AKP Wahlsieg. Jene 60 Prozent in Deutschland, die die AKP gewählt haben, kommen hingegen kaum zu Wort. Woran liegt das?

Die Türkei hat gewählt. Die AK Partei holte sich, mit einem Stimmenzuwachs von knapp 10 Prozent die absolute Mehrheit im türkischen Parlament zurück. Die HDP schaffte nicht nur erneut den Einzug ins Parlament, sondern löste auch die national-konservative MHP als drittstärkste Kraft ab. Bei dieser Konstellation reichen die Stimmen der AK Partei und der HDP, um gemeinsam erarbeitete und auf Konsens basierende Gesetze zu verabschieden. Schon deshalb ist das Wahlergebnis begrüßenswert.

Schaut man sich die öffentlichen Diskussion zu den Wahlergebnissen in der Türkei aber an, bekommt man den Eindruck, als sei die Welt untergegangen. Nicht nur in Kommentarspalten etablierter Medien wird ein Weltuntergangsszenario konstruiert, sondern auch in der Politik. Bundestagsvizechefin Claudia Roth (Die Grünen) etwa kondolierte der Türkei zu diesem „schwarzen Tag“.

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Auffällig an dieser Debatte ist: Es kommen fast ausschließlich AKP-Gegner zu Wort. Und wie es der Zufall will, kommen sie überwiegend aus dem linken Spektrum – egal ob sogenannte deutsch-türkische Politiker, Vereinsfunktionäre oder Wissenschaftler. Allen gemein ist der einfach gestrickte Tenor: Gewinnt die AK Partei, war die Wahl schlecht.

Laut vorläufigen Wahlergebnissen haben jedoch etwa 60 Prozent der Türkeistämmigen in Deutschland, die AKP gewählt. Die dürften zufrieden sein mit den Wahlergebnissen. Aber wo bitte kommen diese Menschen zu Wort? Warum wird die Mehrheit der türkeistämmigen Wähler in Deutschland ignoriert, warum werden sie von der öffentlichen Debatte ausgeschlossen, während wir tagein tagaus HDP-nahe Meinungen lesen und hören, obwohl sie vergleichsweise niedrige 15,9 Prozent der türkeistämmigen Wähler in Deutschland überzeugt haben?

Leider ist das kein neues Phänomen. In meinen 39 Lebensjahren, die ich ausschließlich in Deutschland verbracht habe, haben Stimmen aus Medien und Politik mit dem erhobenen Zeigefinger auf uns und auf die Türkei gezeigt. Als Jugendlicher erklärte ich mir die in unterschiedlichen Formen erlebte „Türkenfeindlichkeit“ mit dem Versäumnis der konservativen türkeistämmigen Gruppen, ausreichende Sprachkompetenzen zu erwerben. Sie haben nie gemeinsam mit den Deutschen abends am Lagerfeuer gesessen und gemeinsam mit ihnen „Die Internationale“ gesungen, nie biertrinkend Schweinshaxe in der Kneipe gegessen. Nie gelernt, wie man beim Skat reizt und die Hand gut spielt.

Sie haben einfach keine Gemeinsamkeiten mit den Deutschen gefunden, die ihnen zudem vorurteilsbehaftet begegneten. So zogen sie sich zurück in ihre Unterschicht-Enklaven, die ihnen von öffentlich geführten Wohnungsverwaltungsgesellschaften zugewiesen wurden. Sie hatten deshalb keine Möglichkeit, ihre Argumente mit der Mehrheitsgesellschaft zu teilen und der Meinung türkeistämmiger Linker etwas entgegenzusetzen.

Einmal haben sie in den 1990ern versucht, ihre Stimmen zu erheben, sich in Deutschland politisch zu engagieren und sind grandios gescheitert. Ihre fehlenden Sprachkenntnisse sind ihnen zum Verhängnis geworden. Sie wurden als Faschisten etikettiert, weil sie mit türkischen Fahnen demonstriert hatten. Linke Türkeistämmige – schon damals vergleichsweise bestens vernetzt mit der Politik und den Medien – mischten als Ideengeber und Berater deutscher Politiker und Journalisten kräftig mit. Ihre Positionen wurden zur einzigen Wahrheit.

So wurden die Meinungen der konservativen Türkeistämmigen über Jahrzehnte unterbunden. Meiner Generation wurde im Elternhaus beigebracht, in der Öffentlichkeit bloß nicht aufzufallen – weder mit Meinung noch mit Tat. Sie hatten sich in den 1990ern die Hände verbrannt. Heute sieht sich diese Generation aber als Teil der deutschen Gesellschaft, sie besitzt ausreichende Sprach- und Sachkompetenz. Sie könnten die türkischen Wahlergebnisse ebenso gut – wenn nicht sogar besser – bewerten und kommentieren, vielleicht sogar befreit von Ideologien und sonstigen Scheukappen. Trotzdem kommen sie nicht zu Wort.

Dieser Zustand wird mit der zunehmenden Kompetenz immer unerträglicher. Deutschland muss auch diesen jungen Menschen zuhören, ihnen Möglichkeiten eröffnen, ihre Meinungen, Einstellungen und Überzeugungen in die öffentliche Diskussion einzubringen. Sonst bleiben sie außen vor, werden an den Rand gedrängt, ausgeschlossen. Wollen wir das?