In einem Goethe-Institut

Sprachnachweis tatsächlich nur eine „vorgelagerte Integrationsmaßnahme“?

Der Sprachnachweis für nachziehende Ehegatten steht seit seiner Einführung 2007 in der Kritik. Trotzdem hält die Bundesregierung daran fest – als Integrationsmaßnahme. Die Realität in einem Goethe-Institut zeigt aber etwas ganz anderes: Beim Sprachnachweis geht es um Selektion von Menschen.

Eineinhalb Jahre ist es her, dass Siham* geheiratet hat. Seitdem lernt sie Deutsch – Tag für Tag. Ihren Mann, Thomas, hat sie seit dem Tag ihrer Trauung vier Mal gesehen, wenn er zu Besuch kam. Sonst kommunizieren sie über das Telefon. Thomas wohnt in einer Kleinstadt in Baden-Württemberg. Siham lebt mit ihrer Familie in Casablanca, der größten Stadt Marokkos. Die 29-jährige investiert viel Zeit und Energie in das Erlernen der neuen Sprache: Vier Mal in der Woche nimmt sie ein Grand Taxi, um zu einer kleinen Privatschule in die Innenstadt zu fahren. Die Kurse dauern jeweils drei Stunden. Sobald sie zu Hause ist, wiederholt sie das Gelernte und erledigt ihre Hausaufgaben. Dazu zieht sie sich in ein Zimmer zurück, das sich im obersten Stockwerk des Familienhauses befindet. Dort ist sie ungestört.

Die Wände in diesem Raum sind mit Arbeitsblättern tapeziert. Auf einigen sind Gegenstände abgebildet, unter die Siham das jeweilige deutsche Wort geschrieben hat. Sie verwendet vor allem Großbuchstaben, die Größe der Schriftzeichen sowie Linien sind ungleichmäßig und zittrig und oft machen die Zeilen, sobald mehrere Wörter aneinandergereiht wurden, einen steilen Bogen nach unten. Die Schrift erinnert an die einer Erstklässlerin. Und tatsächlich hat Siham erst mit dem Deutschkurs begonnen, schreiben zu lernen. Davor war sie nicht alphabetisiert, weder in arabischer noch lateinischer Schrift. Als sie im schulreifen Alter war, fragte sie ihre Mutter, ob sie nicht zu Hause bleiben könne. Diese willigte ein und seitdem hilft Siham ihrer Familie im Haushalt. Sie ist nie zur Schule gegangen. Die Sprachprüfung für „nachziehende Ehegatten“, die sie beim Goethe-Institut ablegen muss, um ein Visum für Deutschland beantragen und zu ihrem Mann ziehen zu können, wird die erste in ihrem Leben sein. Seit eineinhalb Jahren denkt sie an nichts anderes, im Kopf geht sie immer wieder die vielen erlernten Wörter durch und zeichnet mit dem Finger die Buchstaben nach, um nichts zu vergessen. Oft kann sie deswegen nachts nicht schlafen.

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Integration vor Europas Außengrenzen

2007 wurde von der rot-schwarzen Bundesregierung die Sprachnachweispflicht für „nachziehende Ehegatten“ aus „Drittstaaten“ eingeführt. Um ein Visum zur „Familienzusammenführung“ beantragen zu können, müssen AntragstellerInnen wie Siham Deutschkenntnisse auf A1-Niveau vorweisen, dem niedrigsten Niveau des Europäischen Referenzrahmens für Sprachen. Begründet wurde die Einführung dieses Sprachnachweises vor allem über das Argument der Integrationsförderung. Auf der Internetseite der Bundesregierung heißt es über die Novellierung des Zuwanderungsgesetzes: „Zudem müssen künftig einfache deutsche Sprachkenntnisse vor der Einreise nachgewiesen werden, um insbesondere den nachziehenden Frauen die Integration in Deutschland zu erleichtern.“ Die Idee hinter dem Sprachnachweis im Rahmen des „Ehegattennachzugs“ ist es also die Integration von Menschen bereits zu fördern, bevor sie überhaupt in Deutschland ankommen.

