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Eine Schulklasse (Symbolfoto) © vauvau auf flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

In einer Flüchtlingsklasse

Wenn Männer weinen (und lachen)

Heute hat mir Ali Reza ein Foto seines blutüberströmten Bruders gezeigt. Eigentlich wollte ich gerade in die Pause gehen und mir etwas zu essen kaufen, aber natürlich bleibe ich hier. Im letzten Juni ist der Bruder Opfer eines Terroranschlages durch die Taliban geworden. Zum Glück hat er überlebt, aber er hat ein Auge verloren und ein paar Zähne, und er wird nicht mehr laufen können - ein Lehrer berichtet von seinen Erfahrungen aus dem Unterricht mit Flüchtlinglingen.

Von Dienstag, 30.06.2015, 8:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 30.06.2015, 17:14 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

Zusammengesunken sitzt Ali Reza 1, der Junge mit den Karohemden und der gepflegten Frisur, neben mir. Ich frage ihn, wie es seiner Familie geht. Er antwortet, dass seine Schwester verheiratet ist und dass er schon seit zwei Monaten keinen Kontakt zu seiner Familie hat. Nicht immer bin ich mir sicher, ob er versteht, was ich sage, und ob ich ihn richtig verstehe. Was sollte ich tun (außer ihm die Hand auf die Schulter zu legen vielleicht)?

Ich stehe auf und laufe zur Tafel. „Manchmal ist das Leben sehr schwer“, sage ich. Was ist das, das Leben? Ich male ein Baby an die Tafel, einen erwachsenen Mann, einen alten Mann mit Krückstock und verbinde die drei Zeichnungen mit einem Pfeil. „Zendegi?“, fragt mich Ali Reza. Ich kann zwar ein bisschen Persisch, aber es ist ziemlich eingerostet. Ich sage einfach mal ja. Ali Reza nickt bedächtig und nimmt seinen Block zur Hand, um den Satz aufzuschreiben.

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Jamal meldet sich. „Me“, sagt er und legt seine Hand auf die Brust, „Me Leben viele, viele schwer.“ „Ja“, sage ich, „dein Leben ist auch sehr schwer. – Mein Leben ist sehr schwer“, korrigiere ich ihn und wiederhole seine Geste. „Schreiben?“, bittet er mich und deutet an die Tafel. Ich schreibe den richtigen Satz an die Tafel und er schreibt ihn ab. Jamal wurde von seinen eigenen Onkeln gefoltert.

Darf ich vorstellen? Meine Alphabetisierungsflüchtlingsklasse – sechs unbegleitete Flüchtlinge zwischen 16 und 17, vier aus Afghanistan, zwei aus Eritrea, und ich, ihr Deutschlehrer. Wir sind eine reine Männerrunde. Alle außer mir haben zwischen vier und 16 Monate Flucht hinter sich. Manche sind in ihrem Heimatland zur Schule gegangen, manche haben stattdessen im Supermarkt oder in einer Fabrik gearbeitet. Die deutsche Schrift können sie anfangs alle nicht.

Wieder einmal steht der Akkusativ auf dem Programm. Ich möchte ein Brot, ich möchte eine Banane. „Ich möchte Kuss“, ruft einer in die Klasse. Alle lachen. Die Lehrerpersönlichkeit erkennt sofort die grammatikalische Gelegenheit, die sich hier bietet. „Ich möchte einen Kuss. Mit -en am Ende.“ Nun zückt natürlich jeder sein Notizheft, um den Satz aufzuschreiben. Einen Kuss möchte schließlich jeder – und alle sind sich dessen gewahr, dass die richtige Grammatik die Kusschancen noch einmal mächtig steigert. „In Deutschland das sagen zu Frau in Straße, Problem?“, erkundigt sich Abraham.

