Sichere Herkunftsstaaten

Asylpolitik auf Basis politischer Mythen

Der Vorschlag, EU-Beitrittskandidaten automatisch als sichere Herkunftsländer einzustufen, zeugt nicht nur von der abwehrenden Migrationspolitik der Bundesregierung – sie offenbart auch die Beharrlichkeit, mit der Realitäten in der EU und in den Beitrittsländern weichgezeichnet werden. Von Armin Wühle

Auf dem Papier ist der Vorschlag von Innenminister de Maizière schlüssig. Geradezu zwingend logisch. Denn Beitrittskandidaten der EU müssen einige Bedingungen erfüllen – die „Kopenhagener Kriterien“ erfordern u.a. eine institutionelle Stabilität, die Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten. Da Länder wie Montenegro und Albanien offizielle EU-Beitrittskandidaten sind, müssen sie diese Prüfung bestanden haben. Da Stabilität, Menschenrechte und Minderheitenschutz gleichzeitig Kriterien von sicheren Herkunftsländern sind, ist es nur logisch, auch hinter dieser Frage einen grünen Haken zu setzen. Alles andere würde eine enorme Scheinheiligkeit entlarven, und scheinheilig sind EU-Beitrittsverhandlungen nicht, auf dem Papier.

Doch politische Entscheidungen werden nicht immer auf Grundlage von Sachlagen getroffen, sondern sind von staatlichen und privatwirtschaftlichen Interessen geleitet. Da ist es nützlich, Realitäten nach eigenem Gusto zu verzerren – zwischen de jure und de facto klaffen dann schnell große Lücken. Nicht anders ist es mit der Menschenrechtssituation in den Balkanländern. Seit Jahren leben in Montenegro viele Roma und Sinti in Flüchtlingslagern, in einfachsten Behausungen, ohne Papiere, ohne Zugang zum Arbeitsmarkt, in einem alltäglichen Zustand gesellschaftlicher und staatlicher Diskriminierung. Die Pressefreiheit sowie der Schutz Homo- und Transsexueller weisen erhebliche Mängel auf. In Albanien ist die Lage nicht besser: Dort werden Siedlungen von Roma und Sinti teilweise nicht an das Wasser- und Stromnetz angeschlossen. Da der Beitritt dieser Länder aber politisch gewollt ist, wurden diese Mängel ignoriert und der Kandidatenstatus vergeben, 2010 an Montenegro, 2014 an Albanien.

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De Maizierès Vorstoß fußt auf einem Konstrukt der Sicherheit, das seit Jahren gebaut wird und nur auf dem Papier besteht. Ein Zugeständnis an die Realität ist politisch kaum mehr möglich – zu schillernd wurde in der Vergangenheit die Situation der Balkanländer bewertet, wenn es um einen EU-Beitritt ging. Eine Anerkennung von Fluchtursachen würde die bisherigen Entscheidungen der EU-Kommission ad absurdum führen. Die Erfindung der sicheren Balkanländer wurde derart festgestampft, dass sie nun auch als Grundlage für migrationspolitische Entscheidungen dienen kann. Asylanträge aus sicheren Herkunftsländern können als „offensichtlich unbegründet“ schnell abgelehnt werden. Während die Bundesrepublik Serbien und Mazedonien bereits als sicher einstuft, könnten mit dem aktuellen Vorschlag vor allem albanische Migranten schneller abgeschoben werden. Im ersten Halbjahr 2015 machten albanische Staatsangehörige die drittgrößte Gruppe der Antragssteller aus.

Aber selbst die Mitgliedsstaaten der EU, die automatisch als sichere Herkunftsländer gelten, sind oft nur auf dem Papier sicher. Im EU-Land Ungarn werden Journalisten drangsaliert, Obdachlose per Gesetz verfolgt, in Ungarn werden von der Regierung rechtsextremistische Kräfte toleriert, die Juden, Roma und Sinti terrorisieren – bisher ohne ernsthafte Sanktionen seitens der Europäischen Union. Auch aus Rumänien, das seit 2007 Mitglied der EU ist, berichten NGO’s von strukturellem Antiziganismus, der zum Beispiel in Baia Mare dazu führte, dass Wohngebiete von Roma mit einer Betonmauer vom Rest abgetrennt wurden. Mehrere deutsche Gerichte haben bereits Abschiebungen in EU-Länder verhindert, weil sie die Situation für Flüchtlinge dort als gefährlich, menschenunwürdig oder erniedrigend einschätzten – Länder wie Bulgarien, Ungarn, Italien und Griechenland zählten darunter.

Wenn selbst die bestehende EU-Mitgliedschaft nicht als Garant für Menschenrechte und Minderheitenschutz gelten kann – wie soll der Status eines Beitrittskandidaten dies gewährleisten?

Dass die europäische Utopie nicht der europäischen Realität entspricht, erfahren wir jeden Tag aufs Neue – aber solange sie auf dem Papier besteht, kann das Papier Grundlage politischer Entscheidungen sein. Vorausgesetzt, Politiker haben ein Interesse daran. Und sowohl die deutsche, als auch die europäische Asyl- und Migrationspolitik macht seit Jahren deutlich, dass sie ein Interesse hat, Migration aus bestimmten Regionen zu verhindern – auch auf Grundlage politischer Konstrukte.