Den Auftrag, die Erbringung dieser „vorgelagerten Integrationsleistung“ für „nachziehende Ehegatten“ zu „unterstützen“ und abzuprüfen, hat das Goethe-Institut, das „weltweit tätige deutsche Kulturinstitut“, nach einigen kontroversen Debatten angenommen. Seitdem bieten Goethe-Institute in „Drittstaaten“ auf der ganzen Welt – abgesehen von den USA, Australien, Brasilien, Honduras, Israel, Japan, Kanada, Korea und Neuseeland, die „aufgrund langjähriger und enger Beziehungen“ erstaunlicherweise vom Sprachnachweis befreit sind – so genannte „Vorintegrationskurse“, sowie die Prüfung „Start Deutsch 1“ an, mit der das Sprachniveau A1 abgeprüft wird.

Im Rahmen meiner Doktorarbeit habe ich mich auf den Weg nach Marokko gemacht, um zu verstehen, welche Auswirkungen der Sprachnachweis mit sich bringt. Ich habe Menschen mit marokkanischer Staatsangehörigkeit durch das gesamte Verfahren des „Ehegattennachzugs“ – vom Sprachkurs über das Prozedere im Konsulat bis hin zur Ausreise nach Deutschland – begleitet und zum anderen in Institutionen wie dem Goethe-Institut Gespräche geführt. Schnell konnte ich feststellen: Das Thema „Integration“ ist ebenso omnipräsent wie die Angst vor der „Nicht-Integration“ der „nachziehenden Ehegatten“.

Als ich mich zum ersten Mal mit dem Leiter der Sprachabteilung des Goethe-Instituts Marokko treffe, zeigt er sich erfreut über mein Forschungsvorhaben und betont, dass das Thema doch wirklich unter den Nägeln brenne: „Wir müssen etwas ändern, sonst haben wir so etwas wie Neukölln. Kennen sie das Buch von Buschkowsky? Das müssen sie mal lesen.“ Im Goethe-Institut Marokko scheint „Neukölln ist überall“ (2012) eine Art Hiobsbotschaft geworden zu sein, ein Aufruf schon vor den Außengrenzen Europas ein ganz spezifisches Szenario, wie es der Autor des Buches im Berliner Bezirk Neukölln verortet, in deutschen Städten zu verhindern: „Familien, die seit Generationen von Hartz IV leben, Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern, Jugendliche ohne Zukunftsperspektive, Parallelgesellschaften, Gewalt und Kriminalität“ – und all das aufgrund einer gescheiterten Integrationspolitik. Das ist der Tenor des Buches des ehemaligen Bezirksbürgermeisters von Neukölln, Heinz Buschkowsky, das der Sprachabteilungsleiter immer wieder erwähnt und auch MitarbeiterInnen zur Lektüre empfiehlt.

Gerade mit Bezug auf „arabische Länder“, aus denen vorwiegend muslimische MigrantInnen nach Deutschland kommen, wird von konservativer Seite in Medien und Politik immer wieder vor der Bildung von „Parallelgesellschaften“ gewarnt: Sie würden nach Deutschland kommen und in ihrer arabisch-muslimischen Community bleiben, im schlimmsten Fall fände bei jungen Männern noch eine Radikalisierung statt. Bei den Frauen bestehe zusätzlich die große Sorge, dass sie sich direkt in die Familien zurückziehen, den Haushalt machen und sich um die Kinder kümmern. Der Begriff der „Parallelgesellschaft“ unterstellt in diesem Diskurs eine freiwillige und bewusste Abschottung, die einen Entstehungsort für Differenz und Gewalt schafft. Das Szenario eines Konflikts zwischen Westen und „dem Islam“, in dem von einer homogenen Kultur der arabisch-muslimischen MigrantInnen ausgegangen wird, ist fester Bestandteil dieses Integrationsdiskurses. Der Leiter der Sprachabteilung erklärt, dass das Goethe-Institut deshalb einen Integrationsauftrag habe. „Was aus denen wird, das ist Kulturarbeit.“ Im Moment sei, seiner Ansicht nach, die Vorbereitung auf Deutschland in den „Vorintegrationskursen“ nicht ausreichend. Es würde nicht reichen wie im Kursbuch zu zeigen, wie Weihnachten gefeiert wird. Aber um mehr zu tun, fehle ihm auch das Personal. Was passiert also konkret in den so genannten „Vorintegrationskursen“?

