Flüchtlingspolitik

Christoph Strässer: „Wir sollten Roma nicht zurückführen“

Christoph Strässer (SPD), Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung, erklärt im Gespräch mit dem MiGAZIN, warum es nicht weitere Flüchtlingsgipfel braucht, was ihn an der Debatte um sichere Herkunftsländer stört und warum Sachleistungen Flüchtlinge nicht abschrecken.

MiGAZIN: Herr Strässer, wann war Ihnen klar, dass 2015 Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland kommen würden?

Christoph Strässer: (überlegt) Das kann ich nicht genau sagen. Dieser Moment liegt nun schon länger zurück. Fest steht: Die Entwicklung kommt nicht überraschend. Ich wäre verwundert, wenn gesagt würde, man habe die Situation nicht schon vor mindestens eineinhalb Jahren kommen sehen. Lediglich die immense Dimension war nicht absehbar.

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Die Krisen und Konflikte in der Welt sind seit Jahren bekannt. Hat die Politik versagt?

Strässer: Auf fast allen politischen Ebenen sind die bevorstehenden, weltweiten Migrationsbewegungen schlicht unterschätzt worden. Angefangen bei den Kommunen, über Bund und Länder bis hin zu den EU-Institutionen in Brüssel. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir jetzt die richtigen Entscheidungen treffen. Ich selbst war in Syrien und im Irak unterwegs und habe dort viele Menschen gesehen, denen es sehr schlecht geht. Diese Leute wollen nur eins: das Land verlassen, unbedingt.

Wie hätte sich Deutschland besser vorbereiten können auf diese dramatische Entwicklung?

Strässer: Die Fehleranalyse ist zwar interessant, aber wir sollten unsere Kräfte jetzt bündeln und in die Zukunft schauen. Schließlich stehen wir vor enormen Herausforderungen. Es fehlen Unterkünfte, es fehlen Betreuer, es fehlen sanitäre Einrichtungen. Wir müssen all die Probleme schnellstens lösen. So wie zuletzt kann es nicht weitergehen. In den vergangenen Monaten wurden viele Absprachen getroffen, es gab einen Flüchtlingsgipfel nach dem anderen, doch: umgesetzt wurde bislang nur relativ wenig.

Seit Wochen fällt immer wieder das Wort „Überforderung“, wenn über die Situationen in den Kommunen berichtet wird. Welche Rückmeldungen über die Zustände vor Ort haben Sie zuletzt besonders beschäftigt?

Strässer: Insbesondere natürlich das Vorhaben, in vielen Städten und Landkreisen weitere Zeltlager zu errichten. Auf die Schnelle, bevor der Winter kommt. Davon halte ich wenig, um es vorsichtig zu formulieren.

Ein Beispiel: In Hamburg leben derzeit etwa 3.000 Flüchtlinge in Zeltlagern, nur 400 dieser Menschen sind in winterfesten Zelten untergebracht. Wie kommentieren Sie derartige „Zwischenlösungen“?

Strässer: Das vermittelt den fatalen Eindruck, als wäre das wirtschaftlich starke Deutschland überfordert und könnte hilfsbedürftige Menschen nicht angemessen unterbringen. Die hygienischen Mängel in einigen Erstaufnahmeeinrichtungen haben mich zuletzt sehr betroffen gemacht. Oder denken Sie an die Erstaufnahmestelle in Dortmund, die wegen Überbelegung vorübergehend geschlossen wurde. Es ist beschämend, wenn Flüchtlinge ankommen und als erstes hören, sie seien hier falsch und müssten sich woanders melden. Ein traumatisierter Mensch, der solch chaotische und teils menschenunwürdige Zustände vorfindet, der hat womöglich eine zweite Traumatisierung vor sich.

Die Kommunen sollen vom Bund für die Unterbringung von Asylbewerbern und Flüchtlingen zusätzlich drei Milliarden Euro bekommen. Was antworten Sie denen, die sagen: das reicht nicht?

Strässer: Drei Milliarden sind schon eine gewaltige Zahl. Dennoch gehe ich nicht davon aus, dass diese Summe reicht, um die Probleme in den Griff zu bekommen. Die Gelder müssen ja auch erst einmal zur Verfügung gestellt werden. Klar ist: Es handelt sich hierbei um eine Gemeinschaftsaufgabe. Der Bund muss daher auch ganz massiv eingreifen, die Summen müssen schnell fließen. Wir dürfen die Kommunen auf keinen Fall hängenlassen.

Insgesamt soll die Versorgung von Flüchtlingen dieses Jahr rund acht Milliarden Euro kosten. Der Deutsche Städtetag hat kürzlich drei Vorschläge vorgelegt, welche Kosten der Bund übernehmen könnte: eine Pro-Kopf-Pauschale, die Übernahme aller Kosten für einen Asylbewerber oder die Übernahme der Gesundheitskosten. Was halten Sie für sinnvoll?