Ich antworte ihm, dass es in den wenigsten Fällen eine gute Idee ist, eine unbekannte Frau auf der Straße mit „Ich möchte einen Kuss“ zu begrüßen. „Oh, nicht gut“, lacht Abraham, „Warten nicht gut. Schnell.“ Nun frage ich ihn, wie schnell man in Eritrea von einer Frau einen Kuss bekommt. „Nicht schnell“, antwortet Abraham zerknirscht und schaut traurig zu Boden. Jamal meldet sich. „In Afghanistan, das sagen Frau in Straße… – “ Er tut so, als würde er sich mit dem Finger den Hals durchschneiden. Abraham lacht herzlich: „Oh, Afghanistan, das crazy!“ Alle lachen.

Traumata zeigen sich auf vielfältige Weise. Manche der Jungs haben immer wieder Kopfschmerzen, manche Bauchschmerzen, manche beides. An manchen Tagen will einfach kein neuer Stoff in den Kopf – was natürlich nicht immer das Resultat eines Traumas sein muss. Höhere Lehrerkunst ist: einen Jungen, der während des Unterrichts seine Partynacht ausschläft, von dem zu unterscheiden, der wegen seiner Sorgen und schrecklichen Erinnerungen nachts kein Auge zubekommt. Eine Kollegin meint: „Wer schläft, fühlt sich sicher. “ Na, dann. Schlaft. Danke für das Kompliment.

Abiel ist ein besonders krasser Fall. Während die anderen nach zwei Monaten Deutschkurs schon eine ganze Menge Dinge sagen und schreiben können, kann er noch immer nicht alle Buchstaben. Wahrscheinlich eine starke Lernschwäche – oder doch ein Trauma? Nicht einfach herauszufinden, wenn man keine gemeinsame Sprache hat. Abiel wartet seit Monaten darauf, dahingehend getestet zu werden – was auch vorerst so bleiben wird, da sich die zuständigen Ämter nicht einigen können, wer diesen Test bezahlen wird.

An einem anderen Tag weigert sich Farid, ein Puzzle mit einer Büroklammer zusammenzustecken, obwohl es direkt vor ihm liegt. „Ich müde. Ich viele Problem mit Familie. Du keine Problem.“ Ich bin sprachlos. „Ich habe auch Probleme“, ist meine wenig originelle Erwiderung. Die Afghanen beginnen zu lachen: „Farid viele, viele Problem mit Frau. Frau kaputt.“ Doch ein Teenagerproblem also?

Plötzlich bedeckt Jamal seine Augen mit einer Hand. Warum heißt es der Bus, aber die S-Bahn? Und wiederum der Zug? Jamal blickt nicht mehr durch, ihn ergreift die pure Panik. Er zieht seine Mütze tief über sein Gesicht, legt seinen Kopf auf den Tisch und bleibt minutenlang so liegen. „Jamal“, rufe ich, „was ist los?“ Jamal wird bald 18. Er hat Angst, es nicht rechtzeitig vor seinem Geburtstag auf die Berufsschule zu schaffen und deswegen abgeschoben zu werden.

Eine nicht unbegründete Angst: Zwar habe ich in meinem Umfeld noch von keinem unbegleiteten Flüchtling gehört, der abgeschoben wurde. Jedoch genießen nur die unter 18-Jährigen den größten rechtlichen Schutz. Der Gesetzgeber möchte im Falle einer Abschiebung sichergestellt haben, dass der abgeschobene Flüchtling in seinem Herkunftsland von seiner Familie oder einem Vormund in Empfang genommen wird. Dies lässt sich in den meisten Fällen natürlich nicht sicherstellen. Mit dem 18. Geburtstag jedoch werden die Karten rechtlich neu gemischt.

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  1. wiebke sagt:

    Es ist anrührend, was Sie da schreiben. Und es freut mich sehr, dass Sie trotz aller Probleme Ihren Job mögen. Und ich find es toll, wie Sie es machen!

  2. Janosch Freuding sagt:

    Vielen Dank für Ihren netten Kommentar. Ja, ich bin tatsächlich ein Fan von dem Job und glücklich, dass ich eine solche Arbeit habe (das geht übrigens nicht nur mir so, sondern den meisten meiner Kollegen)!