Ich beschließe vier Wochen lang zwei der „Vorintegrationskurse“ am Goethe-Institut Casablanca zu begleiten. Als ich das erste Mal einen der Kurse besuche, ist die erste Frage, die mir gestellt wird: „Welche Probleme werden wir bei der Integration in Deutschland haben?“ Der Deutschlehrer hatte mich als Forscherin aus München vorgestellt und seine KursteilnehmerInnen aufgefordert, die Gelegenheit zu nutzen und sich bei mir über das Leben in Deutschland zu informieren. Die gleiche junge Frau, die mir diese Frage gestellt hatte, möchte später mit mir darüber sprechen, ob es stimme, dass man mit Kopftuch in Deutschland keine Arbeit finden würde. Doch ihr Lehrer unterbricht sie und wechselt das Thema. In diesem Raum wird nicht über Diskriminierung gesprochen, wie ich in den nächsten Wochen beobachten werde. In Deutschland gibt es keine Probleme und es gilt sich an die Werte und Normen anzupassen – sich zu „integrieren“. Dieser Duktus entspricht einem Integrationsdiskurs, in dem nach wie vor von individuellen Defiziten der MigrantInnen ausgegangen wird, anstatt strukturelle Gegebenheiten wie institutionellen Rassismus zu thematisieren.

Als ich vor dem Besuch des Kurses mit einigen MitarbeiterInnen des Goethe-Instituts zusammensaß, wurde ich vorgewarnt: Ich solle mich nicht wundern, in diesen Kursen würden vor allem „Hausfrauen“ sitzen, die wenig Schulbildung haben. Manchmal seien auch welche dabei, die studiert hätten, aber die würden sofort in andere Gruppen wechseln. Auf dem Weg in den Unterrichtsraum meint der Lehrer noch einmal energisch zu mir: „Die müssen sich integrieren!“ Als ich schließlich vor der Gruppe stehe, sehe ich unterschiedlichste Menschen vor mir. Tatsächlich sind nur zwei Männer unter den siebzehn Lernenden, die alle relativ jung sind, zwischen zwanzig und dreißig. Etwa die Hälfte der Frauen trägt Kopftuch, manche zu Jeans und bunter Bluse, andere zu traditioneller Djellaba. Ich setze mich dazu. Heute gehe es um Berufe, beginnt der Lehrer. Er bringt ein Beispiel: „Ich bin Deutschlehrer von Beruf.“ „Was seid ihr von Beruf?“, fragt er in die Runde. Khaled ist Informatiker. Oujidane ist Buchhalterin. Khadija ist Telefonistin. Einige sind Studentinnen. Eine Kursteilnehmerin fragt: „Kann ich sagen, ich arbeite nicht?“ Der Lehrer antwortet: „Nein, dann sagen Sie: Ich bin Hausfrau.“ – „Nur jetzt arbeite ich nicht.“ – „Nein, dann sagen Sie: Ich bin Hausfrau.“ Sie nickt und wiederholt: „Ich bin Hausfrau.“ Anschließend laufen wir durch den Raum und fragen uns gegenseitig nach unserem Beruf. Wenn mir jemand antwortet „Ich bin Hausfrau.“, frage ich noch einmal nach und es stellt sich heraus, dass die meisten einen Beruf haben, auch bereits in einem Beschäftigungsverhältnis standen und einfach nur im Moment nicht arbeiten, weil sie drei Mal die Woche für einen halben Tag Sprachkurs haben, zuhause das Gelernte wiederholen, Hausaufgaben machen und oftmals noch einen weiten Weg zum Goethe-Institut auf sich nehmen müssen. Kein Arbeitgeber würde das mitmachen, wird mir erklärt. Mona zum Beispiel ist Informatikerin und programmiert zuhause parallel zum Sprachkurs Software auf freiberuflicher Basis. Chaimaa hat gerade ihr Abitur gemacht und würde in Deutschland gerne Modedesign studieren. Dunja hat Jura studiert und einige Jahre in einer Kanzlei gearbeitet.