Strässer: Die Pauschale ist aus meiner Sicht das sicherste Modell. Für jeden Flüchtling würde ein Betrag X bereitgestellt – zuletzt wurden, glaube ich, etwa 7.000 Euro errechnet. Das wäre die sauberste und fairste Lösung, weil damit letztlich auch die Verteilungsprobleme über die Länder ein Stück weit relativiert würden.

In den Erstaufnahmeeinrichtungen sollen Asylbewerber künftig statt Bargeld Sachleistungen erhalten – was halten Sie davon?

Strässer: Nichts. Eine solche Maßnahme wird niemanden davon abhalten, sich auf den Weg zu machen, wenn die Lebensbedingungen vor Ort aus seiner Sicht keine Perspektive für ein Leben in Würde bieten.

Die Koalition hat sich zudem darauf verständigt, dass Asylsuchende aus den Ländern des westlichen Balkans schneller abgewiesen werden können. Kosovo, Albanien und Montenegro sollen durch Gesetzesänderung zu sicheren Herkunftsstaaten bestimmt werden. Ist das auch Ihrer Sicht fahrlässig oder doch angemessen?

Strässer: Ich tue mich schwer mit dem Begriff „schneller“. Wir haben für alle Menschen, die in unser Land kommen, ein rechtstaatliches Verfahren vorgesehen, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen. Ich persönlich bin der Meinung, diese Verfahren sollten auch weiterhin auf die bewährte Weise abgewickelt werden. Wenn der Sachbearbeiter am Ende eines rechtsstaatlichen Verfahrens zu dem Ergebnis kommt, dass es weder einen Asylanspruch noch ein Bleiberecht aus humanitären oder sonstigen Gründen gibt, und dieses Ergebnis von Gerichten bestätigt wird, dann muss die Rückführung in die Wege geleitet werden. Auch das gehört zum Rechtsstaat.

Ein Drittel der Balkan-Flüchtlinge sind Roma. In Deutschland haben sie praktisch keine Chance auf Asyl, da Roma als Minderheit in ihrer Heimat nicht politisch verfolgt werden. Sie sprachen sich Anfang des Jahres dafür aus, diesen Menschen einen anderen Zugang nach Deutschland zu ermöglichen – bleiben Sie dabei?

Strässer: Damit bewege ich mich nicht im Mainstream der Debatte, das ist mir klar. Ich habe aber meine Meinung dazu nicht geändert. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Roma nicht zurückführen sollten, solange sich die Situation vor Ort nicht entscheidend verbessert.

Damit sind Sie in Ihrer Partei eher ein Außenseiter, richtig?

Strässer: Mehr oder weniger. Die Mehrheitsmeinung ist bei diesem Thema eine andere, damit muss ich leben. So etwas kommt vor in der Politik (lächelt).

Und wie begründen Sie Ihre Meinung?

Strässer: Im vergangenen Jahr, im Spätsommer, habe ich mir die Lage in einer Roma-Siedlung in Bosnien-Herzegowina angeschaut. Es ist in der Tat so, dass die Volksgruppe dort nicht verfolgt wird. Fakt ist aber auch: Roma werden diskriminiert, und zwar auf eine Weise, die äußerst bedrohlich sein kann. Derlei zeigt sich zum Beispiel bei Sozialleistungen und der Unterbringung. Oder denken Sie an das Konzept „Zwei Schulen unter einem Dach“. Danach werden Roma-Kinder getrennt von bosniakischen Kindern unterrichtet. Für sie gibt es spezielle Eingänge, auch die Lehrpläne unterscheiden sich. Insgesamt also in vielen Fällen eine klare Diskriminierung.

Herr Strässer, wie lange kann sich Europa leisten, in der Flüchtlingspolitik keine einheitliche Linie zu verfolgen?

Strässer: Das, was Europa ausmacht, jenseits dessen, was zurzeit funktioniert, sind aus meiner Sicht die gemeinsamen Werte. Dazu gehört eben auch, dass Flüchtlinge ihre Menschenwürde behalten. Diese Menschen haben meist alles verloren, sie sollten in allen EU-Staaten respektvoll behandelt werden. Wenn wir das Thema nicht in den Griff kriegen, wird das Projekt Europa scheitern. Kurzum: Es braucht nicht weitere Gipfel, sondern endlich Lösungen, Entscheidungen und Taten.

Sind Sie trotz der dramatischen Lage in Ungarn zuversichtlich?

Strässer: Ja. Andernfalls könnte ich die politische Arbeit nicht machen, ich müsste aufhören. In diesem Zusammenhang zitiere ich gern die Bundeskanzlerin: Wir schaffen das!