Als ich nach dem Kurs zurück ins Büro komme, erzähle ich, dass ich verwundert bin, weil es sich bei den KursteilnehmerInnen auf keinen Fall, wie es vorher hieß, nur um „ungebildete Hausfrauen“ handele. Ich solle mich nur nicht täuschen lassen, nur weil die schick angezogen sind, wird mir als Antwort entgegen geworfen. Das Bild der „nachziehenden Ehegatten“ scheint hier sehr klar zu sein: junge Frauen, die keinen Schulabschluss haben und nur nach Deutschland kommen, um dort Familie zu gründen, geholt von marokkanischen Männern, denen die europäischen Frauen nicht hörig und gläubig genug sind, wahrscheinlich sogar gegen ihren Willen. Diese stereotype Vorstellung ist mir im Laufe meiner Forschung in unterschiedlichen Kontexten immer wieder begegnet und ist fester Bestandteil der Debatten um Heiratsmigration aus der Türkei und arabischen Ländern. Die Soziologin Necla Kelek trug mit ihrem Bestseller „Die fremde Braut“ 2005 zur Festigung dieses vereinfachten Bilds bei, obwohl sie unter anderem aufgrund der nicht nachvollziehbaren Datengrundlage ihrer Studie auch stark in der Kritik stand. Das Stereotyp der „Heiratsmigrantin“ ist mächtig und schürt weiter Ängste vor „Parallelgesellschaften“ und „unterdrückten muslimischen Frauen“.

Es würden auch immer wieder Analphabetinnen kommen, berichtet mir außerdem eine Mitarbeiterin des Goethe-Instituts. Oft würden sie am Anfang nicht sagen, dass sie nicht lesen und schreiben können, fingen den Kurs trotzdem an und müssten dann irgendwann abbrechen. Dem wird nun vorgebeugt: Es wurde ein Formular eingeführt, dass bei der Anmeldung auf Französisch, also in lateinischer Schrift, ausgefüllt werden muss. Wer dazu nicht in der Lage ist, kann sich nicht einschreiben und muss sich selbst darum kümmern, das Alphabet zu lernen.

Auch Siham hatte sich zunächst im Goethe-Institut eingeschrieben. Das Formular gab es damals noch nicht und so saß sie für einige Sitzungen in einem Kurs, zusammen mit TeilnehmerInnen, von denen einige sogar studiert hatten, was sie sehr unter Druck setzte. Von einer anderen Deutschlehrerin habe ich erfahren, dass eine hinsichtlich dem Bildungshintergrund so durchmischte Gruppe durchaus funktionieren kann, da die Solidarität meistens sehr stark ist und auch Nicht-Alphabetisierte Qualitäten mitbringen, von denen andere profitieren können. Zum Beispiel hatte sie die Erfahrung gemacht, dass wer nicht alphabetisiert ist, ein sehr ausgeprägtes Gedächtnis hat und Sprache vor allem über Bilder lernt. Wer ohne Lesen und Schreiben zu können durchs Leben geht, muss sich anderweitig helfen. Doch Sihams Lehrer war streng mit ihr und schon nach kurzer Zeit bat er sie den Kurs zu verlassen und in einer anderen Institution das Alphabet zu lernen. Sie hatte Glück, sie fand eine kleine private Sprachschule, auch in Casablanca, wo ein ehemaliger Lehrer des Goethe-Instituts mit viel Erfahrung und Geduld Frauen und Männern wie Siham das Alphabet beibringt und sie auf die „Start Deutsch 1“-Prüfung vorbereitet. Neben dieser Schule konnte ich keine andere Institution in Casablanca oder Rabat ausfindig machen, in der die Alphabetisierung in deutscher Sprache angeboten wird. Wird der Alphabetisierungskurs zum Beispiel im Institut français, dem französischen Kulturinstitut, gemacht, müssen die TeilnehmerInnen dieser Kurse, die einen Deutschtest auf A1-Niveau bestehen müssen, anschließend trotzdem wieder in der deutschen Sprache bei Null beginnen, was doppelte Kosten verursacht. Die Professorin und Übersetzerin Rachida Zoubid, die auch Rechtsberatung für Menschen anbietet, die zu ihrem Partner oder ihrer Partnerin nach Deutschland ziehen wollen, hat mir von vielen Fällen von Nicht-Alphabetisierten erzählt, die in Deutschland verheiratet sind, aber nicht ausreisen können, weil sie nicht lesen und schreiben und so die Sprachprüfung nicht ablegen können. Bei meinen ersten Forschungen in Tanger habe ich zwei Frauen getroffen, die nie zur Schule gegangen sind. Beide hatten einen Privatlehrer, um das Alphabet zu lernen. Bei einer der beiden Frauen, die zu diesem Zeitpunkt mit einem Österreicher verheiratet war, war ich einige Male beim Unterricht dabei. Ich saß neben ihr, als sie Buchstabe für Buchstabe übte, und konnte so ansatzweise verstehen, was es für eine Ende-Zwanzig-Jährige, die noch nie einen Stift in der Hand gehalten hat, die nie eine Fremdsprache gelernt hat, die nur Darija – den marokkanischen Dialekt – spricht und selbst in ihrer Muttersprache nicht alphabetisiert ist, was es für sie bedeutet, nun Deutsch lesen, schreiben und sprechen zu lernen. Nach einigen Wochen gab sie auf. Eines Tages die Prüfung zu bestehen lag für sie in zu weiter Ferne. Außerdem fand sie keine familiäre Unterstützung für dieses Ziel und musste wieder arbeiten gehen. LehrerInnen des Goethe-Instituts und von anderen Sprachschulen, die mit Nicht-Alphabetisierten gearbeitet haben, haben mir von ihren Schwierigkeiten berichtet, sich an das Format des Unterrichts zu gewöhnen, sich drei Stunden lang zu konzentrieren, geprüft zu werden und von einer enorme Prüfungsangst. Es hätte sogar Fälle gegeben, in denen die Frau nach der Prüfung ihren Mann angerufen hätte, um ihm mitzuteilen, dass sie es nicht geschafft hätte, woraufhin er direkt die Scheidung eingefordert hätte.

Es ist nicht möglich eine Statistik anzufertigen, wie groß der Anteil an Personen ist, die zu ihrem Partner oder ihrer Partnerin ausreisen möchten, es aber nicht können, weil sie den Sprachnachweis nicht erbringen können. Es ist auch schwierig festzustellen, wie lange sie im Schnitt die Sprache erlernen, wie oft sie die Prüfung wiederholen oder wie viele die Prüfung nie antreten. Trotzdem zeigen die Fallbeispiele, dass viele Menschen aufgrund des Sprachnachweises daran gehindert werden, zu ihrem Partner oder ihrer Partnerin zu ziehen. Verglichen mit den Alphabetisierungsraten in Marokko ist dies keine Überraschung: Diese lag 2012 bei 67.1 %. Fast ein Drittel der marokkanischen Bevölkerung ist also nicht alphabetisiert und diese Zahlen beziehen sich auf die Alphabetisierung in arabischer Schrift. Unter den marokkanischen Frauen zwischen 15 und 24 liegt die Alphabetisierungsrate bei 74 % und bei den Männern in diesem Alter bei 88.8 %.

Durch den Sprachnachweis im Kontext des „Ehegattennachzugs“ findet eine Selektion statt. Das Erlernen der deutschen Sprache als Bedingung, um nach Deutschland einzureisen, ermöglicht es, dass bestimmte Menschen, die innerhalb des neoliberalen Migrationsregimes als „unbrauchbar“ und „unproduktiv“ kategorisiert werden, von der Einreise abgehalten werden. Auf einer Tagung des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften (iaf e.V.) und der Türkischen Gemeinde in Deutschland am 25. September 2008 in Berlin sprach der damalige innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag Dr. Hans-Peter Uhl klare Worte: „Wollen Sie die Masseneinwanderung von Analphabeten?“ Es gäbe ein „nationales Interesse, keine Analphabeten in Deutschland zu haben“.

Trotzdem wird in den aktuellen Debatten um den Ehegattennachzug immer wieder das Argument der Integration angebracht. Das Konzept der Integration wird dabei zwar auf unterschiedlichste Weise von verschiedenen Akteuren definiert und interpretiert – immer jedoch im Sinne des Integrationsparadigmas und als Defizitunterstellung gegenüber MigrantInnen. Im Kontext des „Ehegattennachzugs“ ist die größte Angst, dass die MigrantInnen „unter sich“ bleiben – im Falle Marokkos in der muslimisch-arabischen Gemeinschaft, im Falle der Frauen auch noch zu Hause. Hier wird Integration der Vorstellung von „Parallelgesellschaften“ entgegengestellt. Dass Sprache das Leben in einem anderen Land erleichtert, steht nicht zur Diskussion. Aber dass ein bestimmtes Sprachniveau bereits vor der Einreise erreicht werden muss und Bedingung für das Visum ist, deutet auf andere Ziele hin als das der „Integration“: Hier geht es um eine Vorsortierung entsprechend des ökonomischen Potentials und der Wettbewerbsfähigkeit von MigrantInnen am Arbeitsmarkt.

Das „Gebot der Nützlichkeit“ hat spätestens seit der Einführung der Green Card durch den ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder Anfang 2000 wieder Einzug in die Migrationspolitik erhalten und zieht sich durch unterschiedlichste Initiativen, auch auf EU-Ebene. Wer Abitur gemacht, vielleicht sogar studiert, bereits andere Fremdsprachen gelernt hat und sowohl die arabische als auch die lateinische Schrift beherrscht (und das trifft bei vielen jungen Menschen in Marokko zu), wird keine Probleme haben, die „Start Deutsch 1“-Prüfung beim ersten Mal zu bestehen. Wer dann auch noch in Casablanca oder Rabat und Umgebung lebt und ausreichend finanzielle Mittel hat, kann sich sogar den umfangreichen „Vorintegrationskurs“ beim Goethe-Institut leisten, wo die Erfolgsquote in der Prüfung bei über 90 % liegt. Aber für jemanden, der nicht alphabetisiert ist, wie Siham, bedeutet der Sprachnachweis vor allem, noch länger von ihrem Mann getrennt zu leben. Wenn Siham endlich in Deutschland ist, möchte sie auf jeden Fall zu Hause bleiben: den Haushalt machen, ein Baby bekommen, sich um ihren Mann und dessen Mutter kümmern, die im selben Haus lebt. Das Gehalt ihres Mannes reiche für beide zum Leben, erklärt sie mir. Sie ist überzeugt: Wenn sie erst in Deutschland ist bei ihrer „deutschen“ Familie, wird sie auch schnell die Sprache lernen. Die Erfordernis des Sprachnachweises ändert nichts an ihrem Lebenskonzept Hausfrau und Mutter zu sein.

*Namen geändert.